TITELTHEMA: WAS NÜTZT DER KLIMA-AKTIVISMUS?

Carla und der Rest der Welt

In Berlin kleben sich junge Menschen auf der Straße fest, um eine schärfere Klimapolitik durchzusetzen. Was soll das bringen, wenn nur ein Bruchteil der globalen Emissionen aus Deutschland kommt?

Carla Rochel hockt im Schneidersitz auf dem Asphalt vor dem Berliner Hauptbahnhof, als das Taxi auf sie zurollt.

Sie trägt eine orange Warnweste. Neben ihr sitzen vier andere junge Leute, auch sie in Warnwesten. Sie halten ein Plakat in die Höhe, auf dem steht: »Was, wenn die Regierung das nicht im Griff hat?«

Mit »das« meinen sie die Klimakrise.

Den Autofahrern vor dem Bahnhof scheint die Klimakrise im Moment egal zu sein. Und die Regierung auch.

Manche hupen. Andere schreien irgendetwas aus den Wagenfenstern. Vom Straßenrand ruft ein Fußgänger: »Ihr seht so ungewaschen aus!«

Ein anderer brüllt: »Das ist so dumm!«

Wieder ein anderer: »Einfach zehn Jahre nach Sibirien!«

Eine Frau steigt aus einem Wagen, sie ruft, fast panisch: »Ich muss mein Kind abholen, ich muss mein Kind abholen!« Carla Rochel antwortet: »Das tut mir leid, aber wir bleiben hier sitzen.«

Die Autos bleiben stehen. Bis auf das Taxi. Der Fahrer gibt Gas. Langsam rollt er auf Carla Rochel zu. Sie könnte jetzt aufstehen, aber sie bewegt sich nicht.

Es ist ihre 40. Straßenblockade: Carla Rochel aus Radebeul bei Dresden, die 14 Jahre alt war, als sie einen Film über die Missstände in der Tierhaltung sah und sich entschied, fortan vegan zu leben. Die 17 war, als sie den aktuellen Bericht des Weltklimarates las und beschloss, die Schule zu schwänzen und mit Fridays for Future auf die Straße zu gehen. Die wenig später selbst Demonstrationen organisierte und die jetzt, mit 20, Politikwissenschaften in Heidelberg studiert, oder eben nicht studiert, weil sie stattdessen hier in Berlin auf der Straße sitzt, als Teil dieser Aktivistengruppe, die sich mit vollständigem Namen »Aufstand der letzten Generation« nennt.

Das Taxi bleibt stehen, für ein paar Sekunden. Dann fährt es wieder an. Es ist jetzt etwa drei Meter von Carla Rochel entfernt. Zwei Meter. Einen Meter. Die Front des Wagens stößt gegen Carla Rochels Knie, schiebt es ein wenig zurück. Carla Rochel verzieht keine Miene. Sie bleibt sitzen.

Das Taxi bleibt stehen.

Minuten später kommt die Polizei. Carla Rochel klebt schnell ihre linke Hand mit Sekundenkleber auf den Asphalt. Sie machen das fast immer so: erst kleben, wenn die Polizei da ist. Alles andere ist zu gefährlich. Würden wütende Autofahrer an ihren fixierten Händen zerren, würde es ihnen die Haut zerfetzen.

Ein Polizist sagt: »Sie sind Beschuldigte einer Straftat.« Carla Rochel antwortet: »Das habe ich verstanden.« Ein anderer Polizist kniet sich neben sie auf den Asphalt und pinselt Rapsöl auf ihre Hand. Das Öl löst den Kleber auf. Wenig später tragen die Polizisten die Blockierer von der Straße. Die Aktion ist vorbei. Die Autos fahren wieder, als sei nichts gewesen.

Und wofür das Ganze?

Das ist die Frage, um die es in diesem Dossier gehen wird. Sie richtet sich an sehr unterschiedliche Menschen an sehr unterschiedlichen Orten. In Deutschland sind es die Aktivistinnen und Aktivisten der Letzten Generation, die sich in diesen Tagen fragen lassen müssen, was es dem Klimaschutz bringen soll, berühmte Gemälde mit Kartoffelbrei zu bewerfen, sich an Haltestangen eines Dinosaurierskeletts anzukleben und, vor allem, immer wieder Straßen zu blockieren. Glauben sie wirklich, dass die Deutschen deshalb aufs Fahrrad umsteigen? Die Bundesregierung den Kohleausstieg noch weiter vorzieht? Die Chinesen mehr Windkraftanlagen installieren?

Die Frage nach dem Zweck stellt sich aber auch 3200 Kilometer weiter südlich, am Roten Meer, in dem ägyptischen Urlaubsort Scharm al-Scheich, wo derzeit die Weltklimakonferenz stattfindet. Es ist die 27. Konferenz dieser Art, die bisherigen Treffen fanden in Europa, in Nord- und Südamerika statt, in Afrika, und Asien, also fast überall auf der Welt. Jedes Mal flogen Tausende Menschen – Regierungschefs, Ministerinnen, Diplomaten, Wissenschaftler, Journalistinnen – rund um den Globus, um viele Stunden in, je nach Veranstaltungsort, geheizten oder gekühlten Tagungszentren zu verbringen.

Böswillig formuliert, könnte man sagen, dass die ständigen Konferenzen bis heute womöglich mehr Emissionen erzeugt als verhindert haben. Denn seit der ersten Zusammenkunft im Jahr 1995 ist der weltweite Ausstoß von Treibhausgasen nicht etwa gesunken oder zumindest konstant geblieben. Sondern um 50 Prozent gewachsen. In diesem Jahr werden sie so hoch sein wie nie zuvor.

