Gehängt im Namen Gottes

Letzter Ausweg Hinrichtung: Das Regime im Iran versucht mit brutaler Gewalt, die Proteste im Land zu stoppen. Von Navid Kermani

Von Mohsen Schekari wird berichtet, er habe Stand-up-Comedian werden wollen. Er soll als Barista in einem Café im betriebsamen Teheraner Stadtteil Sattarchan gearbeitet, das Videospiel God of War geliebt und viel Sport getrieben haben, er soll Fan von Bayern München gewesen sein. Sein Bruder soll ein Ingenieur sein, der sein Geld als Fahrer bei Snapp verdient, der iranischen Variante von Uber – einer von Hunderttausenden, Millionen jungen Akademikern im Iran, die sich mit Billigjobs über Wasser halten. Seine Schwester soll Psychologie studiert haben und als Rezeptionistin in einer Arztpraxis arbeiten. Über seine Eltern habe ich noch nichts erfahren. Allerdings habe ich seine Mutter in einer Gasse neben parkenden Autos gesehen, eine Frau mittleren Alters mit dem knielangen Mantel und dem losen Kopftuch, mit dem die meisten Iranerinnen seit 40 Jahren die Kleidungsvorschriften unwillig befolgen: In einem Video, das aus 50 oder 80 Meter Entfernung von oben aufgenommen wurde, hält sie sich die Hände vors Gesicht, beugt den Oberkörper vor und zurück und schreit entsetzliche Wehklagen in den Himmel. Einige ältere Passanten oder Verwandte eilen zu ihr, um sie zu beruhigen und wegzuführen, aber sie schreit so laut Mohseeeen, Mohseeeen, dass es im ganzen Viertel zu hören sein muss. Wenige Sekunden zuvor soll sie von der Hinrichtung ihres Sohns erfahren haben. 23 Jahre alt war Mohsen Schekari, der erste Iraner, der wegen seiner Teilnahme an den derzeitigen Protesten gehängt worden ist.

Es wird berichtet, Mohsen habe am 25. September von der Theke seines Cafés eine Menschenmenge beobachtet, die gegen die Ermordung von Jina Mahsa Amini demonstrierte. Er sei nach draußen gegangen, um ebenfalls Slogans gegen die Regierung zu rufen. Auf Motorrädern seien Milizen der paramilitärischen Basidschi in die Menge gefahren, wie sie es bei kleineren Protesten üblicherweise tun, die Beifahrer mit Knüppeln, Messern oder Pistolen ausgestattet. Einer der Milizionäre soll vom Motorrad gestiegen sein und mit dem Messer eine junge Frau attackiert haben, die in den offenen Kanal am Straßenrand gefallen war. Mohsen soll sich auf ihn gestürzt haben, sodass die Frau entkommen konnte, wurde nun aber ebenfalls umgerissen und mit Fußtritten bedacht. Als der Milizionär abließ, um wieder aufs Motorrad zu steigen, habe Mohsen aus dem Café ein Küchenmesser geholt. Zurück auf der Straße, habe er mit anderen Demonstranten eine Blockade errichtet, um die Milizionäre beim nächsten Angriff abzuwehren. Als sie zurückkehrten, habe Mohsen das Küchenmesser in großer Erregung einem Milizionär entgegengestreckt, der sich ihm mit einem Knüppel näherte. Der Milizionär habe den Knüppel erhoben, um auf Mohsen einzuschlagen, da habe Mohsen das Messer in den Bauch des Milizionärs gestochen. Das Blut sei hervorgespritzt, und Mohsen habe befürchtet, er habe den Milizionär getötet oder schwer verwundet. Er habe das Messer fallen gelassen und sich weinend den Milizionären gestellt. »Ich wollte doch nur, dass er uns nicht schlägt«, habe er gerufen, während er abgeführt wurde, immer wieder »Ich wollte doch nur, dass er uns nicht schlägt«. Er und andere Demonstranten hätten noch gesehen, dass die Wunde nur oberflächlich gewesen und rasch versorgt worden sei.

