GEWALT UND HETZE

Anstand wagen

Wehe, wenn sich der Hass gegen Feuerwehrleute, Polizeibeamte und Bürgermeister als neue Normalität etabliert  Von Marc Brost

Dass man in Deutschland nicht alles sagen dürfe, wie manche behaupten, gilt schon lange nicht mehr, inzwischen wird viel Schlimmeres gesagt, als erlaubt ist. Aber nicht nur die Grenzen des Sagbaren haben sich verschoben, sondern auch die Grenzen des Handelns. Wer aus Sicht seiner Widersacher das Falsche sagt oder für das Falsche steht, wird bedroht, geschlagen, mit dem Messer verletzt oder erschossen.

Als im Juni des vergangenen Jahres der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke ermordet wurde, hätte das ein dramatischer Wendepunkt sein müssen. Es hätte sich etwas verändern müssen in diesem Land. Weniger Hetze. Weniger Hass. Und damit weniger Angst ums eigene Leben. Aber es hat sich nichts verändert. Als in der vergangenen Woche das Wahlkreisbüro des SPD-Politikers Karamba Diaby in Halle beschossen wurde, war die Aufregung ein, zwei Tage lang groß. Dann wendete man sich wieder anderen Themen zu.

Es ist dunkler geworden im Bundestag – und überall im Land

Es ist diese schnelle Rückkehr zur Normalität, die einen erschreckt. Sicher, es ist nur allzu menschlich, das Schlimme und Bedrohliche schnell wieder zu verdrängen, man kennt diese Sehnsucht ja von sich selbst. Aber den Schrecken zu vergessen und weiterzumachen wie zuvor führt eben auch dazu, dass man sich an das Schreckliche gewöhnt. Dass Drohungen, Hass und Handgreiflichkeiten zur Normalität werden. Und dann verschieben sich die Grenzen des Sagens und Handelns immer weiter.

Zuerst das Sagen: Als die AfD 2017 in den Bundestag einzog, hieß es, dies würde die Partei zähmen, ihre Vertreter würden in den demokratischen Konsens gezwungen werden und die AfD eine ganz normale Partei werden. Das Gegenteil ist geschehen. Die AfD hat die Aufmerksamkeit des Parlaments genutzt, um zu pöbeln und zu hetzen. Es ist dunkler geworden im Bundestag – und überall im Land. Denn wenn schon Abgeordnete so reden, warum sollte man es dann anderswo unterlassen? »Verunglimpfungen allein stacheln natürlich noch nicht zur Gewalt an«, schreibt der Philosoph Philipp Hübl in seinem Buch über Die aufgeregte Gesellschaft. »Allerdings kann man mit den richtigen Wörtern denjenigen, die ohnehin schon eine menschenfeindliche Neigung haben, die Hemmungen nehmen, Gewalt anzuwenden.«

Es war im vergangenen Sommer, als der Bundespräsident 14 Bürgermeister aus ganz Deutschland nach Berlin einlud, sie sollten von den ständigen Beschimpfungen und Einschüchterungen berichten. Von einem Galgen, der morgens im heimischen Vorgarten stand. Von Nägeln in den Autoreifen. Und Kot im Briefkasten. Vor allem aber berichteten diese Bürgermeister, dass sie gar nicht wegen der Flüchtlingspolitik oder anderer hitziger Themen bedroht würden – sondern wegen ganz alltäglicher Entscheidungen. Manchmal sei es um die Sanierung des Rathauses oder den Abriss einer alten Sportstätte gegangen. Bei vielen Menschen fehle »jede Bereitschaft dafür, sich auf Sachargumente einzulassen«, zitierte die Frankfurter Rundschau eine Bürgermeisterin.

Der Hass entzündet sich also schon an alltäglichen Entscheidungen. Und er trifft nicht allein Politiker, sondern auch Feuerwehrleute, Polizisten, Lehrer. Eben all jene, die sich für das Gemeinwohl einsetzen, die Entscheidungen treffen und sich exponieren – und sei es bei einem Elternabend in der Schule. Ihre Fälle dringen selten an die Öffentlichkeit, sie müssen den Schmähungen standhalten, ohne dass ihnen jemand beispringt. Und irgendwann resignieren sie, treten zurück oder wechseln den Job.

Was ist eigentlich der Grund dafür, dass der Hass so tief ins Land einsickern konnte? Warum muss beinahe jeder, der den Kopf herausstreckt, niedergemacht werden? Es gibt darauf nicht die alles erklärende Antwort, aber eines stimmt in jedem Fall: Jede Demokratie lebt von Leuten, die sich hervorwagen, in der Bundespolitik ebenso wie im Kleinen vor Ort. Wenn das nicht mehr geschieht, haben die Hetzer und Schläger gewonnen. Schon für die Androhung von Gewalt sind härtere Strafen erforderlich; niemand darf wegschauen, wenn andere angepöbelt werden; man muss als Opfer jede Bedrohung konsequent anzeigen.

Die Gegner der Demokratie sind dabei, dieses Land zu verändern. Und so schnell, wie das Land nach jedem Anschlag, jeder Bedrohung zur Tagesordnung übergeht, muss man leider auch feststellen: Sie sind schon ziemlich weit gekommen.

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