Déjà-vu

Steuern runter, Freiheit vor: Die FDP flüchtet in Reflexe aus Zeiten ihres früheren Vorsitzenden Guido Westerwelle – und schadet sich dabei. Von Tina Hildebrandt und Paul Middelhoff

Ein warmer Sommertag vor gut zwei Wochen, Olaf Scholz ist zum »Kanzlergespräch« erschienen, um sich in der Festung Mark in Magdeburg den Fragen von Bürgerinnen und Bürgern zu stellen. Tobias aus Burg meldet sich: »Planen Sie den Einsatz von Brechmittelfolter auch bundesweit, wie damals in Hamburg, und wenn ja: Könnten Sie damit bei Christian Lindner anfangen?« Heiterkeit im Publikum, Applaus.

Scholz setzt zu einer Erklärung an: Zu seinen Zeiten als Erster Bürgermeister in Hamburg hätten viele Dealer die Drogen einfach runtergeschluckt, wenn die Polizei kam, das habe er verhindern wollen. Europäische Gerichte hätten das nicht für ein geeignetes Mittel gehalten. »Im Übrigen«, fügt der Kanzler spöttisch grienend hinzu, »finde ich, dass Sie Herrn Lindner völlig unrecht tun.« Applaus, Lachen, Pointe gelungen. Der Kanzler verteidigt den Finanzminister, aber sein Grinsen zeigt etwas anderes.

Knapp ein halbes Jahr nach Beginn der Ampelkoalition scheint die FDP da angekommen zu sein, wo sie vor vielen Jahren schon einmal war – und nie wieder hinwollte: im öffentlichen Generalverschiss. Die Zeiten mögen polarisieren, die Meinungen zu Waffenlieferungen, Entlastungen oder der Anzahl der biologischen Geschlechter konträr sein, aber eins funktioniert immer und überall: ein Gag auf Kosten der FDP. Die Gaspreisumlage schien vielen Nutzern sozialer Medien, die im Netz die Politik simultan kommentieren, so dämlich, dass klar sein musste: Das können sich nur die Liberalen ausgedacht haben. Dabei war es eine Idee von Robert Habeck.

Als Christian Lindner kürzlich im Zusammenhang mit der Debatte um das 9-Euro-Ticket eine »Gratis-Mentalität« beklagte, schien es, als tue sich ein Loch im Zeit-Raum-Kontinuum auf: Wer den früheren Parteivorsitzenden Guido Westerwelle erlebt hat, fühlte sich an dessen »spätrömische Dekadenz« erinnert, zu der angeblich einlud, wer den Sozialstaat ausbauen und die Regelsätze für Hartz IV erhöhen wollte. Das Déjà-vu stellte sich aber nicht nur wegen zweier zufälliger Sätze ein. Ein Dreivierteljahr nach dem Start der Ampel wirkt die FDP wieder wie eine Partei, die nicht recht weiß, ob sie regieren oder opponieren soll. Ihre Rhetorik orientiert sie an Positionen, die nicht mehr zur Lage passen – und gräbt sich damit immer tiefer in den Tunnel. Zum Westerwelle-Moment gehört auch das Schwanken zwischen Höhenflug und Ahnung des eigenen Absturzes. Nun ist Lindner nicht Westerwelle, die Ampel ist nicht schwarz-gelb, und die Zeiten sind ohnehin ganz, ganz andere. Umso mehr stellt sich die Frage, warum die FDP und ihr Vorsitzender immer wieder in dieselbe Rille geraten.

Um das zu verstehen und weil die Hoch-Zeiten von Guido Westerwelle wirklich lange her sind, lohnt sich ein genauer Blick zurück und dann wieder nach vorn, in die Gegenwart.