Das also ist die Situation im Herbst 2022: In Berlin sitzt eine junge Frau auf der Straße, um die Bundesregierung zu mehr Klimaschutz zu zwingen. Und in Scharm al-Scheich sitzt eine nicht mehr ganz so junge Frau, die dieser Bundesregierung angehört, in Konferenzsälen, um mitzuhelfen, die ganze Welt zu strengeren Klimaschutzmaßnahmen zu – nein, nicht zu zwingen, aber vielleicht zu überreden.

Scharm al-Scheich

Jennifer Morgan, 56, ist Staatssekretärin im Auswärtigen Amt und die deutsche Sonderbeauftragte für internationale Klimapolitik. Das ist ihr neues Leben, es begann vor acht Monaten. Zuvor hat die gebürtige Amerikanerin Jennifer Morgan ein ganz ähnliches Leben geführt wie die junge Deutsche Carla Rochel.

Morgan ist für den Klimaschutz auf die Straße gegangen, hat in einem Kajak den Hafen von Rotterdam blockiert, um Öltankern den Weg zu versperren. Sie hat das Klimaprogramm der Umweltschutzorganisation WWF geleitet und war Chefin von Greenpeace International – bis ihr die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock einen Job anbot.

Als Aktivistin nahm Morgan schon an der allerersten Klimakonferenz teil, 1995 in Berlin, und an allen Konferenzen danach, sie war auch 2015 in Paris dabei, als der große Durchbruch der Klimapolitik gefeiert wurde. Damals hat sich die Welt darauf verständigt, die Erderwärmung auf »deutlich unter zwei Grad Celsius, möglichst auf 1,5 Grad im Vergleich zum vorindustriellen Niveau«, ,zu begrenzen. In der Folge ging jedes Land eine Verpflichtung ein, seine Emissionen zu reduzieren.

Wie kann es sein, dass die globalen Emissionen trotzdem gestiegen sind?

Eine Antwort findet sich am vergangenen Freitag, morgens um Viertel vor neun. Noch ist wenig los auf dem Konferenzgelände, das etwa zur Hälfte aus riesigen Zelten besteht. Nur im deutschen Pavillon drängen sich die Journalisten. Große und kleine Blumentöpfe mit Kakteen, Palmen, Hängepflanzen. Am Rednerpult steht Jennifer Morgan. Sie ist um halb sechs aufgestanden, um Viertel nach sechs hat sie mit ihrem Team beim Frühstück den Tag durchgesprochen, um acht hatte sie ihren ersten Fernsehauftritt. Sie trägt einen blauen Anzug, ein weißes T-Shirt, die Anstrengung nach fünf Tagen Konferenz ist ihr nicht anzusehen. An die Journalisten gewandt sagt sie: »Wir haben einen ersten Entwurf des Textes.«

Der Text. Gemeint ist ein Teil dessen, worauf sich die einzelnen Länder am Ende der Konferenz einigen könnten. Die Abschlusserklärung. Oder genauer: die Absichtserklärung. Denn viel mehr sind die Beschlüsse der Klimakonferenzen bisher nie gewesen. Auch nicht in Paris. Die Welt beschloss damals zwar, die Erderwärmung auf maximal zwei Grad zu begrenzen. Aber die bisherigen Maßnahmen, die jede einzelne Regierung angekündigt hat, um dieses Ziel zu erreichen, genügen dafür nicht. Im Moment läuft es eher auf 2,4 Grad zu, wahrscheinlich sogar auf 2,6 oder 2,8 Grad, das sind die derzeitigen Berechnungen. Und auch das gilt nur dann, wenn die angekündigten Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden.

Das Problem des Klimaschutzes lässt sich mit dem sogenannten Trittbrettfahrer-Dilemma beschreiben. Der Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas, das Umsteigen auf grüne Energien, die Infrastruktur für Elektroautos, die Dämmung von Gebäuden, der Schutz von Regenwäldern, all das verbraucht Geld. Wer das Klima schützt, hat Kosten, zumindest kurzfristig. Den Nutzen aber haben auch diejenigen, die nichts tun. Die Trittbrettfahrer.

Der Kölner Wirtschaftswissenschaftler Axel Ockenfels hat sich mit diesem Problem ausführlich beschäftigt. Was bringt Menschen dazu, zu kooperieren? Das ist seine Forschungsfrage. Auf den Klimaschutz bezogen: Was ist nötig, damit die Welt nicht nur Absichten formuliert, sondern auch Taten folgen lässt?

Ockenfels hat kürzlich vor chinesischen Wissenschaftlern gesprochen. Er hat sie gefragt, ob sie glauben, sie könnten den Klimawandel besser bekämpfen, wenn es – rein hypothetisch – ein separates chinesisches Klima mit einer eigenen chinesischen Atmosphäre gäbe. Diese Frage stellt er in jedem Land der Welt, die Antwort ist immer dieselbe: ja! »Kaum jemand bezweifelt, dass China, die USA, Deutschland oder ein anderes Land die eigene Klimakatastrophe wirksam bekämpfen würde«, sagt Ockenfels. Das liege daran, dass das Klimaproblem im Kern ein globales Trittbrettfahrerproblem sei. Lösungsansätze, die allein auf individuelle oder nationale Ambitionen setzten, seien zum Scheitern verurteilt.

