»Das hätte ich gern früher gewusst«

Joschka Fischer glaubt, dass Putin weitere Kriege plant, spricht sich für die Wiedereinführung der Wehrpflicht aus – und erzählt von der schwersten Rede seines Lebens

DIE ZEIT: Herr Fischer, welcher Krieg macht Ihnen mehr Sorgen – der in Gaza oder der in der Ukraine?

Joschka Fischer: Die beiden Konflikte sind miteinander verbunden. Global ist der Gaza-Konflikt gefährlicher, weil sich daraus ein Zusammenstoß der Großmächte entwickeln könnte, wie 1914. Aus unserer europäischen Sicht scheint der Ukraine-Konflikt gefährlicher. Putin wird nicht aufhören. Wir erleben in der Ukraine den ersten russischen Revisionskrieg, aber das wird nicht der letzte sein. Unser großes Problem ist, dass wir kaum einen Bezug haben zu dieser neuen Realität. Unsere Mentalität ist aus verständlichen historischen Gründen geprägt von den Ereignissen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

ZEIT: Sie waren Teil der rot-grünen Bundesregierung, die 1999 den ersten deutschen Kampfeinsatz seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beschlossen hat. Damals dachte man, mit dem Kosovo-Einsatz beginne ein Prozess hin zu mehr weltpolitischer Verantwortung und Beteiligung. Es ist anders gekommen. Warum?

Fischer: Weil wir den Faktor Merkel nicht auf dem Zettel hatten.

ZEIT: War Angela Merkel so mächtig, dass sie das allein bewirken konnte?

Fischer: Nein, aber sie hat zu Beginn ihrer Karriere zwei große Fehler gemacht und daraus ihre Schlüsse gezogen: Die Deutschen mögen keine Sozialreformen, also mache ich innenpolitisch nichts. Und die Deutschen mögen keinen Krieg. Also lasse ich auch diese großen Fragen der Sicherheit in Ruhe.

ZEIT: Das entsprach damals exakt der Stimmung in der Bevölkerung. Die wollte auch keinen Krieg.

Fischer: Genau, aber Sicherheit. Merkels Vorgehen war das Gegenteil von politischer Führung.

ZEIT: Und heute? Hat sich die politische Mentalität der Deutschen geändert?

Fischer: Der Kanzler hat gerade erst in Dresden gesagt: Diplomaten statt Granaten.

ZEIT: Er hat einem Bürger, der ihm einen Zettel mit diesen Worten überreichte, entgegnet, diese Parole müsse man an Putin weiterreichen.

Fischer: Natürlich, Diplomatie ist gut. Aber was ist Diplomatie ohne hard power? Das hätte ich mir auch nicht vorstellen können, dass ich mich einmal für Aufrüstung aussprechen würde, sogar für nukleare Abschreckung. Stellen Sie sich das mal vor! Aber so ist die Lage.

ZEIT: Der Kanzler sagt, zum Beispiel im Interview mit der ZEIT, die Debatte um eine eigene atomare Bewaffnung sei Quatsch, das sei die falsche Diskussion.

Fischer: Dann frage ich den Kanzler: Ist die nukleare Schutzgarantie der USA für Europa Quatsch? Verdanken wir dieser nuklearen Schutzgarantie nicht sieben Jahrzehnte Frieden? Wenn man das bejaht, ist das Argument erledigt, es sei Quatsch, über eine eigene europäische atomare Abschreckung nachzudenken. Es gibt permanente Drohungen aus Moskau. Ich nehme nicht an, dass morgen Nuklearwaffen über einer deutschen Stadt explodieren. Aber wer die russische Mentalität kennt, weiß, sie nehmen nur die Amerikaner ernst. Warum? Weil sie das im Kalten Krieg eingeübt haben und weil die USA eine Nuklearmacht sind, die entschlossen ist, mit der Abschreckung Ernst zu machen.

ZEIT: Die Gegner Ihrer These sagen, wir sollten erstens den Amerikanern nicht signalisieren, wir hätten Joe Biden und die moderaten Kräfte aufgegeben. Und falls Trump im November gewinnt, bekämen wir zweitens bis dahin ohnehin keine europäische Abschreckung mehr hin.

Fischer: Na, das ist ja ein merkwürdiges Argument: Wir haben bisher den Kopf in den Sand gesteckt, nun ist es zu spät, also lassen wir ihn stecken.

ZEIT: Wie würden Sie eine europäische nukleare Abschreckung organisieren?

Fischer: Da gibt es verschiedene Optionen. Die wichtigste Frage ist, ob die europäischen Nuklearmächte die Rolle der USA zumindest temporär übernehmen können. Ich sage bewusst Nuklearmächte, Mehrzahl, ich meine damit Frankreich und Großbritannien. Wir haben alle dasselbe Problem. Wir brauchen einen gemeinsamen Entscheidungsmechanismus, der im Ernstfall ohne die Zustimmung jedes einzelnen der 27 EU-Mitgliedsstaaten auskommt.

ZEIT: Wer oder was schützt uns ab November, sollte Donald Trump wirklich gewählt werden und die Nato verlassen?

