»Das Anthropozän ist auch eine Geschichte der Unterdrückung«
DIE ZEIT: Herr Scherer, wenn Sie auf unsere Gegenwart schauen, wie geht es Ihnen?
Bernd Scherer: Ich habe genug zu essen, eine Wohnung, ich treffe Freunde. Mir geht es gut. Aber die Fragilität der Welt, die verursacht mir Übelkeit.
ZEIT: Was genau meinen Sie?
Scherer: Die schmutzigen Seiten unseres Wohlergehens haben wir lange in andere Weltteile ausgelagert. Jetzt kommen sie zu uns zurück. Als Energiekrise. In Gestalt des Klimawandels. Es gibt kein Außen mehr, wohin wir die Nebenwirkungen unseres Handelns verlagern können. Willkommen im Anthropozän!
ZEIT: Anthropozän – wofür steht der Begriff?
Scherer: Wir haben das Holozän verlassen, das vor etwa 12.000 Jahren begann. Das Zeitalter war durch ein mildes, stabiles Klima gekennzeichnet, in dem die menschliche Zivilisation gedeihen konnte. Für die Epoche danach hat der Nobelpreisträger Paul Crutzen den Begriff Anthropozän vorgeschlagen, das Zeitalter des Menschen. Die Geologen in der International Commission of Stratigraphy haben daraufhin eine Arbeitsgruppe eingerichtet, die Anthropocene Working Group. Sie sollte die dem Begriff zugrunde liegende These überprüfen.
ZEIT: Wie lautet diese These?
Scherer: Zunächst geht es um den Nachweis, dass sich das menschliche Handeln in den Erdschichten abbildet. Damit verbunden ist die Erkenntnis von Erdsystemwissenschaftlern, dass sich wesentliche Parameter des Erdsystems in einer exponentiellen Beschleunigung verändern und dass dabei der Planet aus der Balance gerät. CO₂-Anstieg, Versauerung der Meere, Artensterben, Zahl der Mobiltelefone, Weltwirtschaft – alles!
ZEIT: Wir sprechen also beim Anthropozän von einem ganz jungen Erdzeitalter?
Scherer: Die massiven Veränderungen setzen Mitte des 20. Jahrhunderts ein, als mit der sogenannten Großen Beschleunigung Ressourcen- und Energieverbrauch exponentiell nach oben schossen. Das ist die menschliche Zeitachse. Der Planet hat eine andere: Die Energie für die Beschleunigung stammt aus fossilen Ressourcen – Erdöl, Erdgas, Kohle – und aus atomaren Quellen. Es hat Milliarden von Jahren gedauert, um in biochemischen Prozessen die fossilen Energien einzulagern, die wir Menschen jetzt verfeuern. Und die Lagerung radioaktiver Abfälle wird uns auf Abertausende von Jahren in der Zukunft beschäftigen.
ZEIT: Das diskutieren wir schon lange. Was ist am Reden übers Anthropozän neu?
Scherer: Dass wir die großen Zusammenhänge nicht mehr ignorieren können! Durch das Zusammenspiel der verschiedenen Faktoren entsteht eine neue Qualität, die etwa der Begriff des Klimawandels allein nicht umfasst. Der war erst nur im Globalen Süden zu spüren. Jetzt bemerken wir ihn auch hier: Dürre, Fluten, extreme Hitze – und Menschen, die aus Afrika zu uns kommen, weil dort Ackerland verloren geht. Böden, Migration, Klima, das kommt hier alles zusammen.
ZEIT: Wie kommen Sie bei dieser Gemengelage als Philosoph und Kulturwissenschaftler ins Spiel?
Scherer: Im Begriff des Anthropozäns fließen Natur- und Kulturwissenschaft zusammen. Seit dem 19. Jahrhundert ist naturwissenschaftliches Wissen prägend für unser Verständnis von Realität. Nun kommen Naturwissenschaftler zu der Erkenntnis, dass ihr Gegenstand gar nicht die reine Natur ist. Erd- und Menschheitsgeschichte vermischen sich in einer Form, die eine neue Beschreibung und ein neues Wissen nötig macht. In enger Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte haben wir die Zusammenarbeit zwischen Aktivisten, Künstlerinnen und Wissenschaftlern eingeübt. Und wir haben als Kulturinstitution über zehn Jahre intensiv mit der Anthropocene Working Group zusammengearbeitet. Wir wollten ganz aus der Nähe die Arbeit jener Experten verfolgen, die das Anthropozän geologisch definieren.
ZEIT: Wie genau arbeitet diese Gruppe?
