Wohnen mit Kindern

Tim Gill Stadtforscher

Wie können Städte kinderfreundlicher werden? Der Brite Tim Gill erklärt Stadtplanern, was Kindern in Städten heute am meisten fehlt. Hier verrät er außerdem, warum er deutsche Spielplätze großartig findet Von Friederike Milbradt

Herr Gill, ich bin auf dem Land aufgewachsen. Ich habe Verstecken in Maisfeldern gespielt, bin auf Kuhstalldächer geklettert und mit meinem Pony ausgeritten. Mein Sohn erlebt eine ganz andere Kindheit in Berlin – zwischen unserer Wohnung mit kleinem Garten, Kita, Spielplatz und gelegentlichen Ausflügen. Mit seinen vier Jahren kann er zwar noch nicht allein raus, aber ich sorge mich jetzt schon, dass er eine viel unfreiere und langweiligere Kindheit hat und haben wird als ich. Ist das einfach das Schicksal von Stadtkindern?

Ich hatte eine ähnliche Kindheit wie Sie. Und die Tatsache, dass ich diese Freiheit, die Sie beschreiben, kenne, war das Sprungbrett zu meiner Arbeit. Ich glaube, auch Stadtkinder können diese Freiheit erleben, wenn die Voraussetzungen stimmen. Wenn das Viertel, in dem sie aufwachsen, Plätze für sie hat, wo sie spielen, ihre Freunde treffen und ihre Fantasie benutzen können. Und wenn die Kinder dort einfach und selbstständig von A nach B kommen, zu Fuß oder mit dem Fahrrad.

Vor Kurzem haben Sie als Stadtforscher ein neues Buch herausgebracht – »Urban Playground: How Child-Friendly Planning and Design Can Save Cities«. Es handelt davon, wie Städte kinderfreundlicher werden können. Worunter leiden Kinder in Städten am meisten?

Unter dem Verkehr und seinen Gefahren. Dass Autos unsere Städte dominieren, finden wir auf der ganzen Welt ja normal – das ist ein großes Problem. Luftverschmutzung und Lärmbelästigung kommen hinzu und haben einen größeren Effekt auf Kinder als auf Erwachsene. Kinder sind so etwas wie ein Frühwarnsystem in Städten. Dort, wo viele Kinder draußen zu sehen sind, kann man darauf schließen, dass es ein gesundes Viertel ist. Genauso wie es ein Indikator ist, dass, wenn viele Lachse einen Fluss hinaufschwimmen, dieser Fluss ein gesundes Habitat für die Lachse ist.

Heute leben 55 Prozent der Menschen in Städten, 2050 werden es Schätzungen zufolge 70 Prozent sein. Es ist also wichtig, dass sich Städte den Kindern schnell besser anpassen.

Ja, unsere Welt wird immer urbaner, vor allem gilt das für die ärmeren Länder. Länder wie Deutschland oder Großbritannien sind bereits sehr urban, da passiert in den nächsten 30 oder 40 Jahren nicht so viel. Aber die Städte in Afrika, Asien und Südamerika werden sich stark verändern. Auch dort müssen die Kinder irgendwie zur Schule kommen, und von dort stammen besonders erschreckende Zahlen, was Verkehrsunfälle angeht. Weltweit sind sie die zweithäufigste Todesursache für Kinder im Alter von 5 bis 14 Jahren.

Welche Städte sind besonders kinderfreundlich?

Wir könnten jetzt über Kopenhagen sprechen, über das wir ja wissen, dass Familien dort gerne leben. Ich interessiere mich aber vor allem für die Städte, die versuchen, kinderfreundlicher zu werden. Rotterdam zum Beispiel. Es war mal eine sehr unbeliebte Stadt, die vom Auto abhing. Dort hat man verstanden, dass die Stadt attraktiver für Familien werden muss, weil sie sonst keine Zukunft hat. Die Strategie war also, Familien wieder in die Stadt zu locken – mit Spielplätzen, viel Grün, sichereren Straßen, besseren Geh- und Radwegen, Schulhöfen, die auch für die Öffentlichkeit geöffnet werden. Und diese Strategie geht auf.

Und in Deutschland?

Vauban, ein Quartier von Freiburg, ist ein Idealbeispiel: Es ist fast autofrei, die Plätze zwischen den Häusern sind grün und zum Spielen und Verweilen angelegt. Es ist bemerkenswert, wie viele Kinder aller Altersgruppen dort draußen herumlaufen und spielen, zum Teil auch ohne ihre Eltern.

Wenn man an Orte für Kinder denkt, sind das zuerst Spielplätze. Würden Sie meinen Sohn fragen, bräuchte er die Geräte dort allerdings gar nicht. Viel lieber als zu schaukeln oder zu rutschen, läuft er durch die angrenzenden Büsche und spielt zum Beispiel, dass er ein Dinosaurier auf der Jagd ist. Sind Spielplätze überbewertet?