Fischer: Der liebe Gott.

ZEIT: Seit wann glauben Sie an den lieben Gott?

Fischer: Niemand. Niemand schützt uns dann, im Klartext.

ZEIT: Dann sind wir erpressbar. Und müssten im Ernstfall tun, was Putin will?

Fischer: Nein. Ich denke, wir wären gut beraten, konventionell das Optimum an Abschreckungsfähigkeit zu entwickeln.

ZEIT: Auch das ist kaum bis November zu schaffen.

Fischer: Ja, liebe Leute! Aber dass Trump droht, das ist ja keine neue Botschaft. Das war schon vor vier Jahren so.

ZEIT: Wenn es darum geht, was wir an die Ukraine liefern, ist häufig die Rede davon, dass man im Umgang mit einer Atommacht wie Russland nichts riskieren dürfe. Das war auch wieder so bei der Entscheidung, der Ukraine keine Taurus-Marschflugkörper zu geben. Überzeugt Sie der Kurs des Kanzlers in dieser Frage?

Fischer: Ich verstehe nicht, warum der Kanzler jetzt erst damit rauskam. Seine Gründe hätte ich als Bürger gern sehr viel früher gewusst.

ZEIT: Überzeugen Sie denn die Gründe, die gegen die Taurus-Lieferung angeführt werden?

Fischer: Ich bin kein Militärexperte, das kann ich nicht beurteilen.

ZEIT: Das ist nicht nur eine technische Frage, sondern im Wesentlichen eine politische. Das Kanzleramt argumentiert, es brauche einen Bundestagsbeschluss, um eine Waffe wie den Taurus zu liefern. Überzeugt Sie das?

Fischer: Es gibt das Argument, ein solcher Entschluss könnte in Karlsruhe beklagt werden, das ist ohne Zweifel zu bedenken. Ich kann auch nachvollziehen, dass der Kanzler schon bei der Panzerdebatte keine Führungsposition wollte, ohne den großen Bruder von der anderen Seite des Atlantiks. Aber der Kanzler hat auch mal den denkwürdigen Satz gesagt: Wer bei mir Führung bestellt, bekommt Führung.

ZEIT: Nur bestellt in dieser Frage in Deutschland niemand Führung, oder jedenfalls nicht sehr viele.

Fischer: Doch, die Realität! Und der Kanzler hat ja Führung gezeigt mit seiner Rede zur Zeitenwende. Das ist nur inzwischen zwei Jahre her. Seitdem hätte die Bevölkerung gern gewusst: Was folgt daraus? Mit wem haben wir es zu tun? Was sind die Herausforderungen? Mit Aussitzen werden wir das Problem nicht los. Das heißt nicht, dass man nicht jeden Schritt sorgfältig bedenken sollte. Aber Sorgfalt ist kein Kaugummi, den man unendlich in die Länge ziehen kann. Das verstehe ich nicht. Und schon gar nicht verstehe ich die deutsch-französische Performance. Ich weiß nicht, was die beiden hohen Herren umtreibt, Macron und Scholz.

ZEIT: Macron hat europäische Bodentruppen ins Spiel gebracht, was keiner der anderen Europäer will. Halten Sie das für eine gute Idee?

Fischer: Ich finde, das ist keine gute Idee. Was soll das? Man sitzt einen ganzen Tag zusammen, und kurz vor Mitternacht kommt dann so ein Aufschlag. Das hat eher zu einer Schwächung der europäischen Position beigetragen, nicht zu einer Stärkung. Wenn du das ernsthaft prüfen willst, wird das ohne die USA nicht gehen. Und Joe Biden hat gerade ein anderes Problem mit den Wahlen vor der Brust.

ZEIT: Sie haben eingangs gesagt, dieser Krieg sei nur der erste von weiteren russischen Revisionskriegen. Was ist der nächste Schritt?

Fischer: Da müssen Sie Putin fragen. Nicht mich.

ZEIT: Dann fragen wir anders. Es gibt Prognosen der Geheimdienste, Putin könnte schon in diesem Herbst anfangen, die Nato zu testen, indem er zum Beispiel in Litauen oder auch Finnland uniformierte oder nichtuniformierte Kräfte über die Grenze schickt, um vermeintlich bedrohten russischen Staatsbürgern zu Hilfe zu eilen.

Fischer: Ich glaube, Putin wird nicht so unklug sein, die Nato zu testen. Das würde dem Ganzen eine völlig andere Qualität geben.

ZEIT: Glauben Sie, die Nato würde wie von Generalsekretär Stoltenberg angekündigt wirklich hart und unmissverständlich reagieren?

Fischer: Ja, das glaube ich. Vergessen Sie nicht: Die Nato ist stärker geworden. Finnland und Schweden sind jetzt dabei. Putin wird nicht so unklug sein.

ZEIT: Haben Sie den Eindruck, dass Putins Ziele sich in diesen zwei Jahren verändert haben, womöglich vergrößert?

