Enttabuisiert den Vergleich!
Was ist Erinnerung, wenn nicht ›provinziell‹?«, fragte Spiegel-Redakteur Tobias Rapp neulich in einem Artikel über Deutschlands Erinnerungskultur: »Sie ist an Orte gebunden, an Familiengeschichten, an Erfahrungen, die weitergegeben werden.« Mit seinem Liebäugeln mit dem Provinziellen steht Rapp nicht allein. Welt-Autor Thomas Schmid kritisierte wenig später eine bestimmte Mentalität in der frühen Bundesrepublik: »Zwar hatten wir eine vage Ahnung davon, dass es andere Welten – Afrika, Amerika, China – gibt. Sie waren für uns von exotischer Faszination. Was genau aber dort geschah, wo Kaffeebohnen, Bananen, Zimt, Safran, Kokos- und Paranüsse wuchsen, davon hatten wir keine Ahnung. Es ging uns nichts an.« Dennoch lehnt auch er eine kosmopolitischere Erinnerungskultur als einen »Kessel Buntes« ab. In der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erklärte Claudius Seidl: Zwar lebten in Deutschland Millionen Menschen, die »keine deutsche Vorgeschichte« haben. Doch auch er gelangt zum gleichen provinziellen Schluss: »Deutsche Verantwortung lässt sich nicht globalisieren.« Woher kommt diese Feier der Provinzialität gerade jetzt? Alle drei Artikel diskutieren in Variationen dieselbe Frage: »War der Holocaust einzigartig, oder steht er in einer Reihe mit den Verbrechen des Kolonialismus?« (Rapp) – und alle antworten: »Der Holocaust war singulär.« Deshalb dürfe die Schoah nicht in einem Atemzug mit Kolonialismus diskutiert oder erinnert werden.
Nun wird jeder verstehen, warum ein Bekenntnis zur Einzigartigkeit des Holocausts hierzulande zentral ist. Aber handelt es sich dabei um ein Entweder-oder? Besteht zwischen Einzigartigkeit und Relationalität ein unüberwindbarer Gegensatz, schließt das Letztere das Erstere grundsätzlich aus? Wird die Erinnerung wirklich in der Familie tradiert? Wurde sie dort nicht vielfach totgeschwiegen und ist deshalb längst eine kollektive Aufgabe geworden? Und versucht irgendeine ernsthafte Stimme, die deutsche Verantwortung zu minimieren, indem man sie globalisiert?
Hier wird ein Strohmann errichtet, um eine Ersatzdebatte zu führen, über deren Folgen, ethische »Kosten« und »Kollateralschäden« nicht gesprochen wird: Das Verbot jedes Vergleichs und In-Beziehung-Setzens führt zu einer Herauslösung der Schoah aus der Geschichte und hat weitreichende Folgen. Erstens blockiert das Pochen auf die Unvergleichbarkeit den Blick auf wichtige Wurzeln der nationalsozialistischen Verbrechen, insbesondere auf den deutschen Vernichtungskrieg »im Osten« zur Gewinnung von kolonialem »Lebensraum«. Zweitens vermindert es die moralische Schlagkraft des »Nie-wieder«, denn singuläre Ereignisse können sich nicht wiederholen. Drittens erlaubt es rechten Regierungen in Europa, die vieltausendfache Komplizenschaft der Vorfahren ihrer Bürger zu vertuschen, womit der notwendige Hinweis auf die deutsche Hauptverantwortung zur Apologie eines neuen Nationalismus missbraucht werden kann. Und viertens verzerrt es die pluralen Dynamiken öffentlicher Erinnerung und vergibt so die Chance, eine inklusivere Erinnerungskultur zu entwickeln, wie sie der immer heterogeneren deutschen Gesellschaft angemessen wäre: Denn wenn die Erinnerung an den Holocaust in Familien tradiert würde, wie könnten die Millionen von Deutschen, deren Familien zur Zeit des »Dritten Reiches« noch nicht hier lebten, eingebunden werden?
Unser beider Forschungen zur Globalgeschichte kollektiver Gewalt und zum Genozid (Zimmerer) sowie zur multidirektionalen Erinnerung (Rothberg) sind ins Visier aller drei Artikel geraten – auf verkürzte und verfälschende Weise. Den Vorwurf, die Einzigartigkeit des Holocausts und damit die deutsche Schuld und Verantwortung infrage zu stellen, weisen wir entschieden zurück. Nichts könnte falscher sein!