Januar 2022, drei Monate nach der Bundestagswahl. In der französischen Friedrichstadtkirche in Berlin-Mitte betritt Christian Lindner die Bühne. Über ihm hängt ein Plakat der Westerwelle Foundation, an den Tischen am Eingang liegen Info-Broschüren aus, die Westerwelles Leben nacherzählen. Der weltläufige Performer steht darauf, die kurzen Kapitel im Inneren heißen »Wie ein Phoenix« und »Der Absturz der FDP«. Fotos zeigen Westerwelle, Anfang zwanzig, mit breitem Grinsen als Vorsitzender der Jungen Liberalen und, dreißig Jahre später, beim Shakehands als Außenminister mit Barack Obama. Lindner sagt Sätze wie: »Guido Westerwelle war ein unbedingter Vertreter des Leistungsprinzips, aber nicht des kalten Leistungsprinzips« und: »Das Beste, was Freie Demokraten tun können, um sein Andenken zu ehren, ist es, in seinem Geiste Politik in Deutschland zu gestalten.« Es ist eine seltsam unpersönliche Rede. Sie wirkt wie ein Versuch, Westerwelle zu umarmen und sich gleichzeitig zu distanzieren, nach der Devise: Es ist nie zu spät für eine glückliche Vergangenheit.

Christian Lindner verbindet mit Guido Westerwelle die Herkunft aus Nordrhein-Westfalen, die Erfahrung, immer der Jüngste gewesen zu sein, und die Rolle als Hoffnungsträger einer Partei, die stets zwischen Triumphalismus und Niederlage schwankt, zwischen Sehnsucht nach der großen Freiheit und dem Versacken in der eigenen Piefigkeit. Der frühere nordrheinwestfälische Fraktionschef Jürgen Möllemann soll Lindner den Spitznamen »Bambi« verpasst haben. An Möllemann können sich heute noch weniger Menschen erinnern als an Westerwelle, doch im kollektiven Gedächtnis der FDP spielt er unverändert eine wichtige Rolle. Im Begriff der »bürgerlichen Protestpartei« verband sich Westerwelles Traum, die FDP von sechs auf 18 Prozent zu hieven, mit rechtspopulistisch-antisemitischen Anleihen Möllemanns zu einem Kurs, der gerade bei bürgerlichen Wählern den Eindruck fataler Unseriosität hinterließ. Auch deshalb sorgt es für solchen Argwohn, wenn sich in Thüringen Thomas Kemmerich von der FDP mithilfe der AfD zum Ministerpräsidenten wählen lassen will, auch deshalb steht die FDP bis heute unter verschärfter Beobachtung, wenn es wie in den Jahren ab 2015 um Zuwanderung oder andere Themen geht, für die besonders der rechte Rand der Republik entflammbar ist. Lindner galt mal als Ziehsohn von Möllemann, mal von Westerwelle. Von beiden hat er gelernt. Wie man es macht und wie man es nicht macht. Wohl auch deshalb wollte Lindner einen ganz anderen Weg gehen.

Warum aber wirkt er immer wieder ähnlich provozierend wie damals Westerwelle? Warum flüchtet die Partei wieder in Vorahnung kommender Wahlniederlagen in die Wagenburg? Mit der Begeisterung, mit der sich jetzt viele in der FDP auf die Atomkraft schmeißen, bestätigen sie einen Verdacht, den Christian Lindner auf der Bundesebene stets zu zerstreuen versucht: dass es sich bei solchen Themen, wie auch in der Debatte um Steuersenkungen oder Haushaltsdisziplin um eine Art bürgerliche Identitätspolitik handelt. Vielleicht liegt ein Teil der Antwort in der merkwürdigen Angewohnheit, dass ausgerechnet die Partei, die sich für die individualistischste aller politischen Formationen hält, ihr inneres Maß notorisch an einen Vorsitzenden delegiert, von dem sie dann kaum noch zu unterscheiden ist. Könnte es also sein, dass die selbst ernannte Partei der Leistung in Wirklichkeit selbst ein bisschen träge ist, dass Fremd- und Selbstbild auseinanderklaffen?

Im Wiederaufstieg der FDP steckte zunächst eine absichtsvolle Entfremdung von dem Mann, der die Partei ein Jahrzehnt lang geprägt hatte, der sie groß und dann ganz klein gemacht hatte: Westerwelle. In den Schattenjahren, Lindners politischer Autobiografie über die Zeit der außerparlamentarischen Opposition, beschreibt er das: »Mir schwebte ein Update der klassischen FDP vor, die früher das Spektrum von Otto Graf Lambsdorff über Hans-Dietrich Genscher bis hin zu Gerhart Baum abgedeckt hatte.« Die neuen Glaubenssätze, die in den Jahren in der politischen Wüste entstanden, wirken wie eine Antwort auf das Scheitern Westerwelles: Die Liberalen wollten nicht mehr die Partei der sozialen Kälte sein, nicht mehr bloß für Steuersenkungen, sondern für einen progressiven Gesellschaftsentwurf stehen. Niemand sollte mehr über die FDP lachen, Lindner verbannte jeden Klamauk, Freunde des gepflegten Herrenwitzes wie Rainer Brüderle wurden durch eloquenten Nachwuchs wie Johannes Vogel, Konstantin Kuhle oder Marco Buschmann ersetzt.