Was nötig wäre, so Ockenfels, seien klare gegenseitige Verpflichtungen, so wie es sie in der Vergangenheit bei Handels- oder Abrüstungsabkommen gegeben habe. Wer mitmacht, wird belohnt. Wer sich nicht an die Verpflichtungen hält, muss mit Strafe rechnen. So wie auch ein Trittbrettfahrer eine Strafe bekommt, wenn der Schaffner ihn erwischt.

Es gibt Experten, die zum Beispiel die Gründung einer mächtigen Weltklimaorganisation fordern. Diese könnte, ähnlich wie die Welthandelsorganisation WTO, Strafen gegen Länder verhängen, die sich nicht an die Regeln halten. Denkbar wäre auch, dass der UN-Sicherheitsrat Sanktionen gegen Länder beschließt, die, zum Beispiel, ihre Regenwälder abholzen oder massiv in neue Kohlekraftwerke investieren. So wie der Sicherheitsrat ja auch gegen Länder vorgeht, die das Völkerrecht brechen. All das wäre denkbar.

Aber ist es auch machbar? Bisher ist jeder Versuch, in die Klimaabkommen einen Sanktionsmechanismus zu integrieren, gescheitert. Länder wie die USA, China und Russland haben stets klargemacht, dass sie dem niemals zustimmen würden.

Deshalb bleibt der Welt auf absehbare Zeit wohl nichts anderes übrig, als darauf zu hoffen, dass möglichst viele Länder die Ziele, die sie sich selbst gesteckt haben, einhalten.

Die Nacht legt sich über die Wüste, als Jennifer Morgan in Scharm al-Scheich auf einen Stuhl sinkt. Allein in den vergangenen drei Stunden, sagt sie, habe sie sieben Meetings gehabt. Verhandlungen, Gespräche, Diskussionen. Deutschland will gemeinsam mit anderen Industrieländern eine Partnerschaft mit Indonesien schließen, damit Indonesien schneller aus der Kohle aussteigen kann. Deutschland unterstützt Kenia dabei, bis 2030 komplett auf grünen Strom umzusteigen. Deutschland will Ägypten helfen, die Energie aus erneuerbaren Quellen zu vervierfachen. Morgan sagt, damit das funktioniert, müsse die Bundesrepublik selbst ein Vorbild sein. »Wir betreiben in Deutschland eine ambitionierte Klimapolitik und haben Gesetze verabschiedet, durch die der Ausbau der erneuerbaren Energien noch einmal deutlich beschleunigt wird. Das gibt uns auf internationaler Ebene die notwendige Glaubwürdigkeit, um auch die globale Energiewende voranzutreiben.«

Inzwischen haben die Regierungen zahlreicher Länder ihre Pläne zum Klimaschutz in Gesetze gegossen. Das ist ein Erfolg, weil die Welt ohne diese Pläne auf einem 5- oder 6-Grad-Pfad wäre. Es ist ein Fortschritt, weil Gesetze mehr sind als Absichtserklärungen. Die USA gehören zu diesen Ländern, China, die Bundesrepublik. Nur: Auch das bedeutet nicht automatisch, dass die Emissionen tatsächlich sinken.

Kurz vor der Konferenz in Scharm al-Scheich hat der im Jahr 2020 von der Bundesregierung eingesetzte Expertenrat für Klimafragen, ein Gremium von fünf Wissenschaftlern, sein erstes Zweijahresgutachten vorgelegt. Darin heißt es, die bisherigen deutschen Emissionsreduktionen reichten »bei weitem nicht aus, um die Klimaschutzziele für das Jahr 2030 zu erreichen«. Anders gesagt: Die Bundesregierung hält ihr eigenes Klimaschutzgesetz nicht ein.

Berlin

Am 30. August 2021, knapp einen Monat vor der Bundestagswahl, errichten sieben junge Leute im Regierungsviertel ein Zeltlager und treten in den Hungerstreik. Es ist die Keimzelle der Gruppe, die heute die Straßen blockiert und auf ihrer Website schreibt: »Wir sind die erste Generation, die den beginnenden Klimakollaps spürt und die letzte Generation, die noch etwas dagegen tun kann.«

Zum damaligen Zeitpunkt liegen die großen Demonstrationen von Fridays for Future, bei denen weltweit Millionen Menschen auf die Straße gingen, zwei Jahre zurück.

Die Forderung der Hungernden im Berliner Regierungsviertel lautet nun: ein öffentliches Gespräch mit den drei Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU), Olaf Scholz (SPD) und Annalena Baerbock (Grüne). Diese gehen darauf nicht ein, Baerbock meldet sich nur kurz per Telefon. Nach fast vier Wochen sind von der ursprünglichen Gruppe nur noch zwei übrig, einer davon ist der 21-jährige Henning Jeschke, der nun auch die Aufnahme von Flüssigkeit verweigert. Schließlich sagt Olaf Scholz ein Gespräch zu, das sieben Wochen nach der Bundestagswahl stattfindet. Es dauert eine Stunde, in der Jeschke und eine Mitstreiterin Scholz mit einem Vorwurf nach dem anderen konfrontieren. Am Ende sagt Jeschke, er und seine Gruppe würden der Regierung noch einige Monate Zeit geben. Wenn sich dann immer noch nichts geändert habe, würden sie das nicht länger hinnehmen.