Wir verneinen keineswegs die singulären Elemente des Holocausts, allerdings glauben wir nicht, dass sie vergleichende Ansätze zur Geschichte und Erinnerung des Holocausts allgemein verhindern. Im Gegenteil: Vergleichende Perspektiven, die Ähnlichkeiten und Unterschiede herausarbeiten, bieten die besten Voraussetzungen dafür, zu verstehen, was am Holocaust singulär war. Und sie bieten somit die besten Chancen zur Prävention von Genoziden.
Die irreführende Darstellung unserer Ansätze bei Rapp, Schmid und Seidl beruht dabei nicht auf einer absichtslosen Fehlwahrnehmung. Sie fügt sich vielmehr zu einer selektiven Verzerrung. Die provinzielle Pose, unter Ablehnung globaler, vergleichender und multidirektionaler Ansätze, die Erinnerungen an Kampagnen gegen (jüdischen) Kosmopolitismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weckt, führt auch dazu, die deutsche Verflochtenheit mit der Welt und die Heterogenität der Gesellschaft zurückzuweisen.
Diese selbst verordnete Provinzialität offenbart ein Paradox im Zentrum der viel gepriesenen deutschen Erinnerungskultur: die irreführende Annahme, dass zur Übernahme der Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen ein Festhalten an derselben ethnischen Identität, demselben Volksbegriff notwendig ist, die den Verbrechen des Nationalsozialismus zugrunde lagen. Zugleich dient die Ablehnung einer globalen Perspektive der Verweigerung der Übernahme von Verantwortung: Verantwortung für die Verbrechen des Kolonialismus. Ein pauschales Insistieren auf einer abstrakten Einzigartigkeit wird so zum Instrument, deutsche nationale Identität zu »retten«, indem es eine Brandmauer zwischen der »normalen« deutschen Geschichte (einschließlich des Kolonialismus) und den nationalsozialistischen Verbrechen einzieht. Die »Blackbox Auschwitz« löst die strukturelle Verbindung zwischen deutschen Verbrechen und deutscher Geschichte und beschränkt die unheilvollen Kontinuitäten auf den Antisemitismus.
In Wahrheit bieten Antisemitismus, Kolonialrassismus oder Antislawismus eine für Holocaust und Eroberungs- und Vernichtungskrieg notwendige Feindbildkonstruktion, ohne dass inhaltliche Unterschiede verleugnet würden. Die Schoah ist dabei nicht der einzige Anknüpfungspunkt einer postkolonialen Geschichte der Massengewalt. Der deutsche Vernichtungskrieg um Lebensraum spielt eine mindestens ebenso große Rolle. Hier sind koloniale Ähnlichkeiten und Parallelen deutlich zu finden. Die Eroberung von »Lebensraum« und dessen deutsche Besiedelung nach ethnischen Säuberungen stehen hier in einem kolonialen Kontinuum.
Forschungen zur Ingangsetzung der Schoah verweisen darauf, dass auch im Übergang von Ausweisungs- und »Umsiedlungsplänen« zur Entscheidung zum Massenmord situative Kontexte in Verbindung mit dem Vernichtungskrieg eine wichtige Rolle spielten. In dieser kumulativen Radikalisierung tritt die Verbindung zwischen Schoah und Kolonialismus hervor: Wer Zusammenhänge zwischen Krieg und Holocaust nicht bestreiten will, kann auch eine koloniale Dimension der Verbrechen nicht bezweifeln – allerdings als diskursive Kontinuitäten und Funktionsäquivalenzen, nicht als Kausalitäten.
Auf der Basis einer empirisch gesättigten, weltgeschichtlichen Betrachtung lassen sich aber auch die singulären Elemente der Schoah deutlich benennen: der jahrhundertealte Antisemitismus mit seiner spezifischen Prägung durch das Phantasma einer jüdischen Weltverschwörung und die sich daraus ergebende Totalität und Unbedingtheit des Mordens.
Der grassierende intellektuelle Provinzialismus erinnert an das psychoanalytische Konzept des Fetischismus, wie es der Ethnologe Octave Mannoni beschrieb: »Ich weiß sehr wohl, aber dennoch ...« Man erwähnt die Verbrechen des Kolonialismus, und man weiß sehr wohl, dass Deutschland mittlerweile ein Land ist mit Bewohnern, die in unterschiedlichste globale Geschichten eingebunden sind. Dennoch versucht man fetischhaft die Relevanz dieser Fakten für erinnerungskulturelle Prozesse zu leugnen. Es geht um nicht weniger als um die Abwehr einer Debatte über koloniale Verbrechen, und damit verbunden um die unkritische Rettung einer europäischen Moderne, die Sicherung einer weißen hegemonialen Position im Inneren und die dominierende Stellung des »Westens« nach außen.
