Jobber auf dem großen Treck

Tausende US-Amerikaner verlassen ihr Zuhause und leben im Auto. Manche Arbeitgeber werben gezielt um diese mobilen Kräfte VON HEIKE BUCHTER

Es sind vielleicht zweihundert Zuhörer, die an diesem Januarmorgen auf Campingstühlen ausharren, in der grellen Sonne der Mojave-Wüste. Die Mehrheit ist schon älter, viele haben Gehstöcke bei sich, einige sogar Rollatoren. Sie sind in diese abgelegene Region des Bundesstaates Arizona gekommen, um einem Mann zuzuhören: Bob Wells.

Mit seinem runden Gesicht und dem langen Bart sieht der 62-Jährige aus wie ein sonnenverbrannter Weihnachtsmann. Er ist der Initiator des »Rubber Tramp Rendezvous«, kurz RTR: eines jährlichen Treffens von Menschen, die in mobilen Heimen leben und auf den jeweiligen Stellplätzen arbeiten oder in der Nähe. »Workamping« nennt sich das auch, also halb arbeiten und halb Camping. Wells ist ein Workamper der ersten Stunde.

Für ihn fing es vor über 20 Jahren an, als er nach einer Scheidung pleite war. Mit seinem letzten Geld kaufte er einen gebrauchten Lieferwagen und begann darin zu leben. Arbeit fand er in einem Safeway-Supermarkt. Zunächst blieb er in Anchorage, Alaska, wohnen, in der Nähe seiner Ex-Frau und der beiden Söhne. Doch er fand Gefallen an seiner neuen Lebensart. Inzwischen ist er ein selbst ernannter Missionar. »Für mich ist das mobile Leben der Goldschatz am Ende des Regenbogens«, erklärt er wortgewaltig.

Wells hat tatsächlich eine wachsende Gefolgschaft. Wie viele Workamper es im Land gibt, darüber hat niemand eine Statistik. Doch fragt man in der Szene herum, sind sich alle einig, dass ihre Zahl stetig steigt. 2010 organisierte Wells das erste RTR, und es kamen bloß 45 Freunde und Bekannte. Vergangenes Jahr machten bereits 500 Camper mit. In diesem Januar zählten die Wildhüter des Schutzgebiets, in dem das Treffen stattfindet, über 3000 RTR-Teilnehmer. Wells’ Videoblog-Beiträge, in denen er Tipps für das mobile Leben gibt, sehen sich regelmäßig über 130 000 Zuschauer an.

Zum diesjährigen RTR rollen die Teilnehmer in Wohnmobilen an, auf denen Namen wie »Prairie Schooner« stehen. Sie kommen in Lieferwagen, ausrangierten Pferdetransportern und Skoolies, wie man hier Schulbusse nennt, die zu Eigenheimen umgebaut werden. Man trifft Minimalisten wie Suanne. Die Großmutter, die das RTR mitorganisiert, lebt seit eineinhalb Jahren in ihrem Auto. Oder wie sie es selbst formuliert: »aus dem Auto heraus«. Denn eigentlich sei nun die Natur ihre Wohnung.

In ihrem weißen Toyota Prius nutzt sie jeden Zentimeter aus. Auf einer Seite des Wagens hat sie eine Liegefläche geschaffen, die die Hälfte des Kofferraums und des Rücksitzes einnimmt. Die andere Hälfte des Rücksitzes dient ihr als Büro, dort arbeitet sie an ihrem Laptop.