Carla Rochel sagt, sie habe, als sie in ihrer WG in Heidelberg die Aufzeichnung des Gesprächs auf dem Laptop sah, beschlossen: »Ich kann jetzt nicht mehr weiterstudieren, ich schließe mich diesem friedlichen Widerstand an.«

Knapp ein Jahr später, am 28. September 2022, sitzt Carla Rochel als Zuschauerin in einem Berliner Gerichtssaal. Angeklagt ist Henning Jeschke. Schon im Frühsommer, als noch kaum jemand von der Letzten Generation Notiz nahm, hat er eine Straße blockiert. Den Strafbefehl wegen versuchter Nötigung hat er nicht akzeptiert, deshalb muss er sich nun vor Gericht verantworten. Es ist einer der ersten Prozesse gegen einen Aktivisten der Letzten Generation. Inzwischen haben Dutzende ähnliche Verfahren stattgefunden. Hunderte weitere sind derzeit in Vorbereitung. Man hat den Eindruck, die Aktivistinnen und Aktivisten wollen die Gerichtssäle als Bühne nutzen.

Jeschke verteidigt sich selbst. Tagelang hat er gemeinsam mit anderen Aktivisten Gesetzestexte und juristische Fachartikel gelesen. Noch bis in die Nacht haben sie Beweisanträge geschrieben. Jetzt, in der Verhandlung, beruft er sich auf Paragraf 34 des Strafgesetzbuches, den sogenannten rechtfertigenden Notstand. Die Gefahr einer Klimakatastrophe sei so groß, dass er keine andere Wahl habe, als mit zivilem Ungehorsam gegen die Politik der Bundesregierung zu protestieren.

Als Jeschke sein Schlussplädoyer hält, bricht seine Stimme. Er weint und ruft der Richterin zu: »Auf unsere Gräber werden unsere Kinder spucken, wenn wir nicht handeln! Entscheiden Sie, auf welcher Seite der Geschichte Sie stehen!«

Die Richterin verurteilt Jeschke wegen versuchter Nötigung zu 20 Tagessätzen à 10 Euro. Über die Straßenblockade sagt sie: »Ich glaube nicht, dass Sie damit erreichen, was Sie erreichen wollen.«

Aufmerksamkeit. Das ist es, was die Letzte Generation mit ihren Aktionen zweifellos erlangt hat, dieser Artikel ist Teil davon. Wenn es aber stimmt, dass in der Bundesrepublik alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, wie es im Grundgesetz steht, dann reicht Aufmerksamkeit allein nicht aus, um ein politisches Anliegen durchzusetzen. Zusätzlich braucht es das Verständnis und die Sympathie der Bürger. Die Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future, die friedlich durch die Straßen zogen, anstatt sich auf diesen festzukleben, hatten die Mehrheit der Deutschen auf ihrer Seite. Die Letzte Generation stößt dagegen weitgehend auf Ablehnung, und das nicht erst seit der Diskussion um den Unfalltod einer Berliner Radfahrerin, für den die Gruppe möglicherweise eine Mitverantwortung trägt, weil ein Rettungsfahrzeug wegen einer ihrer Blockaden im Stau stand.

Nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey glauben 86 Prozent der Bundesbürger, dass Aktionen der Letzten Generation mehr schaden als nützen. »Anstatt über die Klimapolitik reden viele Leute vor allem darüber, wie nervig sie diese Aktionen finden«, sagt der Protestforscher Christian Volk von der Berliner Humboldt-Universität.

Der Kommunikationswissenschaftler Michael Brüggemann von der Uni Hamburg fügt hinzu: »Das Bewerfen von Ölgemälden und zum Teil auch das Blockieren von Straßen ermöglicht den Verzögerern von Klimaschutz, die Proteste insgesamt zu kriminalisieren, deshalb erreichen die Aktionen nicht das, was sie anstreben.«

Und der Wirtschaftsforscher Ockenfels findet: Wer in Deutschland Kartoffelbrei über ein Gemälde kippt, könnte der Mitmachbereitschaft etwa der Chinesen oder Amerikaner sogar eher schaden, weil er für nationale, für sehr deutsche Maßnahmen wie das Neun-Euro-Ticket streitet – und gerade nicht für international ausgehandelte politische Kompromisse, die die Nationen der Welt zu gemeinsamen Regeln anstiften.

Scharm al-Scheich

Jennifer Morgan läuft über das Konferenzgelände, vorbei an den Pavillons von Saudi-Arabien, Schweden und der Weltbank, von einem Zelt in das nächste, von der Wärme draußen in die Kälte der Klimaanlagen drinnen. Sie ist auf dem Weg zu Xie Zhenhua, dem Sonderbeauftragten Chinas. Ein erster Austausch steht an, bevor die entscheidenden Verhandlungen beginnen. »Es ist sehr wichtig, zu sprechen, zuzuhören und die chinesische Position genau zu verstehen – und natürlich auch klarzumachen, was unsere Position ist und was wir erwarten«, sagt Morgan.

Die Deutschen erwarten, dass die Chinesen Zugeständnisse machen, die Chinesen wollen die Deutschen stärker in die Pflicht nehmen.

Sie hat jetzt die Delegationsbüros erreicht. Vor der Tür mit der Nummer 70 hängt die rot leuchtende chinesische Flagge mit den gelben Sternen. Morgan muss kurz warten, dann kommt Xie Zhenhua auf sie zu. Ein Lächeln, ein Händeschütteln, ein paar freundliche Worte. Die Tür schließt sich hinter ihnen.

Bei Klimakonferenzen sind alle Länder gleich. Beschlüsse gelten nur, wenn es keine Gegenstimmen gibt, und ein kleiner Inselstaat wie Tuvalu hat dasselbe Gewicht wie die USA.

Beim Klimaschutz dagegen sind sie ungleich. Drei Länder der Welt sind für mehr als die Hälfte der jährlichen Treibhausgas-Emissionen verantwortlich. Diese Länder sind China (33 Prozent), die USA (13 Prozent) und Indien (7 Prozent). Deutschland liegt auf Platz sieben mit knapp zwei Prozent.