Ob das alles stimmt? Ich weiß es nicht, ich gebe nur die Berichte von Augenzeugen und Angehörigen wieder, die seit Mohsens Hinrichtung gesammelt und ins Netz gestellt werden, damit seine Geschichte niemals vergessen wird. Und sie erscheinen mir umso plausibler, als sie nicht bestreiten, dass Mohsen einen Milizionär verletzte. Nicht einmal die Anklage behauptete, dass ein Mord vorliegt; Mohsen habe lediglich beabsichtigt, einen Milizionär zu töten, und sei dafür von einem Dritten angeheuert worden. Eine bloße Tötungsabsicht wäre selbst nach dem Strafgesetz der Islamischen Republik kein todeswürdiges Delikt. Aber was soll man von Gesetzen sprechen in einem Staat, der seine Willkür noch nie zu kaschieren versucht hat. Natürlich durfte Mohsen sich keinen Anwalt nehmen, geschweige denn die Akte einsehen. Aus dem Küchenmesser wurde vor Gericht eine Machete, aus der leichten Stichwunde im Bauch eine schwere Verletzung an der Schulter, die mit 13 Stichen genäht worden sein soll, aus der Notwehr eine Konspiration. Sein Onkel sagte dem Guardian, dass auf Mohsens Gesicht deutlich die Spuren der Folter zu erkennen gewesen seien.

Im Ewin-Gefängnis soll Mohsen Schekari mit allen Witze gemacht haben. Er sei ein schlichter, ehrlicher und etwas leichtgläubiger junger Mann gewesen, berichtet ein Zellengenosse, der vor ein paar Tagen aus der Haft entlassen worden ist. Der Zellengenosse gesteht, sein letztes Wort an Mohsen sei ein Tadel gewesen, das werde er sich niemals verzeihen. Er habe schlafen wollen, aber Mohsen habe den anderen Mithäftlingen mit lebhafter Stimme eine Szene aus einer Comedy-Show nacherzählt, deshalb habe er ihn angepflaumt, er solle endlich Ruhe geben. Mohsen habe sich wütend hingelegt und kurz darauf geschnarcht. Bei der Festnahme soll seine Nase gebrochen worden sein, deshalb habe er schlecht atmen können. Es sei Mittag gewesen, als durch den Lautsprecher des Gefängnisses verkündet worden sei, dass Mohsen Schekari wegen »Korruption auf Erden und Krieg gegen Gott« hingerichtet worden ist. In Mohsens Zelle hätten die Häftlinge stumm auf die leere Liege geblickt, über der noch das Mannschaftsbild von Bayern München hing.

Es wird berichtet, Mohsens Eltern seien auf eine Lüge der Behörden hereingefallen. Kurz vor der Hinrichtung hätten sie einen Anruf erhalten, dass Mohsen begnadigt werde, sie sollten daher Ruhe bewahren und keinesfalls an die Öffentlichkeit gehen. Bald komme ihr Sohn frei. Sie fuhren zum Gefängnis und hofften, Mohsen in die Arme schließen zu können. Tatsächlich wurde Mohsen hingerichtet, während die Eltern vor dem Gefängnis auf Nachricht warteten; das Video muss demnach am vergangenen Donnerstag in der Nähe des Ewin-Gefängnisses entstanden sein. Als sie die Habseligkeiten des Sohnes in Empfang nahmen, sei den Eltern mitgeteilt worden, dass Mohsen mit dem Tod für seine Sünden bezahlt habe und somit wieder als Muslim gelte, der auf dem öffentlichen Friedhof bestattet werden dürfe. Für seine Versorgung im Gefängnis würden der Familie keine Kosten berechnet. Der Onkel berichtete gleichwohl, dass die Familie zweimal zu verschiedenen Friedhöfen geschickt worden sei, um den Sohn zu begraben. Als sie eintraf, sei ihr jedes Mal mitgeteilt worden, dass die Leiche doch woanders sei. Es sei »das bekannte Spiel, um die Familie zusätzlich zu quälen«, sagte der Onkel.