Lagerarbeit, Parkplatzwache, Rübenernte: Die jobbenden Camper sind gefragt

Suanne vermisst in ihrem Leben »ein Klo mit Wasserspülung«. Wenn sie ihren Prius nicht auf einem Campingplatz mit Toilette parkt, pinkelt sie in einen Joghurtbecher. Dann füllt sie den Inhalt in eine alte Waschmittelflasche, bis sie alles ordentlich entsorgen kann. Viele RTR-Teilnehmer sind stolz auf ihre Fahrzeuge und zeigen gerne, wie sie es schaffen, alles darin zu ermöglichen, was ein gewöhnliches Zuhause bietet. Die Aussteiger kommen aus allen Branchen und Berufen. Da sind der ehemalige Besitzer eines Friseursalons und die quirlige Endfünfzigerin, die bis zur Pensionierung Polizistin war. Da ist der Baustellenleiter sowie der Manager einer Fluggesellschaft, der sich nun als mobiler Kreativer im Online-Marketing verdingt. Ein ehemaliger Bibliothekar aus New York ist dabei genauso wie der Betonmischer aus Alaska.

Viele von ihnen sind in die Gegend gekommen, weil sie hoffen, einen Job für die kommenden Monate zu sichern. Gleichzeitig mit dem RTR findet im nur einige Kilometer entfernten Ort Quartzsite eine große Wohnmobilmesse statt. Über 250 000 Besucher kommen jährlich dorthin. In der Nebensaison, im Sommer, wenn die Temperaturen 50 Grad Celsius erreichen können, wohnen dort nur 3500 Leute, aber während der Wintermonate schwillt der Ort an. Dann stehen Tausende Wohnmobile von sogenannten snowbirds hier, Rentnern, die dem Winter in kälteren Orten entfliehen.

Bei der jährlichen Wohnmobilschau haben Anbieter von mobilen Solarsystemen, Generatoren und aufklappbaren Fahnenmasten ihre Stände aufgeschlagen – und auch Anwerber, die im Auftrag von Unternehmen Arbeitskräfte suchen.

Bis vor einigen Jahren waren die typischen Workamper Rentner, die in den Sommermonaten als Platzwarte oder Fremdenführer im Einsatz waren. Im Gegenzug bekamen sie einen freien Stellplatz für ihr Wohnmobil und ein kleines Entgelt. So wie Judy, die im Messezelt für Jobs beim Vergnügungspark Adventureland in Iowa Werbung macht. Sie will ihren Nachnamen nicht nennen, erzählt aber, dass sie und ihr Mann nach ihrer Pensionierung vor 14 Jahren begannen, dort zu arbeiten.

Nach wie vor stellen Senioren den größten Anteil an den Workampern. Bei vielen älteren Amerikanern reicht die Altersvorsorge nicht, rund 19 Prozent der über 65-Jährigen arbeiten zumindest in Teilzeit. So viele waren es zuletzt vor der Einführung der staatlichen Renten und Krankenversicherung in den sechziger Jahren. Doch seit der Finanzkrise 2008, als Millionen ihre Jobs und viele dazu noch ihr Heim verloren, stießen immer mehr Jüngere hinzu. Laut dem Magazin Workamper News liegt das Durchschnittsalter der modernen Wanderarbeiter inzwischen bei 53 Jahren.

Mittlerweile nutzen auch Arbeitgeber wie Amazon diese Entwicklung. Der Online-Einzelhändler heuert gezielt Workamper für sein Vorweihnachtsgeschäft an. An großen Logistikzentren in Kentucky und Tennessee stellt Amazon Stellplätze für sie bereit. Für einen Stundenlohn von 11,50 Dollar erwartet die Firma laut Jobbeschreibung die Fähigkeiten, »bis zu 22 Kilo zu heben, zehn bis zwölf Stunden zu stehen/zu laufen und häufig zu schieben, ziehen, hocken, beugen und strecken«.

Trotz der harten Bedingungen sind viele Workamper immer wieder dabei. Wer die Saison komplett durcharbeitet, bekommt einen Bonus von zusätzlich einem Dollar pro gearbeiteter Stunde. Durch Überstunden lässt sich der Verdienst noch weiter erhöhen. So bilden sich Reserven für magerere Monate. Campingplätze und Resorts, die die meisten Jobs für Workamper bieten, zahlen sieben bis neun Dollar die Stunde und bieten oft keine Vollzeitstellen. Die Bewerber seien hoch motiviert, sagt der Anwerber am Amazon-Stand.

