FRÜHKINDLICHES LERNEN

Nein, nein und noch mal nein!

Der Bund streicht die Förderung für Sprach-Kitas. Dabei gehören sie zu den wenigen erfolgreichen Bildungsprogrammen vor der Schule. Wie kurzsichtig kann Politik sein?  Von Martin Spiewak

Manchmal zeigt sich im Kleinen, wie etwas Großes sehr falsch läuft. Es gibt da ein Programm des Familienministeriums, das Kinder mit Sprachdefiziten besser fördern soll. »Sprach-Kitas« heißt die Initiative. Jede achte Einrichtung in Deutschland profitiert davon, insbesondere solche mit vielen Migrantenkindern. Wissenschaftler haben dem Programm bescheinigt, dass es wirkt (was nicht häufig vorkommt). Deshalb wollten die Parteien der Ampelregierung die Sprach-Kitas auch »weiterentwickeln und verstetigen«. So steht es jedenfalls in ihrem Koalitionsvertrag.

Doch daraus wird nun nichts. Das Bundesfamilienministerium hat den Ländern mitgeteilt, dass der Bund aus dem Erfolgsprogramm aussteigt. Aus »weiterentwickeln« wird damit abwickeln.

Das Aus für die Sprach-Kitas ist nicht nur eine politische Torheit. Es ist ein Symbol dafür, wie es um die frühkindliche Bildung in Deutschland steht: schlecht. Bis heute haben weder Politik noch Öffentlichkeit, ja nicht einmal die Kitas selbst wirklich verstanden, dass die entscheidenden Lernjahre eines Lebens vor der Einschulung liegen – und die Kita damit der wichtigste Bildungsort ist, um für mehr Chancengerechtigkeit zu sorgen.

Das wurde schon während der Corona-Zeit deutlich. Als die Kitas schließen mussten, bedauerte man republikweit die Eltern, die neben der Arbeit nun auch noch ihren Nachwuchs betreuen mussten. Dass die Kinder in der kitafreien Zeit etwas versäumten – nämlich Bildung –, schien wenige zu beunruhigen.

Auch jetzt überschreitet die Kritik am Stopp des Sprach-Kita-Programms nur knapp die öffentliche Wahrnehmungsschwelle. Wissenschaftlerinnen und Kita-Träger äußerten Bedenken, in den Medien erschienen einige kürzere Berichte. Thema abgehakt. Wie anders die Aufregung, als das Bundeswissenschaftsministerium zur selben Zeit ankündigte, einigen Forschungsprojekten die Anschlussfinanzierung zu kürzen: Die Gelehrtenrepublik empörte sich, die Bundesministerin musste sich in der Tagesschau verteidigen. Dabei beträgt der Einsparbetrag in der Forschung nur einen Bruchteil dessen, was den Kitas genommen wird.

»Aber es geht ja nur um Kindergärten«, mögen viele denken. Es ist zwar Konsens, dass jedes Kind die deutsche Sprache beherrschen soll, bevor es eingeschult wird. Doch lernen das die Kleinen nicht am besten beim Spielen und Toben? Was heißt hier schon Sprachbildung? Die Kita ist doch keine Schule! Und schließlich, könnte man denken, sind ja die Länder für die Kitas zuständig. Könnten die das Sprachprogramm nicht einfach fortsetzen?

Nein, nein und noch mal nein!

Erstens verstehen viele Jungen und Mädchen selbst nach drei Jahren in der Kita nicht ausreichend Deutsch. Zweitens haben die Kitas sehr wohl auch einen Bildungsauftrag: Sie bereiten die Kinder auf die Schule vor. Und drittens werden ziemlich sicher nicht alle Bundesländer das erfolgreiche Programm fortsetzen, wenn sich der Bund daraus zurückzieht.

Damit legt das Ende der Sprach-Kitas alle Untugenden der deutschen Bildungspolitik offen: das Fehlen eines langen Atems, das Zuständigkeits-Wirrwarr und die Unfähigkeit, wissenschaftliche Erkenntnisse auch umzusetzen.

Denn ein Befund gilt mittlerweile als sicher: Schon wenige Monate nach der Geburt zeigen sich bei Kindern Unterschiede in dem, was sie können – und zwar abhängig von der sozialen Herkunft. Im Alter von drei Jahren verstehen Jungen und Mädchen aus privilegierten Verhältnissen doppelt so viele Wörter wie ihre Alterskameraden aus ärmeren Familien. Wie weit die Kompetenzen dann in der Grundschule auseinandergehen, hat kürzlich der IQB-Bildungstrend belegt: Danach erreichen Einwandererkinder in der vierten Klasse im Lesen im Schnitt 100 Leistungspunkte weniger als Schüler ohne Migrationshintergrund – eine Kluft, die späterer Unterricht kaum ausgleichen kann. »Dort, wo die Ungleichheit beginnt, fehlt uns die systematische Förderung«, sagt Yvonne Anders, Professorin für Frühkindliche Bildung an der Universität Bamberg.

