Wer macht’s?
Manchmal kann der sagenumwobene Kyffhäuser auch eine schnöde Anwaltskanzlei sein. Und in der wartet nun seit sage und schreibe vierzehn Jahren Friedrich Merz darauf, die CDU zu retten, ihr eine neue Schneidigkeit zu schenken, eine alte Brillanz zu verleihen und einen unschuldigen Konservatismus zurückzugeben, wie sie ihn lange nicht hatte. Oder vielleicht nie.
Aber womöglich ist es gar nicht Friedrich Merz, der auf seine Rückkehr in die CDU wartet, sondern umgekehrt; womöglich wartet die CDU auf ihn oder warten ziemlich große Teile der Partei. Als die Parteioberen am Montag ihre erste Verblüffung und Erschütterung nach Merkels historischer Ankündigung, den Parteivorsitz niederzulegen, überwunden hatten und zwei von ihnen ihre eigene Kandidatur verkündeten, da schwebte laut Augenzeugen bereits das Gespenst des Friedrich Merz über den Tischen. Ob Merz sich ernsthaft um den CDU-Vorsitz bewirbt, war am Montagabend, bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe, noch offen.
Nur, wie kann das überhaupt sein, dass sich relevante Gruppen in der Union nach einem Mann sehnen, der zuletzt politisch ernsthaft aktiv war, als die Entwürfe für Parteiprogramme noch gefaxt wurden, als Hirtenworte noch geholfen haben und der Westen dastand wie der finale Traum der Weltgeschichte? Warum verlangt es die Union nach einem Ex-Politiker, der nie mehr war als ein Fraktionsvorsitzender und auch das nur zwei Jahre lang, bis Angela Merkel ihm den Posten im Handstreich entriss?
Das war zu Beginn des Jahrhunderts, im Jahr 2002, da hatte Edmund Stoiber als Kanzlerkandidat soeben die Bundestagswahl verloren, Merkel war eine noch junge Parteichefin und Merz eben Fraktionschef. Der wähnte sich im Besitz einer Zusicherung, auf diesem Posten auch nach der Wahl zu bleiben – doch hatte Merkel schon lange vor der Wahl eine Absprache mit Stoiber getroffen, dass sie selbst es würde. Helmut Kohl soll einmal über seinen eher intellektuell veranlagten Parteifreund Kurt Biedenkopf gesagt haben: »Bevor der ›Wurst‹ gesagt hat, hab ich sie schon gegessen.« Solcherlei würde Merkel niemals über Friedrich Merz und sich selbst sagen. Gewundert hat sie sich seinerzeit aber schon über die Naivität des Kontrahenten: Wie konnte er ernstlich glauben, dass die Vorsitzende einer Oppositionspartei auf den Fraktionsvorsitz verzichten würde? Da hätte sie auch gleich ganz zurücktreten können. Ist sie nicht, sondern hat rechtzeitig und sehr eindringlich mit Edmund Stoiber geredet.
Das Bedürfnis der CDU nach einem wie Friedrich Merz speist sich also eher nicht aus der Erwartung, dass er machtpolitisch besonders abgefeimt sein könnte, realpolitisch gewieft wie Bismarck, Kohl oder halt Angela Merkel. Es ist das Wort, wonach es die Partei dürstet, es sind die Reden, die Sinn und Stärke vermitteln und ein Gefühl von geradlinigem, stolzem Konservatismus.
Und reden kann er nun wirklich, der Merz.
Man kann sich das diesbezügliche Leiden der CDU gar nicht schmerzhaft genug vorstellen. Die Ära Merkel war eine Zeit der Wortkargheit und des Sinnverlusts. Und wer hier einwendet, dass doch auch Helmut Kohl kein großer Redner, sondern eher ein großer Nuschler war, der verkennt, welche Revolution die CDU in den vergangenen zwanzig Jahren durchlebt und durchlitten hat, für die sie ein paar gute Worte zum seelischen und geistigen Überleben dringend gebraucht hätte.
Natürlich, die Union gilt gemeinhin nicht als Programmpartei: Ihre Essenz, heißt es, sei die Macht, nicht die Ideologie. Doch hat diese Regel in der Ära Merkel Zug um Zug an Geltung verloren. Jahrzehntelang brauchte die CDU nur wenig eigene Programmatik, weil die Programmatik der Republik in sie eingeschrieben war, oder umgekehrt: weil sie in der langen Ära Adenauer die Programmatik der Republik mit entworfen hatte. Westbindung, Verankerung im transatlantischen Bündnis; Festhalten am Ziel der deutschen Einheit; die soziale Marktwirtschaft; und nicht zuletzt Europa als Fluchtpunkt.