Mehr als 18.000 Teilnehmer der regierungskritischen Proteste sollen inzwischen inhaftiert sein, und bekanntlich hat das iranische Parlament gefordert, sie ebenfalls für »Krieg gegen Gott« zu verurteilen, was nach dem iranischen Gesetz zwingend mit dem Tod bestraft wird. Es besteht kein Zweifel, dass die Islamische Republik keinerlei Skrupel hat, Tausende politische Gefangene innerhalb von Tagen oder wenigen Wochen hinzurichten; sie hat es unmittelbar nach der Revolution und ebenso 1988 bereits getan. Aber etwas ist diesmal anders. Diesmal erhält jeder der Hingerichteten ein Gesicht, so auch der 23-jährige Hobbyringer Madschidresa Rahnavard, der Nickelbrille und lange Haare wie John Lennon trug. Auf einem der Fotos steht er unbeschwert auf einem Motorrad, dessen Vorderrad in der Luft schwebt. Er war am 19. November bei einer Demonstration in Maschhad festgenommen und bereits fünf Tage später zum Tod verurteilt worden. Noch vor wenigen Tagen soll seine Mutter die Erlaubnis erhalten haben, Madschidresa zu besuchen. Selig habe sie das Gefängnis verlassen, da ihr zu verstehen gegeben worden sei, ihr Sohn komme bald frei. Im Netz kursieren Bilder aus dem Gefängnis, auf denen Mutter und Sohn sich umarmen und in die Kamera lächeln. Als sie Madschidresa am Montag wieder besuchen wollte, sei der Mutter mitgeteilt worden, dass er am Morgen öffentlich gehängt und bereits begraben worden ist.

Es ist klar, dass sich Revolutionsführer Chamenei nach anfänglichem Zögern entschieden hat, auf nackte Gewalt zu setzen, um seine Macht zu bewahren. Ein Zurück kann es nach der jüngsten Eskalation für ihn kaum geben; sein politisches Schicksal und womöglich sein Leben hängen davon ab, dass der Sicherheitsapparat die Proteste erstickt. Ist das noch möglich? Mit jeder Hinrichtung greift das Entsetzen weiter um sich, und selbst Angehörige des Systems gehen immer häufiger öffentlich auf Distanz. Letzte Woche sagte die Schwester Chameneis sich von ihrem Bruder los, schon am 22. November hatte der erzkonservative ehemalige Leiter des staatlichen Rundfunks, Mohammed Sarafras, den Revolutionsführer zur Umkehr aufgerufen. Sarafras wurde von Chamenei persönlich ernannt und steht wegen der Vielzahl von erzwungenen Geständnissen im iranischen Fernsehen und anderer Menschenrechtsverletzungen seit Jahren auf der Sanktionsliste der Europäischen Union. Die Gewalt gegen das eigene Volk werde für die Islamische Republik früher oder später in einer Sackgasse enden, sagte er in einer Videobotschaft: »Mir ist bewusst, dass mir nach diesen Worten alles widerfahren kann, deshalb habe ich mein Testament hinterlegt.«

Derweil haben die Behörden die Namen von 22 weiteren Verurteilten veröffentlicht, die in Kürze gehängt werden sollen. Bereits jetzt werden die Berichte gesammelt, die einmal in die Hagiografie iranischer Märtyrer eingehen werden. Der bekannte Radiologe Hamid Ghare-Hassanlu und seine Frau Farsaneh sind darunter, der Theaterschauspieler Hossein Mohammed und der Fußballprofi Amir Nasr-Asadani. Mit Arin Farsamnia, Amin Mehdi Schokrollahi and Amir Mehdi Dschaffari stehen auch drei Minderjährige auf der Liste. Als Nächstes soll der 22-jährige Mahan Sadrat hingerichtet werden, der sich vor Gericht beharrlich weigerte, zu gestehen, er habe ein Messer bei sich geführt, geschweige denn einen Sicherheitsbeamten verletzt. Berichten zufolge ist der Vollstreckungsbefehl bereits ausgestellt. Im Iran werden noch viele Mütter den Namen ihres Kindes in den Himmel schreien. Dass an sie erinnert wird, an jeden einzelnen von ihnen und überall im Land, bewahrt die Hoffnung auf eine freie Zukunft des Iran.

Der Schriftsteller und Friedenspreisträger Navid Kermani lebt in Köln. Zuletzt ist von ihm erschienen: »Was jetzt möglich ist. 33 politische Situationen« (C. H. Beck)

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