Das wirft die Frage auf: Was bringt es dem Klima, wenn Deutschland strengere Maßnahmen einführt, China, die USA und Indien das aber nicht tun?

Auf den ersten Blick lautet die Antwort: So gut wie nichts.

Auf den zweiten Blick lautet sie: Es ist kompliziert.

Es beginnt damit, dass Deutschland zwar nur knapp zwei Prozent der weltweiten Emissionen verursacht. Der durchschnittliche Deutsche aber ist für fast viermal so viele Emissionen verantwortlich wie der durchschnittliche Inder. Insofern ist es schwierig, wenn ausgerechnet die Deutschen von den Indern verlangen, sie sollten gefälligst mehr Geld für den Klimaschutz ausgeben.

In China liegen die Pro-Kopf-Emissionen inzwischen über dem weltweiten Durchschnitt. Allerdings sind sie sehr viel geringer als in den USA. Dagegen können die Amerikaner darauf verweisen, dass sie insgesamt nicht einmal halb so viele Emissionen erzeugen wie die Chinesen, weshalb doch bitte diese mit dem Klimaschutz beginnen sollten.

Genau solche Zahlenspiele sind es, die über Jahre und Jahrzehnte jeglichen Klimaschutz verhindert haben. Deshalb hilft es, auf den dritten Blick, die Frage umzudrehen, um zu einer Antwort zu kommen: Was schadet es dem Klima, wenn Deutschland keine Klimaschutzmaßnahmen ergreift?

Die Antwort: Sehr viel.

Denn nichts bringt so viele Trittbrettfahrer hervor wie andere Trittbrettfahrer. Wenn sich ein Industrieland wie Deutschland nicht an seine Verpflichtungen zum Klimaschutz hält, ist das für Länder wie China oder Indien eine Einladung, es ebenfalls nicht zu tun.

Wenn es jedoch umgekehrt ein Industrieland wie Deutschland, in dem vergleichsweise selten die Sonne scheint und kein übermäßig starker Wind weht, schafft, klimaneutral zu werden, dann signalisiert das anderen Ländern: Das könnt ihr auch.

Das in Deutschland vor vielen Jahren erlassene Erneuerbare-Energien-Gesetz zum Beispiel, das die Einspeisung von grünem Strom förderte, hat sich längst als Exportschlager erwiesen. Und deutsche Technologie für Sonnen- und Windkraft sowie den Umbau von Stromnetzen wird inzwischen überall auf der Welt verwandt. Die deutsche Denkfabrik Agora Energiewende berät regelmäßig ausländische Regierungen und Unternehmen beim Ausbau der Erneuerbaren.

Wenn es Deutschland also gelänge, seine Emissionen massiv zu reduzieren, hätte dies auf dem Papier nur geringe Auswirkungen auf das Weltklima. Über die Nachahmer-Effekte in anderen Ländern wäre die Wirkung in Wahrheit aber viel größer.

Es ist dies ein wenig beachteter Effekt der Klimakonferenzen. Scharm al-Scheich ist in diesen Tagen nicht nur ein Ort der Verhandlungen. Sondern auch eine riesige Messe für grüne Technologien und Konzepte. Bei Gesprächen im deutschen Pavillon werden womöglich mehr Emissionen eingespart als in mancher offiziellen Delegierten-Runde.

Hamburg

Am Mittwochabend vergangener Woche sitzt Carla Rochel in der ZDF-Talkshow Markus Lanz. Die Redaktion hatte bei der Letzten Generation angefragt, ob jemand aus der Gruppe in die Sendung kommen wolle. »Wir haben das gemeinsam diskutiert. Die Wahl fiel dann auf mich«, sagt Rochel.

In der Sendung geht es zunächst um die tote Radfahrerin, den Kartoffelbrei auf dem Gemälde und die in Lanz’ Augen eher lächerlichen Forderungen der Gruppe: Tempo 100 auch auf Autobahnen und das 9-Euro-Ticket, bundesweit. Dann, nach einer halben Stunde, kommt es zu der Szene, die in den Tagen danach in den sozialen Medien geteilt und diskutiert werden wird.

Markus Lanz sagt, an Carla Rochel gerichtet: »Sie sitzen hier mit zwanzig. Sie müssten optimistisch sein. Sie müssten Zutrauen haben in die Fähigkeiten von Menschen. Sie müssten Zutrauen haben in die Fähigkeit zur Anpassung. Unsere ganze Menschheitsgeschichte hindurch ist eine Geschichte der Anpassung. Uns als Spezies hat erfolgreich gemacht, dass wir uns angepasst haben, immer wieder.«

Carla Rochel schaut auf den Boden.

Markus Lanz: »Ich nerve Sie gerade.« Carla Rochel: »Ja.« Markus Lanz: »Sagen Sie, warum!«

Carla Rochel: »Wir können uns nicht an ein so schnell veränderndes Klima anpassen.«

Markus Lanz: »Doch!«

Carla Rochel: »Was die Wissenschaftler sagen, ist, dass wir gerade bei irgendwas zwischen 2,5 und 4 Grad sind. Auf dem Weg sind wir. Vier Grad werden wir nicht mehr erleben, weil die Welt in Bürgerkriegen versinkt. Und ...«

Lanz beugt sich vor, unterbricht: »Woher wissen Sie das so genau?«

Carla Rochel: »Das ist das, was die Wissenschaftler uns sagen.«

Und dann fragt Lanz: »Aber woher wissen denn die Wissenschaftler das?«

Später wird Carla Rochel sagen, in diesem Moment sei sie fassungslos gewesen.

