Glockenlos durch die Nacht

Ihr Dom bedeutet den Magdeburgern viel, sehr viel. Nur leider ist er zu leise. Das will eine Initiative nun ändern  VON AUGUST MODERSOHN

Wenn Martin Groß erzählen soll, wieso er sich dafür einsetzt, dass der Magdeburger Dom neue Glocken bekommt, dann sagt er zunächst, er müsse jetzt vorsichtig formulieren. Er wolle ja niemanden verletzen. Und schon gar nicht wolle er einen Kirchenstreit anzetteln.

Aber, na ja, das Ganze sei nun einmal folgendermaßen gekommen: Er habe sich vor einigen Jahren mit einem alten Freund unterhalten, der in Magdeburg ganz in der Nähe des Doms wohne. Und dieser Freund habe sich beschwert: Immer höre er die stählernen Glocken von St. Sebastian, der viel kleineren katholischen Kirche nebenan, und nie den Dom, die Predigtkirche des Landesbischofs der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland, das Wahrzeichen der Stadt!

Die Magdeburger lieben ihren Dom. Viele geraten ins Schwärmen, wenn sie über die Kathedrale sprechen. Sie ist die wichtigste Sehenswürdigkeit hier. Man kann T-Shirts und Tassen kaufen, auf denen steht: »Home is where the Dom is«.

Nur hat der Dom ein Problem: Er hat zu wenige Glocken, nämlich vier. Was dazu führt, dass eben selbst die kleinere Kirche nebenan lauter erklingt. Die ist zwar auch alles andere als unbedeutend, immerhin ist sie die Bischofskirche des katholischen Bistums Magdeburg. Aber der Dom ist der Dom.

Martin Groß, 70, engagiert sich seit Jahrzehnten ehrenamtlich für ihn. Nun will er, dass der Dom in voller Pracht ertönt. Er hat sich dafür mit anderen Magdeburgerinnen und Magdeburgern zusammengetan. Gemeinsam sind sie, unausgesprochen, eine Wette eingegangen: Wenn wir es schaffen, auf eigene Faust neue Glocken zu besorgen – sollte es dann nicht auch gelingen, sie tatsächlich aufzuhängen? So ganz banal ist das nicht. Denn auch das wird noch einmal richtig teuer. Aber der Reihe nach.

Es ist ein warmer Nachmittag in Magdeburg, draußen knallt die Sonne, im Dom ist es schön kühl. Dort steht Andreas Schumann, er ist Landtagsabgeordneter der CDU und der Vorsitzende des Domglockenvereins, den Martin Groß ins Leben gerufen hat. Seit 1988 lebt Schumann in Magdeburg, sein Vater war Kirchenmusiker, seine Frau leitet heute die Dombläser, er selbst spielt hier als gelernter Musiker auch gelegentlich Posaune. »Der Dom«, sagt er, während er die Treppen im Glockenturm hinaufsteigt, »ist schon ein bisschen wie mein zweites Zuhause.«

Oben angekommen zeigt Schumann auf eine der Glocken. Die Apostolica, so ihr Name (aus dem Lateinischen zu übersetzen als »Lasst uns vergeben«), läutet von den beiden großen derzeit am häufigsten, zweimal am Tag. Auch jetzt setzt sich die Glocke in Bewegung, wird elektronisch angetrieben, fast fünf Tonnen Bronze, gegossen im Jahr 1690. Ein riesiger Klöppel schlägt gegen den Klangkörper, ein lauter Ton erklingt, erhaben und klar. »Die Apostolica bräuchte dringend mal eine Pause«, sagt Schumann. Der Klöppel müsste restauriert werden.

Die insgesamt vier Glocken (von denen aktuell nur drei im Einsatz sind) machen einen Job, den eigentlich viel mehr zu erledigen hätten. Wie viele es einmal genau waren, das sei nicht überliefert, sagt Schumann. Aber zwölf, die Zahl der Apostel Christi, diese Zahl sei eines Domes wie des Magdeburgers würdig. Und das will sein Verein auch erreichen: zwölf Glocken im Dom. Acht müssen sie dafür also neu herstellen lassen. Nächstes Jahr im Frühling, so hofft Schumann, sollen die Glocken da sein.

Schumann hat den Verein 2018 mit gegründet, inzwischen hat er 176 Mitglieder, die meisten von ihnen Magdeburger Bürgerinnen und Bürger. Sie haben das Projekt selbst in die Hand genommen, weil der Eigentümer des Doms, die Kulturstiftung des Landes, kein Geld dafür hat. Also machten sich Schumann, Groß und Co. auf die Suche nach Spendern. Insgesamt brauchen sie rund 800.000 Euro, annähernd die Hälfte haben sie schon beisammen. Es gibt Mäzene, die Geld geben, die Ostdeutsche Sparkassenstiftung hat sich auch schon beteiligt, und viele Bürger spenden Kleinstbeträge.

»Wir sind das derzeit größte Glockenprojekt in Europa«, sagt Schumann, und das klingt natürlich fast ein bisschen drollig, weil man ja gar nicht mal so viele Glockenprojekte kennt. Aber Schumann ist eben stolz.