Es sah schon einmal besser aus, zwanzig Jahre ist es jetzt her. Da definierten die Kultusminister nach dem Pisa-Schock sieben Felder, auf denen sie aktiv werden wollten. An erster Stelle: die Verbesserung der »Sprachkompetenz im vorschulischen Bereich«. In Bildungsplänen legten die Länder fest, was die Kinder bis zur Einschulung können sollen. In sogenannten Sprachstandserhebungen testen die Länder mittlerweile, wie es um die Deutschkenntnisse der Kleinen steht. Kinder mit Sprachdefiziten können diese in speziellen Programmen ausgleichen.

Analysiert man jedoch die Wirkungen dieser Reformen, ist die Bilanz ernüchternd. Die meisten Sprachstandserhebungen haben sich als unpräzise und wenig brauchbar für die individuelle Förderung entpuppt. Auch die meisten Deutschprogramme fielen im Praxistest durch: Kinder mit Training waren nicht besser als solche ohne. Und was die Bildungspläne der Bundesländer bringen, weiß bis heute niemand. Zwar sind Kitas gehalten, die pädagogischen Wunschkataloge zu beachten. Ob sie dies im Alltag jedoch tun, wird kaum kontrolliert. Im Gegensatz zur Schule kennt die Kita weder Kompetenztests oder Inspektionen noch flächendeckende Evaluationen.

Ausgerechnet bei den Sprach-Kitas war das anders. Sie wurden von Beginn an wissenschaftlich begleitet. Über 90 Prozent der am Programm beteiligten Kita-Leitungen geben an, dass sich die Sprachförderung in ihrer Einrichtung verbessert habe. In der Regel teilen sich in dem Programm zwei Kitas eine zusätzliche Erzieherin. Im Gegensatz zu früheren Ansätzen organisiert die Fachkraft keine Deutschkurse für die Kinder, sondern unterstützt ihre Kolleginnen bei dem, was Pädagogen »alltagsintegrierte Sprachförderung« nennen. Denn Sprache lernt man gerade im Kita-Alter am besten durch Zuhören und Sprechen: auf dem Wickeltisch oder im Morgenkreis, beim Vorlesen oder Experimentieren. Und zwar bereits in der Krippe und nicht nur wenige Monate vor der Einschulung.

Theoretisch wissen das Erzieherinnen und Erzieher. Es entspricht nämlich ziemlich genau der deutschen Kita-Pädagogik. Die folgt dem sogenannten »Situationsansatz«. Im Vordergrund stehen das freie, selbstbestimmte Spielen und das soziale Lernen. Die Erzieherinnen beaufsichtigen dabei das Geschehen und bieten – je nach Situation und Bedarf – dem Kind Hilfe und Anregung an. Alles, was sich dagegen nach Didaktik oder gezieltem Lernen anhört, trifft in der Kita-Szene – in der Ausbildung, bei vielen Trägern, in den Einrichtungen – auf große Skepsis. In den USA oder in Frankreich ist »Schulreife« ein anerkanntes Ziel der Vorschulbildung. Deutsche Erzieherinnen begreifen die Kita – nach dem Motto »Der Ernst des Lebens beginnt doch früh genug« – dagegen eher als Schonraum und Gegenwelt zur Schule.

Selbst wenn sich Lerngelegenheiten eröffnen, werden diese vielerorts zu selten genutzt. Claudia Mähler von der Universität Hildesheim hat in einem Forschungsprojekt zur Sprachförderung Alltagsszenen in Kitas per Video aufgezeichnet. »Wir waren überrascht, wie wenig manchmal gesprochen wird. Gerade bei Tisch etwa war es oft ziemlich ruhig«, sagt Mähler. Hinzu kommt fehlendes Sprachbewusstsein. Statt anspruchsvolle Sätze zu formulieren, gebrauchen viele Erzieherinnen einfache Wendungen (»Hol deine Schuhe«), und statt die Kinder mit offenen Fragen zum Sprechen zu animieren, stellen sie zu häufig solche, die man mit Ja oder Nein beantworten kann.