Man muss an dieser Stelle ergänzen, dass Lanz nicht unrecht hat. Die Geschichte der Menschheit ist tatsächlich eine Geschichte der Anpassung an unterschiedliche klimatische Bedingungen. Es gab Wärmeperioden, es gab Kälteperioden, die Menschheit hat überlebt. Nur waren schon diese Anpassungsprozesse mit Kriegen, Revolutionen und Hungersnöten verbunden. Außerdem hat sich das Klima nie zuvor in so kurzer Zeit so stark verändert wie jetzt.

In den Stunden nach der Sendung, sagt Carla Rochel, habe sie auf Twitter und Instagram Hunderte Nachrichten erhalten.

In vielen von ihnen stand: Wie kann ich bei euch mitmachen?

Nach eigener Aussage hat die Letzte Generation inzwischen mehr als 500 Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Fast täglich werden es mehr. Manche machen sich nicht einmal mehr die Mühe, auf der Internetseite der Gruppe auf den »Schließ Dich uns an«-Button zu klicken. Sie steigen einfach in den Zug nach Berlin und wollen dabei sein. Die Gruppe hat für ihre Leute inzwischen reihenweise Wohnungen angemietet. Dazu kommen die Ausrüstung für die Aktionen, die Prozesse und Geldstrafen, die manche Aktivisten nicht selbst tragen können. All das kostet.

In der Bild-Zeitung stand kürzlich die Schlagzeile: »Jetzt spenden Öl-Erben an radikale Klima-Chaoten«. Gemeint war vor allem eine Öl-Erbin: Aileen Getty, Enkelin des Erdöl-Magnaten Jean Paul Getty, der 1976 starb. Aileen Getty ist Mitbegründerin des Climate Emergency Fund, einer vor drei Jahren in Kalifornien ins Leben gerufenen Organisation, die Klimaaktivisten auf der ganzen Welt finanziell unterstützt. Aileen Getty gibt an, eine Million Dollar an den Fund gespendet zu haben. Adam McKay, Regisseur der Klimapolitik-Satire Don’t Look Up, gab sogar vier Millionen. Auch Rory Kennedy, eine Erbin der Kennedy-Familie, hat sich beteiligt.

Nach eigenen Angaben hat der Fund 3,5 Millionen Dollar an elf Organisationen aus verschiedenen Ländern überwiesen, auch an die Letzte Generation.

Scharm al-Scheich

Jennifer Morgan begrüßt ihren Gast mit einer innigen Umarmung. Es ist ein kleiner, älterer Herr, der, wenn er über das Konferenzgelände geht, immer nur schrittweise vorankommt. Mal spricht ihn ein Professor aus Harvard an, mal ein Reporter, und immer wieder sind es Delegierte aus Entwicklungsländern, die dem 70-jährigen Shaleemul Huq einfach nur die Hand schütteln wollen.

Der Klimawissenschaftler Huq ist als Beobachter in Scharm al-Scheich, aber er berät auch die 46 am wenigsten entwickelten Länder der Welt bei den Verhandlungen, darunter sein eigenes: Bangladesch.

Wie Jennifer Morgan war auch Shaleemul Huq bei allen bisherigen Klimakonferenzen dabei. Trotz aller Enttäuschung sieht er auch Fortschritte. »Die Klimakonferenzen sind der einzige Moment im Jahr, an dem die Regierungsvertreter der Reichen auf Augenhöhe mit uns reden und uns zuhören«. Huq sagt, inzwischen hätten alle Regierungen eingesehen, dass sie die Emissionen reduzieren müssten. »Es geht nur darum, wie und wie schnell sie es tun.« Jene Länder, die am meisten von der Klimakrise betroffen seien, könnten nicht warten.

In Scharm al-Scheich wird in diesen Tagen vor allem darüber gesprochen, in welchem Ausmaß die wohlhabenden Länder den armen Ländern Kompensation für die Auswirkungen des Klimawandels zu leisten haben. Denn für den bisherigen Temperaturanstieg auf der Erde sind neben China in erster Linie früh industrialisierte Länder verantwortlich, die als Erste mit dem Verbrauch fossiler Brennstoffe begannen. Deutschland belegt auf dieser Liste den vierten Rang.

Was das Ergebnis dieser Gespräche angeht, ist Huq nicht besonders optimistisch. »Die Vertreter der reichen Länder werden wie schon häufig dafür sorgen, dass die Konferenz länger dauert als geplant. Dann sind viele Vertreter ärmerer Länder schon abgereist, weil sie sich einen längeren Aufenthalt nicht leisten können. Und dann ist das Ergebnis schwach oder das Ganze wird vertagt«, sagt Huq.

Nicht lange nachdem Jennifer Morgan ihr Amt als deutsche Sonderbeauftragte für internationale Klimapolitik angetreten hatte, reiste sie nach Bangladesch. Huq hatte sie eingeladen, sie war noch nie dort gewesen. Morgan besuchte ein Dorf am Meer und sprach mit Frauen, die durch Überschwemmungen ihr Zuhause verloren hatten und ihre Babys in Booten zur Welt bringen mussten. Sie sah einst fruchtbare Äcker, auf denen nichts mehr wuchs, weil sie versalzen waren. Als sie abreiste, schoss sie ein Foto von den zum Abschied winkenden Männer und Frauen. Es hängt heute in ihrem Büro im Auswärtigen Amt.