Lindners Programm- und Personal-Update der Schattenjahre machte den Wiedereinzug der FDP in den Bundestag 2017 möglich. Dass in der Zeit medial wenig über die FDP berichtet wurde, schadete ihr nicht, im Gegenteil. Kaum fällt der öffentliche Blick wieder stärker auf die FDP, schrumpft sie in den Umfragen. Die Partei scheint daraus gelernt zu haben: Zu viel Medienkontakt schadet der Gesundheit. Die Grünen-Spitze hält es umgekehrt und profitiert. Gerecht ist das nicht immer. Bei Lindner hat sich ein gequälter Zug eingeschlichen, wenn er über linkes Framing im Zusammenhang mit dem Begriff »Dienstwagen-Privileg« klagt oder darüber, dass es »wirklich größere Probleme« gebe als das Tempolimit.

Anderer Vorsitzender, andere Zeiten – doch das Grundmuster ist ähnlich: 2009 war die FDP als Anwältin von Privatisierung und Deregulierung in die Regierung gekommen, dann kam die Finanzkrise. Und die FDP hatte Schwierigkeiten zu erklären, warum das Verhältnis von Haftung und Risiko, von Ursache und Wirkung umso weniger gilt, je größer ein Unternehmen ist. Ihr Versprechen, die Steuern zu senken, musste sie kassieren. Am Ende blieb die sogenannte Mövenpicksteuer, eine Entlastung für Hoteliers, als Beleg für unheilbaren Klientelismus an der FDP hängen, obwohl das ein Projekt der CSU war – die Gasumlage lässt grüßen. Mit der immer spürbareren Klimakrise, der noch nicht ausgestandenen Pandemie, dem Krieg in der Ukraine kommt für die FDP eine neue Herausforderung hinzu: Nicht nur die politischen Gegner oder der mediale Zeitgeist entwickeln Tendenzen ins Kommunitaristische, sondern die Probleme selbst. Kein Problem kann mehr durch individuelles Verhalten gelöst werden, gleichzeitig kann ihnen der Einzelne aber immer weniger entkommen. Doch aus Lindners Wortkreation der grünen »Freiheitsenergien« folgte zunächst wenig. Wenn der FDP-Vorsitzende jetzt eine Aussetzung der Schuldenbremse ins Gespräch bringt, hat das womöglich nicht nur mit Haushaltsnöten zu tun, sondern mit der Einsicht, dass man mit zu viel Standhaftigkeit auch den Verdacht nähren kann, nicht die pragmatischste, sondern die unbeweglichste der Ampelparteien zu sein.

Denn Lindners neuer Kurs hatte der FDP eine Verjüngungskur beschert, von der die Volksparteien träumen. Es kamen erst Hunderte und später Tausende vor allem junger Männer zur Partei, alt genug, um zu wählen. Jung genug, um sich an die peinlichen »Schattenjahre« nicht mehr zu erinnern, die FDP profitierte von ihrer ganz eigenen Gnade der späten Geburt. Für die Neuliberalen steht die FDP für die Neugier auf Krypto-Währungen und digitale Wertanlagen in Form von NFTs genauso wie für das Versprechen auf die Aktienrente und die Legalisierung von Cannabis. Knapp sechzig Prozent der Mitglieder von heute sind nach 2013 zur Partei gekommen. Die FDP, die im November 2021 in die Ampelregierung eintrat, wirkte wie eine kernsanierte Truppe.

