Kernkraft for Future?

Gibt Deutschland aus ideologischen Gründen die Chance aus der Hand, einen Atomreaktor zu bauen, der sicher und billig CO₂-freie Energie erzeugen könnte? Ja, sagen seine Entwickler. Keineswegs, entgegnet ein Kritiker: Die Ingenieure versprechen zu viel

»Eine Demokratie, in der nicht gestritten wird, ist keine.«

HELMUT SCHMIDT
JA. Unser Reaktor könnte Atommüll verbrennen

Es fällt mir und meinen Kollegen nicht leicht, aber wir müssen uns mit diesem Text leider aus Deutschland verabschieden. Wir tun es mit einiger Enttäuschung. Die vergangenen zwölf Jahre haben wir hier in Berlin damit verbracht, einen neuen Typ von Kernreaktor zu entwerfen, seine Funktionsweise durchzurechnen, sein Design in Computermodellen immer wieder zu prüfen. Wir sind uns sicher, damit die Energieerzeugungsform der Zukunft in den Händen zu halten: einen Reaktor, der Atommüll verbrennt und dabei auch noch erheblich sicherer und effizienter arbeitet als bisherige Kernkraftwerke. Er hätte, anders als die unserer Meinung nach verfehlte Energiewende, das Zeug, Deutschland zu einem CO₂-neutralen Industrieland zu machen.

Patentschutz für das technische Design haben wir, ein Team aus promovierten Kernphysikern, Mathematikern und Ingenieuren, zwar schon vor einigen Jahren bekommen, auch in Deutschland. Bloß politische Unterstützung gab es nicht. Im Gegenteil, wir stießen immer wieder auf ideologische Barrieren, bei den großen Fraktionen im Bundestag genauso wie im Management großer Stromkonzerne.

Deshalb haben wir vergangenes Jahr unseren Firmensitz nach Kanada gelegt. Die dortige Regierung glaubt an die Zukunft der Kernenergie, auch aus ökologischen Gründen. Das hilft uns nicht nur dabei, Investoren zu gewinnen, sondern öffnet uns die Möglichkeit, einen Prototyp zu bauen. Wenn alles so gelingt, wie wir glauben, werden wir in womöglich schon acht Jahren einen Reaktor ans Netz geben können. Wir sind überzeugt davon, dass es ein technologischer Durchbruch wäre.

Was macht unseren Dual-Fluid-Reaktor aus? Um es so vereinfacht wie möglich zu erklären: In heutigen Druckwasser-Atomkraftwerken wird fester Uran-Brennstoff eingesetzt, um Kettenreaktionen in Gang zu setzen. Neutronen treffen auf Atomkerne, was wiederum neue Neutronen freisetzt, was Wärme erzeugt, wie in jedem Reaktor. Das Problem dabei: In den Brennelementen werden pro Nutzungszyklus nur fünf Prozent des Urans verbraucht. Der Rest landet irgendwann als Atommüll im Zwischenlager.

Unser Reaktor wird ganz anders funktionieren: Statt Brennstäben wird in seinem Kern geschmolzenes Uran verwendet, mit einer Temperatur von etwa 1000 Grad, während die Wärme über flüssiges Blei abgeführt wird. Zwei Flüssigkeiten, daher »Dual Fluid«. Das hat mehrere Vorteile: Weil sich die Neutronen in dem flüssig-heißen Uran und Blei deutlich schneller und mit mehr Energie bewegen, spalten sie fast alle Uran-Atome auf. Als Brennstoff ist daher Spaltmaterial geeignet, das in herkömmlichen Druckwasserreaktoren nicht mehr verwendbar ist. Das bedeutet: Wir können Atommüll als Brennstoff nutzen. Die Radiotoxizität der Spaltprodukte, die am Ende übrig bleiben, baut sich rasch ab und erreicht nach 300 Jahren das Niveau von Natur-Uran.

Der zweite Vorteil besteht darin, dass sich die Kettenreaktion durch den flüssigen Zustand des Urans selbst reguliert: Je heißer der Brennstoff wird, desto mehr dehnt sich die Flüssigkeit aus – und damit der Raum zwischen den Atomen; was wiederum zu einer Verlangsamung der Kettenreaktion führt. Die Reaktorleistung passt sich damit ganz von selbst dem Strombedarf an. Eine Kernschmelze wie in Tschernobyl ist dadurch ausgeschlossen.