Die bislang einzige nationale Untersuchung zur Kita-Qualität (Nubbek-Studie) bescheinigte den deutschen Einrichtungen zwar viele Stärken: Erzieherinnen und Erzieher begegnen den Kindern mit viel Empathie und fördern ihre emotionale Entwicklung. Bei der Bildung hingegen erreichten gerade einmal 2,6 Prozent der untersuchten Einrichtungen eine »gute Qualität«; 63 Prozent erhielten die Note »unzureichend«.

Die Studie ist zehn Jahre alt, eine neuere nationale Untersuchung fehlt – auch das sagt etwas darüber aus, wie wichtig Deutschland die Qualität der frühen Bildung nimmt. Und es existieren keine Hinweise, dass sich an den damaligen Befunden zur Anregungsarmut etwas Entscheidendes geändert hätte.

Wie denn auch?, fragen da viele Erzieherinnen und Erzieher. Unsere Arbeitsbedingungen werden doch immer schlechter! Ausgebildetes Fachpersonal ist rar, viele Kitas arbeiten mit Hilfskräften, um wenigstens den Betrieb aufrechtzuerhalten. Bei realen Gruppengrößen von über zehn Kindern ist an individuelle Förderung kaum zu denken. Gleichzeitig bürden neue Themen – Inklusion, Flüchtlingskrise, Corona – den Kitas zusätzliche Herausforderungen auf. »Viele Erzieherinnen haben das Gefühl, an ihrer Belastungsgrenze zu arbeiten«, sagt die Bildungsforscherin Yvonne Anders.

Damit die Kita zum Bildungsort wird, braucht es also zwei Dinge: einen Wandel in der Pädagogik sowie mehr Personal. Im Bundesfamilienministerium hat man genau das erkannt – 2016, als man das Sprach-Kita-Programm initiierte. Jetzt wird es vom selben Ministerium stillgelegt. Wie kurzsichtig kann Politik sein?

Konfrontiert man das Ministerium in Berlin mit dieser Frage, liefert es zur Antwort viele schwache Argumente, aber ein starkes: Die Länder könnten das Programm ja fortführen, schließlich erhalten sie vom Bund in den nächsten Jahren im Rahmen des Gute-Kita-Gesetzes II zwei Milliarden Euro. Mit diesem Geld könnten die Länder gleich mehrere Sprach-Kita-Programme auflegen – theoretisch.

Praktisch mag daran niemand glauben. Denn diese Chance hatten die Länder auch im Gute-Kita-Gesetz I. Und was passierte mit dem Geld? Nicht einmal 3 Prozent der Fördergelder flossen in die Sprachbildung – während die Länder mit 30 Prozent die Eltern bei den Kita-Gebühren entlasteten. Ein Wahlkampfgeschenk für die Ober- und Mittelklasse, denn bedürftige Familien zahlen kaum Gebühren.

Oft wird beklagt, die frühen Jahre seien der Politik nichts wert, hier werde nur gespart. Das ist falsch. Keine andere Bildungsinstitution hat in den vergangenen fünfzehn Jahren anteilig so viel zusätzliches Geld bekommen wie Kitas und Krippen. Nur flossen die Mittel überwiegend in die Quantität und selten in die Qualität. Deshalb ist es heute in Deutschland so einfach wie nie zuvor, einen Kita-Platz zu bekommen (auch wenn das kaum jemand glauben mag). Doch der beeindruckende Ausbau der Kita-Kapazitäten hilft in erster Linie den Müttern, die arbeiten wollen, und der Wirtschaft, die Arbeitskräfte sucht – nicht aber den Kindern. Bisher geht es um Betreuung, nicht um Bildung, es geht um Geschlechter- und nicht um Bildungsgerechtigkeit. Es wird Zeit, die Schwerpunkte zu verlagern. Das Ende der Sprach-Kitas sendet das absolut falsche Signal.

www.zeit.de/vorgelesen Foto: Ilona Wellmann/Millennium Images (Symbolbild)

500.000Kinder bundesweit besuchen eine Sprach-Kita – noch

Mehr Wissen

Kita-Fachkräfte kämpfen für den Erhalt der Sprach-Kitas. Die Kampagne www.sprachkitas-retten.de wird von vielen Organisationen und Verbänden unterstützt. Wenn 50.000 Unterschriften für eine Petition zusammenkommen, wird es im Bundestag eine verpflichtende Anhörung geben.

Links zu den Quellen der Themen dieser WISSEN-Ausgabe finden Sie unter www.zeit.de/wq/2022-35