Scherer: Es gibt ein sehr strenges Protokoll, wenn man ein neues Erdzeitalter ausrufen will. Zunächst mussten global Belege für eine menschengemachte Sedimentschicht gefunden werden. Dafür wurden an zwölf Orten der Welt Bohrkerne genommen und auf unterschiedliche Marker hin untersucht. Plutonium etwa, das sich wegen der Atomwaffentests der Fünfzigerjahre überall findet. Plastik spielt eine große Rolle, Stickstoff und natürlich Kohlenstoff. Ein bestimmtes Muster dieser Marker muss sich überall auf der Erde wiederfinden.
ZEIT: Jetzt ist aus vielen Kandidaten einer ausgewählt worden, der repräsentativ für das neue Zeitalter steht: ein Bohrkern aus den Sedimenten des Crawford Lake in Kanada. Was macht ihn zum Ur-Ort des Anthropozäns?
Scherer: Der See ist ein einzigartiges Erdarchiv. An den Ringen des Bohrkerns lässt sich der Beginn des Anthropozäns auf das Jahr genau bestimmen.
ZEIT: Hat die Menschheit nun ihr eigenes Erdzeitalter, ganz offiziell?
Scherer: Noch nicht ganz. Vor der endgültigen Formalisierung des Anthropozäns müssen dem Vorschlag noch mehrere Gruppen zustimmen, die International Commission of Stratigraphy etwa, wo kontrovers über den Vorschlag gestritten wird.
ZEIT: Unabhängig davon sind die Folgen der Entwicklung spürbar. Ihr Beginn wurde um das Jahr 1950 festgelegt. Ist das nicht etwas willkürlich?
Scherer: In dieser Zeit beginnt die Phase der Großen Beschleunigung, die durch exponentielles Wachstum geprägt wird. Aber das Anthropozän fällt Mitte des vergangenen Jahrhunderts natürlich nicht vom Himmel. Es hat eine Vorgeschichte, in der sich Denkweisen und Handlungsmuster ausbilden. Grundlegend sind Technologien, durch die aus dem Denken neue und materielle Welten geschaffen werden konnten. Zum Beispiel die euklidische Geometrie. Die bezog sich nicht auf die Realität, sondern auf ideale Gegenstände.
ZEIT: Es gibt in der realen Welt kein perfektes Dreieck, weil die Realität immer vom Ideal abweicht?
Scherer: Ja. Menschen haben in der Antike Werkzeuge entwickelt, die wir an die Realität anlegen und mit denen wir zugleich Realität konstruieren können. Damit beginnt eine permanente Interaktion menschlichen Denkens mit natürlichen Prozessen. Ohne dieses Denken hätte es keine Landkarten gegeben! Denn Vermesser abstrahieren von den realen Bedingungen, um räumliche Entfernungen zu bestimmen. Man kann damit ganze Kontinente vermessen, ohne sich mit den konkreten sozialen und politischen Prozessen vor Ort zu beschäftigen. Die gesamte Kolonisierung der Erde durch europäische Gesellschaften lief genau nach diesem Muster ab, in Nord- und Südamerika, in Indien, in Afrika.
ZEIT: Welche anderen Stationen sind auf dem Weg ins Anthropozän noch wichtig?
Scherer: Die Erfindung der Dampfmaschine im 18. Jahrhundert. Sie steht am Anfang der industriellen Revolution und des massenhaften Verbrauchs fossiler Energie. Oder die Entwicklung des Haber-Bosch-Verfahrens zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es ermöglichte die Herstellung von Stickstoffdünger, mit dem die Landwirtschaft industrialisiert wurde. Als Mary Shelley 1816 den Roman Frankenstein begann, hatte ein Vulkanausbruch in Indonesien in Europa ein Jahr ohne Sommer ausgelöst. Dies führte zu Engpässen in der Nahrungsmittelversorgung. In der Folge wurde stickstoffreicher Vogelkot als Dünger entdeckt. Er musste aber von den Küsten Südamerikas importiert werden. Im Jahr 1910 ließ sich dann die BASF ein Verfahren patentieren, um künstlich Stickstoffdünger herzustellen, eine Sternstunde der Menschheit. »Brot aus Luft« hieß es damals, später erhielt Carl Bosch dafür den Nobelpreis. Derselbe chemische Prozess wurde allerdings auch benutzt, um Sprengstoff herzustellen. Ohne ihn wäre der Erste Weltkrieg wohl schneller vorbei gewesen.
ZEIT: Fluch und Segen zugleich.
Scherer: Ja, ohne künstlichen Stickstoff hätte es katastrophale Hungersnöte gegeben. Heute aber sind große Teile unserer Landschaft überdüngt, das ist mitschuldig am weltweiten Artensterben.
ZEIT: Das konnte man damals nicht ahnen. Ist das ein typisches Muster im Anthropozän?