Das sind sie. Sie sind Reservate für Kinder, sie sagen: Hier könnt ihr spielen, aber da drüben nicht! Sie verdeutlichen, dass Kinder in Gefahr sind. Und auch aus diesem Grund wurden sie erfunden – weil in Städten so viele Kinder von Autos überfahren wurden. Ich möchte jetzt nicht dafür plädieren, dass wir keine Spielplätze mehr bauen, aber das Konzept eines eingezäunten, künstlich angelegten Spielplatzes sollten wir überdenken. Ich muss allerdings dazu sagen: In Deutschland sind viele Spielplätze wirklich gut. Man hat da verstanden, die Natur in die Spielplätze zu integrieren, mit Baumstämmen, Felssteinen und Wasserspielen zum Beispiel. Grundsätzlich ergibt es aus meiner Sicht aber keinen Sinn, wertvolle Flächen in der Stadt zu unterteilen: Da ist ein Areal für Kinder, da eins für ältere Menschen, und nebenan essen die Büroangestellten ihre Sandwiches. Das ist eine sehr ineffiziente Weise, öffentlichen Raum zu gestalten. Wir brauchen Raum, der für alle gleichzeitig gut funktioniert.

Wo funktioniert das gut?

Auf der Plaza Nueva in der Altstadt von Bilbao etwa. Drumherum gibt es Läden im Erdgeschoss der Wohnhäuser, es sind viele Sitzgelegenheiten vorhanden. Vor allem freitag- und samstagabends ist es dort sehr lebhaft. Die Menschen halten sich auf dem Platz auf, ohne dafür extra einen Kaffee kaufen zu müssen. Kinder spielen, Teenager treffen sich. Er ist sehr kinderfreundlich, obwohl dort nicht ein einziges Spielgerät steht. Das zeigt: Wenn man lebendige, einladende und sichere Plätze ohne Verkehr hat, Plätze, wo die Menschen auch wohnen, dann können das tolle Orte sein.

Der Verkehr ist überall der größte Negativfaktor?

Ja. Wir müssen lernen, unser Auto weniger zu benutzen, auch wegen des Klimawandels. Und Kinder leiden nun mal am meisten unter autodominierten Städten. Jeder, dem Kinder am Herzen liegen, sollte dafür eintreten, dass der Autoverkehr reduziert wird und die Wege in Städten einfacher zu Fuß und mit dem Fahrrad zurückgelegt werden können.

In Ihrem Buch bilden Sie eine Satellitenaufnahme der englischen Großstadt Sheffield ab. Darauf ist eingezeichnet, über welche Strecken sich achtjährige Kinder vier verschiedener Generationen derselben Familie allein vom Elternhaus fortbewegen durften: knapp zehn Kilometer im Jahr 1919, rund anderthalb Kilometer 1950, einen knappen Kilometer 1979 und nur 300 Meter im Jahr 2007.

Dieses Modell gibt es ähnlich auch in anderen Ländern, es ist sehr eindrucksvoll. In Deutschland haben die Kinder über die Generationen hinweg nicht ganz so viel Freiheit eingebüßt wie in Großbritannien, aber natürlich sind auch in Deutschland die Kinder heutzutage eingeschränkter als früher. Mittlerweile ist aber immerhin ein Bewusstsein dafür da: Man fragt sich, was diese große Einschränkung für die Kinder bedeutet. Und es passiert etwas: Es gibt immer mehr kindgerechte Orte, immer mehr Eltern setzen sich etwa dafür ein, dass Straßen zu Spielstraßen werden, immer mehr Waldkindergärten entstehen. Erwachsene begreifen also, dass Kinder Abenteuer erleben sollten und dass Städte besser für Kinder funktionieren müssen.

Wie genau schadet es Kindern, wenn sie nicht genügend Freiheit haben?

Kinder immer vor Gefahren zu beschützen bedeutet, sie wichtiger Erfahrungen zu berauben. Kinder müssen lernen, wie sie in herausfordernden und unsicheren Situationen auf sich selbst aufpassen können. Sie müssen lernen, was passiert, wenn sie zu schnell rennen, zu hoch klettern oder hinfallen. Kinder müssen auch die Erfahrung machen, sich mit anderen Kindern streiten zu können, ohne dass Erwachsene sofort einschreiten. Damit sie begreifen, dass sie selbst Probleme lösen können.

Wenn man nicht in einem besonders kinderfreundlichen Viertel wohnt: Was würden Sie Eltern raten, wie die Bedürfnisse ihrer Kinder trotzdem gestillt werden?