Mittlerweile jedoch sind alle diese Orientierungen brüchig geworden, wenn nicht gar obsolet: Das atlantische Bündnis wurde von den Amerikanern zunächst missbraucht (unter George W. Bush), dann gelockert (unter Barack Obama) und schließlich torpediert (unter Donald Trump); die deutsche Einheit hat sich erfüllt, zumindest staatlich, und dadurch politisch erledigt; die soziale Marktwirtschaft steht durch Digitalisierung und Globalisierung mehr unter Druck als jemals zuvor; und aus dem transnationalen Projekt der Europäischen Union schallt es immer lauter nationalistisch zurück.
Wegen alldem ist die CDU zutiefst verunsichert, und Angela Merkel hat ihr keine Worte gegeben, um damit fertigzuwerden, mehr noch: Unter ihrer Ägide haben sich die Denkräume, in denen eine Welt im Umbruch verarbeitet werden könnte, weitgehend geleert. Am Ende der langen Regentschaft des Helmut Kohl traten die Vordenker aus der Kulisse, Wolfgang Schäuble natürlich, Norbert Röttgen, Peter Altmaier und, ja: auch Friedrich Merz. Die Umrisse einer anderen, einer neu denkenden CDU wurden erkennbar. Heute, im Abendrot von Merkels Kanzlerschaft, tritt niemand hervor, um zu zeigen, was moderner Konservatismus sein könnte. Oder besser trat – denn nun ist er ja wieder da: Friedrich Merz.
Aber vielleicht bedarf der Konservatismus ohnehin keiner Ideologie, nicht mal einer Programmatik, zumindest kann er sehr ausdauernd ohne beides leben. Das hat schließlich sogar unter Merkel sehr lange funktioniert. Der CDU-Konservatismus lebte dann einfach von der Schwere der Macht und der Gravitation der Masse. Regieren und die größte unter den Parteien sein, das kann einem Konservativen für eine Weile schon auch das Hemd stärken. Insofern ist der Zeitpunkt von Angela Merkels Rückzug alles andere als zufällig, denn bereits seit Längerem wurde in den Umfragen – spätestens jedoch mit der Wahl in Hessen – offensichtlich, dass der CDU auch dieser gewissermaßen sekundäre Konservatismus abhandenkommt. Unter 25 Prozent ruht er nicht mehr in sich, von da an braucht er Zuspruch.
Auch dies schürt das Verlangen nach einem Friedrich Merz, der aus einer Zeit kommt, als die CDU noch in Ordnung war, als sie gewissermaßen direkt aus dem Boden wuchs und obendrein sonntags vom Himmel regnete. Da, wo er hintritt, da ist konservativ, da ist Sauerland, da ist Union, da sind vierzig Prozent. Plus X.
Zum sekundären Konservatismus gehört im Übrigen – man mag das in der Union nicht offen aussprechen, aber es stimmt – auch eine gewisse Männlichkeit. Nach der verzehrt sich ein Teil der Partei voll Glut. Achtzehn Jahre Angela Merkel und Beate Baumann, ihre Büroleiterin, plus Eva Christiansen, die Kommunikatorin, Ursula von der Leyen, die Vertraute, sowie: eine unübersehbare Schar »minimalinvasiver Männer« (so hat Peter Altmaier sie genannt). Minimalinvasiv – dieses Adjektiv würde einem bei Friedrich Merz nicht einfallen, ihn hat man in Erinnerung als eine Mischung aus Peer Steinbrück und Christian Lindner. Maximalinvasiv.
Nun könnte man argumentieren, dass kein Mensch mehr die herkömmliche Art von Männlichkeit braucht. Man darf auch fragen, ob die Erinnerung mit Blick auf Friedrich Merz, als einen Mann mit recht dünnem Nervenkostüm, nicht etwa trügt oder ob vielleicht auch Merz als Mann mit der Zeit gegangen ist. Das jedoch spielt erst einmal gar keine Rolle für seine Chancen als Kandidat und Traumfigur der CDU. Schließlich kennt der Konservatismus nach Programmatik, Macht und Männlichkeit noch einen vierten Aggregatzustand, in den er sich in Krisen zurückziehen kann. Und das ist die Sehnsucht.
Diese Sehnsucht entfaltet eine ungeheure Einbildungskraft, sie kann sich ein Gestern herbeiimaginieren, das es so nie gab, und einen Retter suchen, der vermutlich ziemlich anders war, als man ihn in Erinnerung hat. Oder der zumindest heute ganz anders ist, als er nie war.
Friedrich Merz ist Vorsitzender der Atlantik-Brücke, das ist ein Lobby-Verein, der sich dem transatlantischen Bündnis unter der ewigen Führerschaft der USA verschrieben hat. Dort wird angesichts der völlig veränderten strategischen Rahmenbedingungen ein Gestern intellektuell und emotional weiterverwaltet, das die Kraft zu einem Morgen wahrscheinlich nie wieder aufbringen wird.