Scherer: Die entscheidende Frage lautet: Wie gehe ich mit dem Wissen um, dass ich nie alles über einen Gegenstand weiß? Es beginnt schon damit, wie man sich als Mensch auf dieser Erde sieht. Bin ich ein Akteur, der einfach draufloslebt? Oder betrachte ich mich als Gast und bemühe mich, umsichtig zu handeln? Das ist in unseren Konsumgesellschaften nur schwer möglich. Wir haben uns an Extreme gewöhnt, die uns jetzt blockieren. Zum Beispiel an all die Autos, die täglich 23 Stunden lang in der Stadt stehen, um eine Stunde gefahren zu werden.
ZEIT: Was steckt hinter dieser Gewöhnung?
Scherer: Wir wollen Macht haben über natürliche Prozesse. Wer friert, versucht mit Energie Abhilfe zu schaffen. Probleme entstehen aber immer dann, wenn Prozesse, die im lokalen Kontext funktionieren, auf planetarer Ebene überall eingesetzt werden.
ZEIT: Beim Schutz der Ozeane oder des Klimas gibt es doch keine Alternative zum globalen Handeln.
Scherer: Ich sehe das eher als gefährliches Symptom, dass wir uns durch Großtechnologien und Infrastrukturen die Welt so gebaut haben, dass wir permanent globale Lösungen brauchen. Jeder Infarkt, der irgendwo entsteht, hat fast immer weltweite Konsequenzen.
ZEIT: Die Menschheit ist nun einmal so stark vernetzt, ob man das jetzt gut findet oder nicht.
Scherer: Die Vernetzung soll ja beibehalten werden! Sie kann sogar ökonomische, politische und soziale Prozesse in kleineren Einheiten befördern. Wir sind in manchen Bereichen längst auf einem Weg dahin, nehmen Sie die Energieversorgung in Europa. Die wird durch Wind und Solar lokaler und unabhängiger. Es geht mir nicht darum, in die Vormoderne zurückzugehen. Sondern vor allem darum, für einen anderen Wissensbegriff zu sensibilisieren.
ZEIT: Anders inwiefern?
Scherer: Erstens: Wir brauchen eine Demokratisierung des Wissens. Wer betroffen ist von der Anwendung des Wissens, sollte mitreden können. Zweitens: Wir müssen die Fragmentierung von Wissen überwinden. Nehmen Sie die Pandemie: Da haben Ökonomen und Politologinnen, Epidemiologinnen und Virologen geforscht. Aber sie haben sich nicht richtig verständigen können, jede Disziplin hat eine eigene Sprache. Ich glaube, künstlerische Prozesse spielen eine zentrale Rolle, um Fragmentierung zu überwinden. Künstler sind nicht dazu gezwungen, unter disziplinären Grenzziehungen auf eine Realität zu schauen. Ihre Zugangsweisen sind zwar subjektiv, dafür aber ganzheitlich.
ZEIT: Im Klima- und Naturschutz wird gerade viel über indigenes Wissen gesprochen ...
Scherer: ... das lange bekämpft und als irrelevant ausgeschlossen wurde! Wenn wir sagen: Es braucht mehr Wissen, anderes Wissen, drückt das ein Defizit der westlichen Moderne aus. Unsere Weltsicht ist nicht nur die Folge der Anhäufung von Wissen, sondern auch die des Ausschlusses von Wissen.
ZEIT: Damit sind wir bei der Gewalt, mit der ab Mitte des vergangenen Jahrtausends die Europäer allen anderen ihre Weltsicht überstülpten.
Scherer: Es stimmt: Man kann unsere Zeit und ihre Probleme kaum verstehen, wenn man nicht mitdenkt, dass der Wohlstand hier in Europa und den USA zu einem großen Teil auf der Ausbeutung anderer Länder beruht. Das Anthropozän ist auch eine Geschichte der Unterdrückung von Natur und Mensch. Ich habe immer noch die Bilder einer Reise entlang des Mississippi vor Augen. Am Unterlauf des Flusses stehen heute petrochemische Anlagen auf dem Land früherer Plantagen. Die Nachfahren der Sklaven von damals atmen heute die Raffinerie-Abgase. Die Ausbeutung mag andere Formen annehmen, aber in ihrem Kern ändert sie sich nicht.
ZEIT: Sie haben den Prozess der Formalisierung des Anthropozäns mehr als ein Jahrzehnt begleitet, Ausstellungen organisiert, Treffen auf verschiedenen Kontinenten veranstaltet. Aber mal ehrlich: Ist die Erkenntnis, dass der Mensch zur dominierenden Kraft geworden ist, nicht vollkommen banal?
Scherer: Überhaupt nicht! Denn mit dieser Erkenntnis kommt eine Verantwortung auf uns zu, die es in dieser Radikalität zuvor nie gegeben hat.
Das Gespräch führten Fritz Habekuß und Maximilian Probst
Bernd Scherer, Philosoph und Kulturwissenschaftler, leitete bis Dezember 2022 das Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Ab September arbeitet er am Max-Planck-Institut für Geoanthropologie in Jena