Auf die willigen und mobilen Arbeitskräfte sind inzwischen auch andere Unternehmen aufmerksam geworden. J. C. Penney etwa hat einen Vertreter nach Quartzsite geschickt. Die Modekette hat vor, Workamper für drei ihrer Standorte anzuheuern, und der Mann soll hier Interessenten finden. Kein Problem, sagt er. Seine Liste enthalte nach einem Tag bereits über hundert Namen von Interessenten.

Zu den beliebtesten Arbeitgebern gehören die Zuckerrübenfarmer. Für die Ernte im Oktober, die in der Regel 14 Tage dauert, holt die American Crystal Sugar Company, eine Kooperative von über 3000 Farmern, mehr als 1700 Workamper nach North Dakota und Minnesota. Ohne sie könnten die Rüben nicht eingebracht werden, sagt Scott Lindgren, der Leiter des Rekrutierungsprogramms. Vor Ort gibt nicht genug Arbeitskräfte dafür.

Gezahlt wird ab 13 Dollar die Stunde. Rob Milroy und seine Frau Karen waren im Herbst dabei. Milroy war 25 Jahre bei der US-Küstenwache. Nach der Pensionierung arbeitete der 64-Jährige in einem Warenlager, um seine Rente aufzubessern. Doch er wurde arbeitslos, und seither ist das Ehepaar als Workamper unterwegs. Die Rübenernte war einer ihrer ersten mobilen Jobs. Beim abendlichen RTR-Lagerfeuer zeigt Karen stolz, wie sie im Führerhaus einer kranartigen Maschine sitzt, die die Rüben auf meterhohen Stapeln ablagert.

Zehn Tage lang sprechen die RTR-Teilnehmer über Erfahrungen, über Jobs, Campingplätze und Reiserouten. Vieles dreht sich um praktische Belange. Es gibt eine Tauschbörse für Kleidung, Seminare zum Umgang mit Behörden, zum Bau von Solarsystemen, Selbstverteidigungskurse für Frauen. Man redet über Freundschaft und Solidarität – über Armut, Krankheit und Einsamkeit spricht niemand gern.

Sie fühlen sich ausgebeutet, von einem Gehalt könne keine Familie mehr leben

Doch es gibt Hinweise auf die dunkle Seite der mobilen Existenz, etwa die handgeschriebene Kontaktanzeige, die an einem improvisierten schwarzen Brett hängt. Dort sucht ein Veteran der Navy eine weibliche Mitfahrerin. Sie soll ihn pflegen. Er habe Krebs im Endstadium. »Wenn meine Zeit gekommen ist, gehört das Wohnmobil dir.«

Für viele Workamper in Not ist der RTR-Organisator Bob Wells eine Anlaufstelle geworden. Lange habe er versucht, Hilfesuchenden aus eigenen Mitteln zu helfen, sagt er. Doch der Bedarf übersteige inzwischen seine Möglichkeiten. Jetzt will er mit Spenden seiner Anhänger eine Art Hilfsmission für »Rubber Tramps« gründen. Hilfe von staatlicher Seite erwartet er schon lange nicht mehr. Die gescheiterte Gesundheitsreform sei nur das jüngste Beispiel dafür, dass sich die Politik vom Bürger abwende.

Wie viele der modernen Wanderarbeiter kann sich auch er keine Krankenversicherung leisten. »Die Regierung hat uns in die Gosse gekickt und überlässt uns unserem Schicksal«, sagt er.