Ich möchte Eltern eigentlich nicht sagen, wie sie ihren Job machen sollen. Meine Rolle ist es, Entscheider, Politiker und Stadtplaner dazu zu bringen, es Eltern leichter zu machen. Damit Eltern eine größere Auswahl für ihre Kinder haben, ihnen mehr Freiheit zu geben. Aber ich würde Eltern wohl darauf hinweisen, dass es leicht passieren kann, sich von Angst leiten zu lassen. Es herrscht ein wachsendes Klima der Angst. Dafür gibt es aber eigentlich keinen Grund, weil die Welt heute ein sicherer Ort ist als früher. Ich würde Eltern also nahelegen, die Zügel etwas zu lockern, den Kindern ein bisschen mehr Freiheit zu geben. Sie beispielsweise mal allein zum Laden um die Ecke gehen zu lassen.

Wie können Städte schnell etwas für Kinder tun?

Diese Frage ist vor allem eine moralische, keine technische. Die Frage, wer die Straßen wie nutzen sollte, wird sehr kontrovers diskutiert. Ich glaube, die erfolgreichsten Modelle sind die, bei denen die Aufmerksamkeit auf die Kinder gerichtet wird. Ein Beispiel ist das Schulstraßen-Modell. Die Idee ist, dass die Straßen um Schulen herum verkehrsberuhigt werden, damit Kinder leichter zur Schule gehen oder mit dem Rad fahren können. In Paris wird das Schulstraßen-Modell mittlerweile bei 150 Schulen angewandt. Es ist kostengünstig, einfach und hat einen großen Effekt. Wenn also jeder sehen kann, was für einen enormen Unterschied eine kleine Veränderung für das Leben der Kinder macht, lässt sich dagegen schlecht argumentieren.

Welche Erfahrungen dürfen Kinder aus Ihrer Sicht auf keinen Fall missen?

Da fallen mir viele Dinge ein. Besonders wichtig ist, dass Kinder das Gefühl erleben, auch mal aus dem Sichtfeld der Erwachsenen zu sein. Ganz junge Kinder sind dann vielleicht nicht wirklich unbeobachtet, aber es ist wichtig, dass sie glauben, es zu sein. Dass Kinder merken, dass die Ängste der Erwachsenen nicht mehr da sind und sie selbst die Kontrolle haben. Außerdem gefällt mir die Idee, dass Kinder täglich mit der Natur interagieren sollten. Dass sie eine emotionale Verbindung zur Welt haben. Das sind die Bausteine für eine gesunde Kindheit.

Ihre Tochter ist in London geboren und jetzt 23 Jahre alt. Wie ist sie aufgewachsen?

Ihre Mutter und ich haben versucht, ihr so viel Freiheit wie möglich zu geben. Wir haben uns für ein Leben in London entschieden, auch wegen unserer Tochter. In Walthamstow, unserem Viertel, ist es nicht sehr grün, aber ihre Schule war nicht weit entfernt, sie konnte zu Fuß dorthin gehen, auch zu ihren Freunden in der Nachbarschaft. Die Straßen um unser Haus herum sind verkehrsberuhigt. Und wir konnten ihr mit London jene Vorteile bieten, die man in einer Stadt hat: viel Kultur. Meine Tochter lernte schon früh die Sehenswürdigkeiten Londons kennen. Heute fühlt sie sich auf jeden Fall als Londonerin. Sie ist stolz darauf und absorbiert die Energie und die Kreativität einer großen Stadt.

Und wie haben Sie Ihre Kindheit verbracht?

Wir sind viel umgezogen, mein Vater arbeitete für die Armee. Ich bin die ersten Jahre in Vorstädten aufgewachsen. Irgendwann ließen wir uns in Haddenham nieder, einem großen Dorf mit viel Natur herum, nordwestlich von London. Mit acht Jahren bin ich allein durch den Ort gezogen, mit zehn so weit mit dem Fahrrad rausgefahren, wie ich wollte. Das ganze Dorf war mein Spielplatz. Meine Freunde und ich sind Skateboard gefahren, haben eine Rampe vor unserem Haus gebaut. Meine Erinnerungen an diese tägliche Freiheit sind sehr lebhaft. Heute erleben viele Kinder und Jugendliche ihre größten Abenteuer in Computerspielen oder den sozialen Medien. Und das ist die Herausforderung: in der echten Welt wieder Abenteuer für Kinder zu ermöglichen.

Tim Gill, 57, ist in Bedford geboren. Er hat in Oxford Philosophie und Psychologie studiert und arbeitet freiberuflich als Wissenschaftler, Autor und Berater zum Thema Kindheit in Politik und Stadtplanung – für Städte wie London, Dublin und Tirana. Im Februar erschien sein Buch »Urban Playground: How Child-Friendly Planning and Design Can Save Cities«. Mit seiner Partnerin lebt er in London, die beiden haben eine Tochter

Foto Tami Aftab

Tim Gill in London. Er wünscht Kindern mehr von der Freiheit, die er selbst erlebte – er wuchs auf dem Dorf auf