Berlin

Am Donnerstag vergangener Woche bewegen sich am Berliner Flughafen 13 Menschen auf ein schmales Gebäude direkt am Rollfeld zu. Es ist der Terminal für Privatflugzeuge. An den Fenstern kleben die Namen zweier Privatjet-Anbieter: »Windrose Air Jet Charter« und »Luxaviation Group«. Die Maschinen von Windrose zum Beispiel erreichen laut der Website des Unternehmens Ziele in bis zu 11.500 Kilometer Entfernung und bieten 7 bis 13 Personen Platz, die Preise beginnen bei 3000 Euro pro Stunde. Das Unternehmen schreibt: »Selbst spontane Charterflüge ermöglichen wir in der Regel innerhalb von 90 Minuten.« Der Privatflugzeug-Terminal ist ein Ort für Menschen mit wenig Zeit und viel Geld. Jeden Tag starten hier bis zu 70 Maschinen.

Die 13 Männer und Frauen haben nun das Gebäude erreicht. Eine von ihnen ist Susanne Koch, Anästhesistin und Privatdozentin an der Charité. Sie streift einen weißen Kittel über, setzt sich auf den Boden und hält ein Banner empor, auf dem steht: »Privatjets verbieten«. Auf einem zweiten Banner steht: »Stoppt den fossilen Wahnsinn«.

Die Aktivisten sprechen jetzt abwechselnd durch ein Megafon: Flüge mit Privatjets sollen verboten, Vielflieger besteuert werden. Journalisten vom Rundfunk Berlin-Brandenburg sind da, von der dpa und der taz, Fotografen machen Bilder.

Die Aktivisten gehören nicht zur Letzten Generation, sondern zu einer Gruppe, die sich Scientist Rebellion nennt. Alle der nach eigenen Angaben 130 Mitstreiter in Deutschland haben mindestens einen Bachelor, viele sind promoviert, auch Professoren sind unter ihnen.

Susanne Koch hat schon an Sitzblockaden vor dem Bundeswirtschafts- und dem Bundesverkehrsministerium teilgenommen und vor der VW-Autostadt in Wolfsburg demonstriert. Sie selbst fliegt nicht mehr, zu Fachkonferenzen fährt sie entweder mit dem Zug, oder sie bleibt zu Hause. Während sie das erzählt, zitiert ein anderer Aktivist eine Untersuchung der europäischen Nichtregierungsorganisation Transport & Environment. Demnach kann ein vierstündiger Flug im Privatjet so viele Emissionen verursachen wie ein europäischer Durchschnittsbürger in einem ganzen Jahr.

Auf dem Rollfeld startet ein Privatjet vom Typ Gulfstream G650 in die indische Stadt Hyderabad. Kurz danach landet der Berliner Immobilienunternehmer und Millionär Jakob Mähren, der am Tag zuvor auf seinem Instagram-Account noch ein Bild aus Kitzbühel veröffentlicht hat. Mitarbeiter des Flughafens schleusen ihn an der Sitzblockade vorbei durch einen Nebenausgang aus dem Gebäude. Mähren geht kurz zu den Aktivisten, filmt die Gruppe mit dem Handy, versieht das Video mit einem Kotz-Emoji und postet es bei Instagram. Dann lässt er sich in einer schwarzen Limousine wegfahren.

Die 13 Männer und Frauen diskutieren nun, ob sie die Blockade verschärfen und auch den Nebeneingang versperren sollen. Sie stimmen ab und entscheiden sich dagegen, der Protest sei von vornherein eher symbolisch gedacht gewesen, auch Susanne Koch sieht das so. Die meisten Kameraleute und Journalisten sind da längst verschwunden, nachdem sie gemerkt hatten, dass es hier, anders als bei den Straßenblockaden in der Stadt, kein Schubsen, kein Geschrei zu beobachten gibt.

Man kann an diesem Vormittag einiges über die Mechanismen von politischem Aktivismus lernen. Vermutlich wird einerseits ein Großteil der Bundesbürger für den Protest gegen Privatflugzeuge deutlich mehr Verständnis aufbringen als für Straßenblockaden. Andererseits bekommt von einer Aktion vor einem Randgebäude des Flughafens kaum jemand etwas mit. Und wenn es auch beim nächsten Mal keinen Krawall gibt, werden die Journalisten beim übernächsten Mal womöglich gar nicht mehr vorbeikommen.

Susanne Koch und die anderen stehen auf und gehen zurück zur Haupthalle des Flughafens. Mit der Bahn fahren sie nach Hause. Zwei Polizisten folgen ihnen bis ans Gleis.

Es gibt Fridays for Future, es gibt die Letzte Generation, es gibt Scientist Rebellion. Es gab 26 Klimakonferenzen. Trotzdem wird sich die Erde nach derzeitigem Stand um mindestens 2,4 Grad erwärmen. Man kann sagen: Die Politik hat es nicht geschafft, die Emissionen ausreichend zu begrenzen. Und die Aktivisten haben es nicht geschafft, diese Politik zu ändern. Also noch mal: wofür das Ganze?

Eine Antwort haben am 24. März 2021 die vier Frauen und vier Männer des Ersten Senats im Verfassungsgericht Karlsruhe gegeben. Sie stellten fest, dass die Bundesregierung ihrer Pflicht, die deutschen Treibhausgas-Emissionen zu senken, nicht nachkomme. Die bisherigen Maßnahmen reichten nicht aus. Das aber beeinträchtige die Freiheit und die körperliche Unversehrtheit zukünftiger Generationen. Ein Recht, das im zweiten Artikel des Grundgesetzes garantiert ist.