»Der Regierung« geben viele hier die Schuld an einem System, das ihnen ihre bürgerliche Existenz unmöglich gemacht hat. Auch Laura Meyers. Bevor die 56-Jährige ihren Sprinter-Lieferwagen zu ihrem Heim machte, war sie 30 Jahre lang Fernfahrerin, steuerte Tieflader, Autotransporter, Kühllaster über die Highways quer durchs Land. Truckerin wurde sie, nachdem ihr Sohn als Kind schwer erkrankte und ihr Teilzeitjob bei einer US-Fluggesellschaft weder Krankenversicherung noch sonstige Hilfe bot. Fernfahrer wurden damals gut bezahlt. Ihr Gehalt reichte, um ihren beiden Kindern ein ordentliches Zuhause zu geben, sagt sie.

Doch in den vergangenen Jahren musste sie spitz kalkulieren, um noch mit den 40 Cent auszukommen, die ihr für eine Transportmeile bezahlt wurden. Gleichzeitig stieg der Druck: Immer mehr Vorschriften. Präsident Obama etwa habe eine Begrenzung der Fahrzeiten für die Trucker erlassen. Die Liefertermine würden von den Speditionen jedoch so eng getaktet, dass sie unter Einhaltung der Regeln oft gar nicht zu schaffen seien. Das Risiko trügen die Fahrer.

Für Meyers sind die bedrängten Trucker nur ein Beispiel dafür, wie in den USA die Arbeiter ausgebeutet werden. Von einem normalen Gehalt könnten Familien nicht mehr leben, sagt sie, und weil beide Eltern ständig arbeiteten, würden die Kinder in staatlichen Schulen und Krippen erzogen. »So haben sie uns unter Kontrolle«, setzt sie hinzu.

Bis zur Krise 2008 gehörte es zum American dream, ein eigenes Haus zu besitzen. Die monatliche Kreditrate drückte, aber es war schwer vorstellbar, freiwillig darauf zu verzichten. 2005, auf der Höhe der Immobilienblase, erreichte die Wohnungseigentumsquote in den USA fast 70 Prozent (in Deutschland waren es 52 Prozent). Seitdem ist die Eigentumsquote auf 64 Prozent gesunken, wo sie trotz der wirtschaftlichen Erholung seit Jahren stagniert.

Nach den Gründen für ihren Abschied vom festen Wohnsitz gefragt, rechnen viele Workamper vor, wie viel sie das Wohneigentum gekostet hat. Es ist nicht nur der Kredit. Um sich ein Eigenheim leisten zu können, ziehen viele in die weitere Umgebung und nehmen lange Fahrten zur Arbeit in Kauf. Durchschnittlich sind amerikanische Pendler heute 30 Minuten lang zwischen Arbeit und Wohnort unterwegs, fast doppelt so lange wie vor 30 Jahren. Außerhalb der Metropolen gibt es so gut wie keinen öffentlichen Nahverkehr, also sind die meisten auf das Auto angewiesen. Das wiederum erhöht die Lebenshaltungskosten.

Am Ende arbeite man nur, um zu wohnen, sagt Justin Burke. Der 32-Jährige will ein solches Dasein vermeiden. Wie sein Vater vor ihm fing er gleich nach der Highschool bei Chrysler an. Zehn Jahre arbeitete er in der Autofabrik. Als zunehmend Jobber angeheuert wurden, die für weniger Lohn arbeiteten, sah Burke keine Zukunft mehr dort. Er kündigte und zog nach Denver, wo er für den Fahrdienst Uber arbeitet.

Er ist zum RTR gekommen, um seine künftige Existenz als Wanderarbeiter vorzubereiten. Burke und die anderen Teilnehmer sind nicht allein mit ihren Zweifeln an den Verheißungen von Besitz und Konsum, nach denen so viele Amerikaner lange strebten. Ihre Antwort – der Verzicht auf einen festen Wohnsitz – ist eine der radikalsten, die es in den USA gibt. »Das hier«, sagt Burke und zeigt auf die Wohnwagen, Busse und Transporter, die zwischen den Saguaro-Kakteen stehen, »das hier ist eine Rebellion.«

Fotos: Jake Michaels/The New York Times

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