Es gehe, sagt er, um mehr als den Dom. Es gehe um Anerkennung. Darum, die eigene Stadt schöner, attraktiver, spannender zu machen. Ihr und ihrem Dom im ganzen Land mehr Bekanntheit zu verschaffen. Das Projekt tue dem Ansehen Magdeburgs gut, glaubt Schumann.

»Fast wären wir Kulturhauptstadt 2025 geworden, fast wäre der Dom Weltkulturerbe geworden. Ich kann dieses ›fast‹ irgendwann nicht mehr hören«, sagt er. »Es wäre gut, wenn man versteht, dass hier in Magdeburg eigentlich der bedeutendste Dom Deutschlands steht.«

Das könnte man nun als Hybris abtun. Man könnte sich aber auch die Geschichte des Doms anschauen, und die ist tatsächlich beeindruckend: Er ist der älteste gotische Dom des Landes, 1363 geweiht, 1520 endgültig fertiggestellt, und er ist die Grablege von Otto dem Großen. Während des Dreißigjährigen Kriegs diente die Kathedrale den Magdeburgern als Zufluchtsort. Der Legende nach sind von rund 35.000 Einwohnern nur diejenigen verschont geblieben, die sich in die Kathedrale flüchteten, als die Stadt zerstört wurde. Während dieses Krieges verlor der Dom auch sein Geläut, die Glocken wurden eingeschmolzen, zur Herstellung von Kanonen.

Viel später dann, während des Zweiten Weltkriegs, wurde der Dom von mehreren Bomben getroffen, der Wiederaufbau verlief ziemlich schleppend. Martin Groß, der heute für neue Glocken kämpft, sang hier in der Nachkriegszeit als Domchorknabe. Damals, erzählt er, habe es nicht einmal eine Hauptorgel gegeben, denn die war bei den Luftangriffen zerstört worden.

Wieder später, im Herbst 1989, wurde der Dom erneut Zufluchtsort, bei den Friedensgebeten tummelten sich von Woche zu Woche mehr Leute. 5000 kamen am Ende offiziell, 10.000 waren es wirklich – zumindest sagen das jene, die dabei waren.

»Immer wenn ich Führungen gebe, frage ich in die Runde, ob jemand aus Köln dabei ist«, sagt Martin Groß. »Weil ich weiß, dass ich dann aufpassen müsste, was ich sage.« Die Kölner haben ja selbst einen weltberühmten Dom. Aber Groß meint, der Magdeburger Dom sei mindestens genauso besonders. Und deshalb habe er auch mehr Aufmerksamkeit, mehr Wertschätzung verdient. »Man stelle sich einmal vor, der Kölner Dom hätte nur vier statt elf Glocken! Das geht nicht, das kann man sich nicht vorstellen!«

Es ist nicht das erste Mal, dass Martin Groß sich für die Kathedrale einsetzt. 2008 bekam sie endlich die lang ersehnte Hauptorgel wieder. Groß war es, der auch dieses Projekt initiierte. Schon damals sammelte er mit seinen Mitstreitern Geld auf eigene Faust. Und sie bekamen genug zusammen.

Genau das soll ihm und seinen Vereinskollegen jetzt wieder gelingen. Im Frühjahr, so der Plan, werden sechs, vielleicht sogar sieben Glocken gegossen. Die achte, die teuerste und massivste (sie wäre auch die zweitschwerste Glocke in Deutschland überhaupt, nach dem »Dicken Pitter« im Kölner Dom), wird zu dem Zeitpunkt voraussichtlich noch nicht finanziert sein.

Und auch ein anderes, viel wesentlicheres Problem gibt es da noch: Wenn das neue Geläut einmal da ist, was ist dann eigentlich mit den Türmen des Doms? Die müssten nämlich noch saniert werden, sie brauchen neue Decken, um die Glocken überhaupt tragen zu können. Das Geld dafür will der Verein nicht auch noch sammeln müssen. Die Kulturstiftung des Landes, so lautet das Kalkül, wäre dann unter Zugzwang.

Das sei derzeit aber nicht finanzierbar, heißt es von der Stiftung. Man sei knapp bei Kasse, stecke jährlich bereits etwa 800.000 Euro in den Dom. Das zusätzliche Geld für den Ausbau der Türme – rund 1,5 Millionen Euro – sei einfach nicht da.

Martin Groß weiß um die Probleme. Er findet aber, der Dom brauche, wie gesagt, mehr Wertschätzung. Auch finanzielle. Er hofft offenbar auf die Macht des Faktischen: Wenn die Glocken einmal da sind, gespendet von enthusiastischen Bürgern, kann es sich das Land dann leisten, sie auf dem Kirchboden stehen zu lassen? Tatsächlich werden sie, so ist der Plan, zunächst einmal in das Nordseitenschiff des Doms gestellt. Sechs oder sieben Glocken, vielleicht sogar acht, direkt neben dem Eingang. Bei diesem Anblick, meint Martin Groß, werde jedem das Herz aufgehen. Und dann würden sich schon Wege finden, die Glocken hoch in die Türme zu bringen.

Es gibt Mäzene, die Geld geben, und viele Bürger spenden Kleinstbeträge.

Foto: ddp

Der Magdeburger Dom ist das wichtigste und auffälligste Wahrzeichen der Stadt.