Mit anderen Worten: Das Gericht stellte den Kampf gegen die Klimakrise unter besonderen Schutz. Das Verfassungsgericht tat das, was die Aktivisten seit Jahren tun: Es forderte die Politik auf, die eigenen Ziele durchzusetzen. Die Folgen zeigten sich vergangene Woche in einem Flensburger Gerichtssaal.

Flensburg

Philipp Austermann steht zwischen den wenigen Bäumen, die vom Bahnhofswald übrig sind. Ein Mann Anfang 40, von Beruf Programmierer und Angehöriger der Fraktion »Bündnis solidarische Stadt« in der Flensburger Ratsversammlung. Fünf Monate, zwischen Oktober 2020 und Februar 2021, hat er hier in den Kronen gelebt, nachdem Investoren verkündet hatten, das kleine Waldstück inmitten von Flensburg roden zu lassen, um ein Hotel und ein Parkhaus zu bauen. Die Letzte Generation besetzt Straßen, Austermann hat Bäume besetzt.

Mitte Februar 2021 sah es noch gut aus für ihn, die Oberbürgermeisterin suggerierte, es werde keine polizeiliche Räumung geben. Doch in der nächsten Nacht schickten die Investoren einen privaten Trupp mit Kettensägen los. Der sägte die besetzten Bäume an, ein paar Zentimeter tief, gerade so viel, dass die Bäume notgefällt werden mussten, gut 35 insgesamt.

Mehr als anderthalb Jahre später, am 7. November 2022, steht Austermann vor Gericht. Die Anklage: Hausfriedensbruch.

Austermanns Ziele für den Prozess sind bescheiden, wird er später erzählen. Ziel Nummer eins, die beste Variante: die Einstellung des Verfahrens wegen Geringfügigkeit. Sollte das nicht klappen, will er, Ziel Nummer zwei, erreichen, dass er die fällige Geldstrafe an eine gemeinnützige Organisation statt an die Staatskasse entrichten kann. Sollte auch daraus nichts werden, bleibt noch Ziel Nummer drei: der Richterin und dem Staatsanwalt die Mittagspause vermasseln. Das Verfahren beginnt um neun Uhr. Austermann will es in die Länge ziehen. Er bereitet ein zehnseitiges Eingangsstatement vor.

Als es losgeht, sagt er später, sei er so aufgeregt gewesen, dass er sein Alter falsch angab, als die Richterin ihn danach fragte.

Sein Eröffnungsplädoyer liest er vor. »Sofern ich mich also auf einem dieser Bäume befunden haben sollte«, heißt es darin, »dann aus einem einzigen Grund: um größeren Schaden von der Gesellschaft abzuwenden. Sollte ich jemals auf einem Baum wohnen oder gewohnt haben, dann keinesfalls, um irgendeinem Menschen persönlich zu schaden, sondern ganz im Gegenteil. Auf einem todgeweihten Baum zu sitzen – und davon bin ich aus tiefstem Herzen überzeugt – ist nichts anderes als solidarische Notwehr in Zeiten der Klimakatastrophe.«

Austermann war deshalb sicher, in einem rechtfertigenden Notstand wie in Paragraf 34 des Strafgesetzbuches gehandelt zu haben. Austermann lacht, als er davon erzählt. »Ich weiß nicht mehr, wo ich Paragraf 34 das erste Mal aufgeschnappt habe, vielleicht bei einer Diskussion am Lagerfeuer.« Es ist dieselbe Stelle im Gesetz, auf die sich auch der Aktivist Henning Jeschke bei seiner Verhandlung in Berlin berufen hat.

Unterschiedliche Gerichte kommen mitunter zu unterschiedlichen Urteilen. Die Juristen sind sich – noch – uneins, wie die Aktionen der Letzten Generation zu bewerten sind. In Berlin hat ein Richter einen Strafbefehl abgelehnt. Bisher wurden die meisten Mitglieder der Gruppe, die Straßen blockiert hatten, aber zu Geldstrafen verurteilt. In Bayern sitzen sogar 13 Aktivisten längerfristig in präventivem Polizeigewahrsam.

Am späten Vormittag steht in Flensburg zunächst fest: Ziel drei, das mit der Mittagspause, wird Austermann wohl nicht erreichen. Die Richterin zieht sich zur Urteilsfindung zurück. In ihrer Begründung wird sie später erklären, dass sie den Hausfriedensbruch als erwiesen betrachte, den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts aber so verstehe, dass auch Klimaschutz ein Rechtsgut von Verfassungsrang sei und somit nach Paragraf 34 im Einzelfall geschützt werden könne.

»Diesen Wald zum Ziele des Klimaschutzes vor Abholzung zu schützen war ein Interesse, welches zu diesem Zeitpunkt schwerer wog als das Interesse der Investoren am Hotelneubau. Um die Erhaltung des Waldes zu schützen, war die Tat, nämlich das Verweilen in einem Baum, auch ein geeignetes und angemessenes Mittel.«

Als sie wieder in den Saal tritt, erhebt sich Austermann. Die Richterin bedeutet ihm, sich zu setzen, dann spricht sie ihn frei.

Laura Cwiertnia, Alexandra Endres, Martin Machowecz, Katharina Meyer zu Eppendorf, Lena Niethammer, Petra Pinzler, Yannick Ramsel, Ricarda Richter, Stefan Schmitt, Wolfgang Uchatius

Foto: Marcus Glahn für DIE ZEIT; Annegret Hilse/Reuters; Ahmad Gharabli/AFP/Getty Images