Deutschlands Erinnerungskultur wird oft als Vorbild angeführt. Allerdings muss man endlich auch deren Grenzen und Leerstellen benennen. Die Bilanz kann nicht in einem gegenseitigen Schulterklopfen innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft bestehen. Denn die große Frage ist ja: Wie kann es sein, dass genau in jener Zeit, in der die Anerkennung der Verantwortung für die Schoah zentral für das deutsche Selbstbild wurde, das Land von rassistischer und antisemitischer Gewalt erschüttert wurde und wird?
Diese Ereignisse werfen verstörende Fragen zur Langlebigkeit von Antisemitismus und Rassismus in Deutschland auf. Vielleicht sind nicht ritualisierte Erinnerung und Beschwörung der pauschalen Unvergleichbarkeit des Holocausts die Lösung, sondern Ideen, die den historischen Ort des Holocausts in der globalen Geschichte ausloten und Fragen, wie die Art, wie die Erinnerung daran mittlerweile mit globalen Ereignissen der Nachkriegszeit verschränkt ist?
Das Konzept der multidirektionalen Erinnerung, das vor über 15 Jahren im Zusammenhang mit der Debatte um Holocaustgedenken und Opferkonkurrenz in den USA entstanden ist, schlägt hier Brücken. Es weist darauf hin, dass Erinnerungen in einem dialogischen Prozess entstehen, der konfliktbeladen sein kann, an dessen Ende aber mehr Erinnerung steht und nicht weniger. Diese Multidirektionalität ist genau das Gegenteil zum Leitbild »Provinzialität«.
Diese multidirektionale Erinnerungsgeschichte offenbarte, dass von Anfang an jüdische und nichtjüdische Intellektuelle Verbindungen zwischen Holocaust, Kolonialismus, Sklaverei und Rassismus herstellten. Multidirektionale Erinnerung belegt, dass der Holocaust die Erinnerung an Sklaverei und Kolonialismus beförderte, dass die Erinnerung an Sklaverei und Kolonialismus zum Entstehen einer öffentlichen Holocausterinnerung beitrug. Sie widerlegt den in Deutschland oft zu hörenden Vorwurf, dass postkoloniale Theorie »strukturell antisemitisch« sei. Im Gegenteil: Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass Intellektuelle, jüdische wie nichtjüdische, früh an solidarischer Erinnerung arbeiteten.
Vergleiche und Analogien begleiteten die Erinnerung an den Holocaust von Anfang an; sie werden wegen der Bedeutung des Holocausts als universelle Chiffre für das Böse auch nicht verstummen. Unserer Meinung nach sind angesichts dieser Verzahnung nicht Provinzialismus und das ritualisierte Postulat absoluter Unvergleichbarkeit die richtigen Antworten, sondern vielmehr eine Ethik des Vergleichs. Dazu bedarf es jedoch der Enttabuisierung des Vergleichs und des Verzichts, Unvergleichbarkeit diffamierend zu benutzen. Vergleiche können die jeweiligen historischen Besonderheiten herausarbeiten und eine moralisch nuancierte Form der differenzierenden Solidarität ermöglichen, die auf die Wahrnehmung konkreter historischer Unterschiede gestützt ist.
Genau eine solche Vision differenzierter Solidarität ist notwendig für eine diverse Gesellschaft. Wissenschaftler und Aktivisten, die versuchen, an die Opfer kolonialer Gewalt zu erinnern und deutsche Städte durch die Umbenennung von Straßennamen zu dekolonisieren, wollen nicht die deutsche Verantwortung für den Holocaust verdrängen. Anstatt uns auf die Entweder-oder-Logik der Provinzialisten von Geschichte und Erinnerung zurückzuziehen, brauchen wir ein Sowohl-als-auch, basierend auf globaler Geschichte, multidirektionaler Erinnerung und rassismuskritischem Aktivismus. Am Ende steht nicht weniger deutsche Verantwortung, sondern mehr, nicht weniger, sondern mehr Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus. Sollte das nicht das Ziel jeder Auseinandersetzung mit dem Holocaust und den Verbrechen des Nationalsozialismus sein?
Jürgen Zimmerer ist Professor für die Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg
Michael Rothberg ist Professor für Holocaust Studies an der University of California in Los Angeles. Sein Buch »Multidirektionale Erinnerung« von 2009 ist jetzt auf Deutsch erschienen (Metropol Verlag)