Die Grundidee für diesen Reaktortypus ist nicht einmal neu. Schon in den Sechzigerjahren hatten Kerntechniker in den USA einen Salzschmelze-Reaktor gebaut, der funktionierte. Leider traf Präsident Richard Nixon dann eine, wie wir finden, historische Fehlentscheidung: Da das Projekt keinen militärischen Zusatznutzen barg, ließ er es wieder fallen. Letztlich blieb es bei den leidlich bewährten Druckwasserreaktoren mit Brennstäben. Deswegen sind diese Reaktortypen leider zum Standard geworden, auch in Deutschland.

Natürlich, wir brauchen jetzt die Erprobung, noch fehlen Sicherheitsstudien. Wir müssen unseren Reaktor bauen. In Deutschland geht das nicht, denn seit dem Atomausstieg von 2011 heißt es hier für uns »Edeka«, Ende der Karriere. Ingenieure bei Eon, RWE und Siemens, in deren Büros wir das Reaktordesign vorgestellt haben, waren zwar beeindruckt. Aber in den Management-Etagen trafen wir auf verkrustete Strukturen, in denen niemand mehr Interesse an Neuem hat.

Mittlerweile ist die leider einzige Partei in Deutschland, die unser Projekt unterstützenswert findet, die AfD. Um es offen zu sagen: Ich selbst habe die AfD-Fraktion im Bundestag bis Ende 2021 zu kerntechnischen Fragen beraten, auf Grundlage eines Mitarbeitervertrages. Andere Parteien sind ja schlicht nicht zu einem Wiedereinstieg in die Kernenergie bereit. Diese Situation gefällt uns natürlich nicht, zumal wir keine politischen Aktivisten, sondern interessierte Wissenschaftler und Ingenieure sind, aber ohne das faktische Berufsverbot, das uns in Deutschland auferlegt ist, wäre diese Lage vermutlich nie entstanden. Aus Sicht von uns Technikern sollte es niemanden überraschen, dass wir die nuklearpolitischen Positionen der AfD teilen.

Die mittlerweile 75 Aktionäre und Investoren aus aller Welt, die uns beim Bau des Reaktors unterstützen wollen, tun das auch deswegen, weil sie die enormen Sprünge sehen, die unsere Technologie für eine Reduktion von CO₂-Emissionen bedeuten würde. Auch das Nachbarland Polen interessiert sich für unser Reaktorkonzept. Am nationalen Kernforschungszentrum befassen sich mehrere Doktoranden damit.

Denn der dritte Vorteil unseres Reaktors ist der Erntefaktor. Er beschreibt das Verhältnis der Energie, die das Kraftwerk abwirft, zu der Energiemenge, die man zum Bau, Betrieb und Rückbau eines Kraftwerks braucht. Der Erntefaktor unseres Reaktors wäre weitaus höher als der aller anderen Energieerzeugungsformen und sein Strom so billig, dass man damit große Mengen Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe zu kleinen Preisen herstellen könnte. Der Umstieg auf emissionsfreie Industrie und Mobilität und die Pariser Klimaziele wären mit ihm um ein Vielfaches günstiger zu haben als mit der Energiewende, wie sie gerade in Deutschland angegangen wird. Wir glauben übrigens nicht, dass diese Wende funktionieren wird. Aber aus irgendeinem Grund schmelzen die Deutschen vor diesem attraktiv erscheinenden Irrweg dahin.

Natürlich kann man uns entgegenhalten: Computermodelle sind schön und gut. Aber wer weiß, wie sich die Materialien in einem Reaktor mit so hohen Temperaturen verhalten. Ist das wirklich alles so sicher und reibungslos, wie es im Rechner aussieht? Darauf entgegnen wir: Ja, Erprobung muss sein. Aber es ist doch völlig verantwortungslos, es nicht zu probieren. In Kanada finden wir diesen Can-do-Spirit. Dort heißt man uns auf eine Weise willkommen, als habe man nur auf uns gewartet.

In einigen Jahren werden wir wohl komplett nach Kanada umgezogen sein, und das kann man uns wohl nicht verdenken. Schade ist es trotzdem. Wir hätten gerne geholfen, den deutschen Atommüll zu verbrennen. Nach unseren Berechnungen könnte er Strom für mehr als hundert Jahre liefern, CO₂-neutral.

Protokolliert von Jochen Bittner

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NEIN. Die Sicherheitsrisiken bleiben

Der Vorwurf klingt so schön plausibel: Deutschland versäumt die Chance auf einen inhärent sicheren Kernreaktor, der nicht nur Atommüll verbrennt, sondern auch noch konkurrenzlos billig Strom produziert. Und das alles CO₂-frei. Ist es alles zu schön, um richtig zu sein, was Götz Ruprecht da verspricht? Höchstwahrscheinlich. Kurz gesagt überzeugen seine Argumente für den neuen Reaktortyp nicht, während seine politische Anklage drastisch ist.