Merz gilt außerdem als ausgewiesener Neoliberaler, zumindest war er das, als dieser Begriff noch nicht völlig kontaminiert war. Worin hier nun gerade die Pointe liegt, schließlich hat sich der Neoliberalismus der Nullerjahre dermaßen durchgesetzt – mitsamt seinen zahllosen Nachteilen und Verheerungen –, dass ihn heute kaum noch jemand im Munde führen mag.
Neoliberal und USA-Freund, aber eben nicht in der Trump-Variante – kann so jemand wirklich Stimmen von der AfD zurückholen, zumal im Osten der Republik, wie es jetzt viele in der Union schon glauben wollen?
Schwierig, schwierig.
Ohnehin steht in Sachen Merz und CDU ein schwerer Zusammenstoß unmittelbar bevor: zwischen dem erinnerten und dem wirklichen Mann, zwischen dem Gestern und dem Heute – und, auch das noch, zwischen Friedrich Merz und Jens Spahn.
Letzteres gehört nun wirklich zum Absurdesten in ohnehin absurden Zeiten: dass der Wiedergänger von Friedrich Merz nun möglicherweise in Konkurrenz tritt zu seinem unausgesprochenen Rollenmodell. Jens Spahn ist, unterstützt von Wolfgang Schäuble, sehr rasch und für CDU-Verhältnisse auch sehr jung zum Hoffnungsträger der Konservativen geworden, ein Vakuum hat ihn offenbar angezogen, das noch weit größer war als er selbst. Seit 2015 lebte Spahn vor allem davon, dass er der Einzige war, auf den sich bestimmte Bedürfnisse oder Strategien projizieren ließen. Das galt bis Montagvormittag. Nun also der Ähnlichkeitswettbewerb um die Frage, wer dem erinnerten Merz mehr ähnelt, Merz selbst oder Spahn.
Denn auch Letzterer hat diese besondere Gabe, wo immer er auftritt, so ein original CDU-Gefühl zu erzeugen. Bis er in diesem Jahr das Ministerium für Gesundheit und Pflege übernommen hat, gab er sich zudem einen Hauch neoliberal – er selbst würde sagen: wirtschaftsfreundlich. Außerdem ist Spahn ebenfalls Atlantiker, diesen Punkt treibt er sogar so weit, dass er die Nähe zum neuen, hundertprozentig trumpistischen US-Botschafter Richard Grenell nicht bloß sucht, sondern auch zur Schau stellt. Merz hält den Mann übrigens für einen »Kretin«, immerhin schon mal ein Unterschied.
Aber wo sind die wirklichen Unterschiede?
Besonders gespannt darf man darauf sein, wie die beiden ein Problem lösen, mit dem schon Angela Merkel nicht fertiggeworden ist. Die Antwort einer konservativ gestimmten Partei auf fast alle Probleme dieser Welt lautet: Maß und Mitte. (Weswegen auch die Idee von Alexander Dobrindt, eine konservative Revolution anzuzetteln, so untauglich war für CDU und CSU.) Was aber, wenn die Welt selbst in revolutionärer Verfassung ist, wenn sie einer konservativen Partei beständig Probleme zuwirft, die mit Maß und Mitte nicht zu bewältigen sind?
Was, wenn der Erhalt des Bestehenden immer mehr Veränderung nötig macht? Angela Merkel hatte für diese Schwierigkeit zwei Lösungen, oder besser zwei Provisorien: In ihrer Analyse war sie radikal, in ihrer Alltagspolitik kleinteilig; programmatisch blieb sie maßvoll, nur in ihrer Reaktion auf die allfälligen Krisen war sie mitunter disruptiv. Dieser Methoden-Konservatismus hat sich indes totgelaufen, auch deswegen geht Merkels Ära zu Recht zu Ende. Doch wie das konservative Bedürfnis anders mit den radikalen Anforderungen versöhnt werden könnte, darauf kennt man weder von Spahn noch von Merz bisher auch nur Vorschläge. Aber – bis zum Parteitag ist ja noch Zeit.
Die Rückverwandlung des Konservatismus von Sehnsucht zu Macht zu Programm hat begonnen, und man muss der CDU fast wünschen, dass sie ihr gelingt. Denn wenn der Konservatismus sich zu lange im Stadium der reinen Sehnsucht befindet, dann wird er toxisch, um nicht zu sagen: reaktionär.
Dafür wiederum stehen bislang weder Friedrich Merz noch Jens Spahn.
Angela Merkel hat sich bei ihrem historischen Auftritt am Montag gewünscht, dass der Wettbewerb um ihre Nachfolge ihrer Partei auch Freude macht. In diesem Punkt jedenfalls darf man mit Blick auf die beiden Vertreter des Konservatismus durchaus zuversichtlich sein.