Heute, gut ein halbes Jahr später, schwebt der drohende Liebesentzug der Öffentlichkeit wieder wie eine Wolke über der Partei, mag sich die Koalition anlässlich des Sparpakets noch so sehr ihrer großen Wertschätzung versichern. Spätestens mit der Vorstellung des Stresstests zur Atomenergie scheint neues Konfliktpotenzial auf. Wie zwischen CDU und CSU wirken die Liberalen auch in der Ampel schmerzhaft eingeklemmt, wieder sinkt die FDP in den Umfragen der Fünf-Prozent-Hürde entgegen.

Und wieder reagiert sie darauf, indem sie sich in alte Reflexe flüchtet. Seit Wochen klingen die Liberalen nicht mehr wie die optimistische, progressive Kraft, die sie sich während der Schattenjahre zu sein geschworen hatten. Stattdessen bemüht sich Christian Lindner bei jedem Entlastungspaket darum, dass nicht nur Geringverdiener, sondern die »hart arbeitende Mitte« bedacht wird, dass auch solchen Familien das Energiegeld ausgezahlt wird, für die 300 Euro Mehrkosten im Monat keinen neuen Kredit bedeuten. In der Krise scheint das Programm der FDP auf die altbekannten Kernanliegen zusammenzuschnurren: keine Steuererhöhungen, sondern -entlastungen, keine Umverteilung, stattdessen »mehr Überstunden« und »Wachstumsimpulse«, wie Lindner sie im Juli von Arbeitnehmern forderte. Die Reform des Bildungssystems, die Digitalisierung der Verwaltung dagegen, Themen, mit denen die FDP sich von ihrem Image als Klientelpartei lösen wollte, spielen bloß noch eine Nebenrolle. Im Gegenteil: Unter dem Eindruck des eigenen Wirkungsverlusts in der Koalition spricht selbst mancher Liberaler über alles, was sich nicht in Einkommenstabellen und Haushaltsentwürfen darstellen lässt, bloß als »Lifestyle«-Liberalismus, mag sich Justizminister Buschmann noch so abrackern, den liberalen Bürgerrechtsgeist wiederzubeleben.

Helm auf« – so habe Lindner seine Vorstandskollegen vor einigen Wochen auf die kommenden Konflikte mit den Koalitionspartnern von SPD und Grünen eingeschworen. Man ist dagegen und stolz drauf, nicht zur Herde zu gehören. Was Westerwelle die »Apo-Opas« des linksliberalen Milieus waren, ist Lindner die immer häufiger zu hörende Abgrenzung als Freiheitspartei gegenüber zwei linken Regierungspartnern. Doch zugleich wirkt die Freiheit, die die FDP meint, gegen die »Sucht nach immer mehr Verschuldung«, in Zeiten drohender Rezession für viele mehr wie eine Drohung als wie ein Versprechen.

Mit dem Eintritt in die Koalition im vergangenen Herbst ist die Phase der liberalen Exploration offensichtlich beendet. Der russische Angriff auf die Ukraine hat der westlichen Welt einen Epochenumbruch aufgezwungen – aber die FDP klammert sich eisern am Koalitionsvertrag vom 8. Dezember fest. Das ist verständlich, schließlich hatten die Liberalen sich in den Verhandlungen in vielen Punkten durchgesetzt, in den ersten Wochen der Koalition war der Vertrag mit Grünen und SPD immer wieder die »gelben Seiten« genannt worden. Doch der Krieg hat die Grundlage der Einigung hinweggefegt, und so wirkt ausgerechnet die Partei, die sich für die unideologischste hält, wie diejenige, die sich am wenigsten vom alten Denken lösen kann.

Die Umfragewerte sinken, die Partei schaut ängstlich nach Niedersachsen, wo in einem Monat gewählt wird, doch Christian Lindner bleibt unangefochten. Intern stellt man sich in der FDP auf bescheidene Ergebnisse knapp über der Fünf-Prozent-Hürde in Niedersachsen ein, trotzdem soll es keinen Umbau an der Parteispitze geben. Lindner will den Vorsitz parallel zum Ministeramt unbedingt behalten. Die FDP, so sieht es aus, hat hier aus den Westerwelle-Jahren zwischen 2009 und 2013 gelernt. Wer Zweifel an der Parteiführung öffentlich äußert, stößt eine Abstiegsdynamik an, die sich am Ende nicht wieder einfangen lässt.

Foto: Ulrich Baumgarten/vario images