Zunächst zum Technischen: Die grundlegende Idee des Salzschmelzereaktors – also Uran nicht in fester Form in Brennelementen von Wasser kühlen zu lassen, sondern es in flüssiger Form zu verwenden – ist in der Tat nicht neu, da hat Ruprecht recht. Sie stammt aus den 1950ern. Bereits ab 1960 wurde ein solches Reaktorexperiment in den USA durchgeführt. Die Entwickler des Dual-Fluid-Reaktors bieten also nun eine Variation dieses Experiments an: Die Kühlung des geschmolzenen Uransalzes soll durch flüssiges Blei erfolgen, das in einem zweiten Kreislauf geführt wird.

Ruprecht argumentiert, der Reaktor sei wesentlich sicherer als heutige Reaktoren, denn: Wird der Reaktor heißer, nimmt die Reaktorleistung ab. Dieses Phänomen heißt negative Rückkopplung. Sie ist allerdings eine elementare Sicherheitseigenschaft, die schon heute alle Kernreaktoren weltweit erfüllen müssen, um die Reaktorleistung steuern zu können. So war beim Unfall in Fukushima 2011 auch nicht diese Steuerung das Problem: Die Reaktoren wurden infolge des Erdbebens sofort abgeschaltet. Das Problem ist: In jedem Kernreaktor, auch in einem Flüssigsalzreaktor, entsteht nach der Abschaltung weiterhin Wärme aus dem Zerfall der radioaktiven Spaltprodukte. Wird diese Nachzerfallswärme nicht abgeführt, verflüssigen sich in der großen Hitze irgendwann die Brennelemente und durchbrechen ihre Hüllen – die sogenannte Kernschmelze.

Richtig ist natürlich, dass bereits geschmolzenes Uran im Dual-Fluid-Reaktor nicht mehr schmelzen kann. Bloß, was ist mit den Barrieren (Rohrleitungen, Wärmetauscher), die die schon im normalen Betrieb 1000 Grad heiße Salzschmelze und mit ihr große Mengen an radioaktiven Stoffen im Reaktor einschließen? Natürlich können diese brechen. Passiert dies, wird die Radioaktivität in die Umwelt freigesetzt. Die Behauptung, Unfälle mit Ausmaßen von Tschernobyl oder Fukushima seien mit dem Salzschmelzereaktor nicht denkbar, ist deshalb aus meiner Sicht völlig unbewiesen.

Sowohl die Uranschmelze als auch das flüssige Blei, mit dem der Reaktor gekühlt werden soll, sind hochkorrosive Stoffe. Das heißt, sie greifen die Baustoffe aggressiv an. Und das bei sehr hohen Betriebstemperaturen und intensiver radioaktiver Strahlung. Das bedeutet extreme Anforderungen an die Beständigkeit dieser Baustoffe. Schließlich müssen auch andere Gefahren bedacht werden: Was passiert bei schweren Erdbeben? Könnten Terroristen die Anlage angreifen? Oder könnten Staaten den Reaktor nutzen, um sich Zugriff auf Plutonium für Kernwaffen zu verschaffen? Womit wir beim nächsten Versprechen von Ruprecht wären, dem nämlich, der Dual-Fluid-Reaktor könne Atommüll als Brennstoff nutzen.

Ruprecht behauptet, in ihrem Reaktor würden, weil schnelle Neutronen zum Einsatz kommen, auch fast alle übrigen Uran-Atome, also das Uran-238, gespalten. Das ist kernphysikalisch falsch. Uran-238 fängt vor allem Neutronen ein, dabei entsteht Plutonium. In Reaktoren mit schnellen Neutronen erfolgt die Plutoniumerzeugung umso effizienter. Dieses Plutonium müsste dauerhaft im Brennstoffkreislauf geführt werden. Daher würde auch ein Flüssigsalzreaktor eine hochkomplexe Wiederaufarbeitung des Brennstoffsalzes erfordern, bei der unter anderem Uran und Plutonium im Brennstoff verbleiben, die störenden Spaltprodukte aber abgetrennt werden. Über die dafür erforderlichen Technologien, die heute nicht verfügbar sind, schweigen sich die Entwickler genauso aus wie zur Frage, ob damit die Gefahr eines Zugriffs auf das Plutonium für Kernwaffen erhöht würde.

Selbst wenn diese Probleme gelöst werden könnten, blieben am Ende die entstandenen Spaltprodukte. Sie sind zum Teil äußerst langlebig. Ganz ohne hochradioaktiven Abfall wird es also auch mit diesem Reaktortyp nicht gehen – das Endlagerproblem bliebe bestehen.

Extrem unrealistisch erscheint schließlich die Perspektive, ein solcher Reaktor könne schon in acht Jahren ans Netz gehen. Denn das, wovon geredet wird, ist kein Reaktor. Es ist bislang nur ein Modell, mehr nicht. Der Weg zu einem kommerziellen Reaktor ist noch weit: Es müssen Materialien und Technologien entwickelt, getestet und durch nukleare Aufsichtsbehörden geprüft werden. Doch bei der Bekämpfung der Erderwärmung geht es auch um Zeit. Bis »neue« Reaktorkonzepte realistischerweise zur weltweiten Stromversorgung beitragen können, werden noch Jahrzehnte vergehen. Darauf können wir nicht warten, um eine klimaneutrale Energieversorgung zu installieren

Zur Frage der Kosten behauptet Ruprecht, dass der Strom aus dem Dual-Fluid-Reaktor extrem billig wäre. Die britische Regierung hat dem Nuklearkonzern EDF für einen neuen Druckwasserreaktor gerade einen Abnahmepreis von etwa elf Cent pro Kilowattstunde garantiert, für die nächsten 30 Jahre. Auch nach 70 Jahren Entwicklung hat sich also an den hohen Kosten der Kernenergie nichts geändert – sie hängen an der Komplexität der Anlagen und dem notwendigen Sicherheitsniveau. Wäre das bei einem Flüssigsalzreaktor anders? Nachvollziehbare Argumente dafür liefert Ruprecht nicht.

Und damit zum politischen Vorwurf der Entwickler. Sie seien immer wieder auf ideologische Barrieren gestoßen, sagt Ruprecht, auch im Management großer Stromkonzerne. Sie hätten viel investiert, doch faktisch verhänge die Bundesrepublik ein Berufsverbot. Nun sind die politischen Rahmenbedingungen in der Bundesrepublik seit dem Jahr 2000 klar, als die Bundesregierung mit den Energieversorgungsunternehmen den Ausstieg aus der kommerziellen Nutzung der Kernenergie beschloss. Mit der Entwicklung des Dual-Fluid-Reaktors haben Ruprecht und sein Team erst zehn Jahre später begonnen. Am beschlossenen Atomausstieg hat sich seit 2000 nichts geändert, auch 2010 mit der Verlängerung der Laufzeiten nicht, die 2011 ohnehin zurückgenommen wurde.

Nach einer jahrzehntelangen Debatte hat eine parlamentarische Mehrheit entschieden, dass die Risiken der weiteren kommerziellen Nutzung der Kernenergie zu hoch sind. Nicht »Ideologie« auf den Bundestagsfluren oder »verkrustete Strukturen« in Konzernbüros sind die Ursache dafür, dass der Flüssigsalzreaktor nicht in Deutschland gebaut werden wird. Dass die Erfinder sich in Deutschland in einer Sackgasse befinden, ist vielmehr das Resultat einer legitimen demokratischen Entscheidung. Sicher, man kann der Ansicht sein, dass technologische und finanzielle Risiken in Kauf genommen werden müssen, wenn das Ziel lautet, der Klimakatastrophe entgegenzuwirken. Und Deutschland investiert ja auch sehr viel, um dieses Ziel zu erreichen. Doch eine Pflicht zur Förderung eines nuklearen Start-ups gibt es nicht. Ruprecht mag die gesellschaftliche Risikobewertung beklagen, die hierzulande gegenüber der Kernenergie herrscht. Sich aber nach zwölf Jahren kerntechnischer Forschung unter der klaren Randbedingung eines Atomausstiegs zum Opfer eines Berufsverbots zu stilisieren zeugt doch von einer fragwürdigen Sicht auf die Natur demokratischer Entscheidungen.

Foto: Philotheus Nisch für DIE ZEIT; kl. Fotos: privat

Wäre ein Kernreaktor mit Flüssigbrennstoff die Lösung des Klimaproblems?

Götz Ruprecht ist promovierter Kernphysiker und CEO der Dual Fluid Energy Inc. mit Sitz in Vancouver

Christoph Pistner ist promovierter Physiker und Bereichsleiter Nukleartechnik beim Öko-Institut in Darmstadt