Fischer: Ich bin nicht der Psychotherapeut von Wladimir Wladimirowitsch. Für mich ist offenkundig, dass sein Wunsch die Wiederherstellung der Weltmacht Russland ist, und dazu braucht er die verlorenen Gebiete. Und offenkundig ist für mich auch, dass dieser Wunsch nicht erfüllbar ist.

ZEIT: Gehört zu den Dingen, die Sie sich nicht hätten vorstellen können, womöglich auch, dass Sie dafür sind, die Wehrpflicht in Deutschland wieder einzuführen?

Fischer: Ich gehörte zu denen, die dafür waren, sie abzuschaffen. Heute muss ich feststellen: Das war ein Fehler. Ich denke, wir werden auf längere Sicht nicht darum herumkommen, sie in der einen oder anderen Form wieder einzuführen.

ZEIT: In Ostdeutschland wird derweil getestet, ob man mit dem Slogan »Kitas statt Kanonen« vielleicht Wahlkampf machen kann.

Fischer: Das wäre verhängnisvoll und würde die Realitätsflucht in Deutschland bestärken. Für Europa werden aufgrund der vergangenen zwei Jahre in Zukunft nicht mehr der gemeinsame Markt und Wohlstandsgewinne im Zentrum stehen, sondern Sicherheit. Das ist die Herausforderung, vor der sich jede neue Regierung sieht. ZEIT: Sie sprachen eingangs über die besonderen Gründe, die wir in Deutschland hatten, so sehr gegen Rüstung und Krieg zu sein. Sind das heute noch wirksame Motive, oder sind diese Gründe zu Ausreden mutiert?

Fischer: Das ist keine Ausrede. Die totale Niederlage am 8. Mai 1945, die deutsche Teilung, zwölf Millionen Heimatvertriebene und Flüchtlinge in Ost und West, das Menschheitsverbrechen der Shoah – das alles hat gewirkt. Die Deutschen sind von einer militant-militaristischen Kultur zu Pazifisten geworden. Das wirkt, und damit werden wir auch noch länger zu tun haben. Nur: Europa kann auf Deutschland nicht verzichten.

ZEIT: Wir haben zu Beginn über den Krieg in Gaza gesprochen. Überrascht Sie die Wucht der Emotionen, die dieser Krieg verursacht?

Fischer: Mich hat das nicht überrascht. Ich hatte als Außenminister intensiv mit dem Nahostkonflikt zu tun. Schon damals war es unendlich schwer, die Position Israels zu verteidigen. Zu verdeutlichen: Was heißt das, Existenzrecht? Unter moralischen Gesichtspunkten ist ein Panzer, der gegen steinewerfende Jugendliche vorgeht, immer im Unrecht. Deshalb glaube ich auch nicht, dass die Hamas am 7. Oktober allein gehandelt hat. Da war der Iran mindestens im Hintergrund dabei. Das war eine sorgfältig aufgestellte Falle, und Israel hatte keine andere Möglichkeit, als hineinzugehen. Die Brutalität des Angriffs sollte das Trauma der Shoah wiederbeleben. Und das ist gelungen. Israel blieb nichts anderes übrig, als zuzuschlagen, um die Abschreckungsfähigkeit des jüdischen Staates wiederherzustellen.

ZEIT: Und ist das, was hier in Deutschland stattfindet, aus Ihrer Sicht ein Ausmaß an Antisemitismus, das wir uns vorher nicht klargemacht haben? Oder legitime Kritik am Vorgehen der israelischen Regierung?

Fischer: Warum ist es immer wieder Israel, an das man solche Maßstäbe anlegt? Das war früher auch schon so! Es waren die Palästinenser, mit denen man sich solidarisiert hat, nicht Biafra in den Sechzigerjahren. Antisemitismus spielt eine Rolle. Es hängt aber auch mit der strategischen Zwangslage zusammen, die ich beschrieben habe. Es ist unendlich schwer zu vermitteln, aber: Israel muss überproportional stark sein und hart gegen seine Gegner agieren, weil es das Land sonst nicht gäbe.

ZEIT: Würden Sie sagen, die Aussöhnung mit Israel, das Reden von der Staatsräson war trotz aller Schüleraustausche letztlich ein Elitenprojekt in Deutschland?

Fischer: Jein. Es war ein Elitenprojekt, und es war mehr. Es ist ein konstitutives Element der Wiedergeburt der deutschen Demokratie nach 1945. 2004 hat Kofi Annan, der damalige UN-Generalsekretär, eine Sondersitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen einberufen anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Ich hatte als Außenminister unser Land zu vertreten. Ich kann Ihnen sagen: Einen solchen Druck habe ich noch nie verspürt. Ich habe dort erlebt, welche Bedeutung das deutsch-jüdische und deutsch-israelische Verhältnis für uns hat. Es war für unser Land von überragender Bedeutung, und insofern kann ich nur warnen, von dem eingeschlagenen Kurs abzuweichen.

ZEIT: Von der politischen Spitze tut das auch keiner, aber vor allem in der jüngeren Generation sehen viele es anders.

Fischer: Auf der Fahrt hierher habe im Radio eine Besprechung des Films über die Familie Höß in Auschwitz gehört. Wenn du da stehst, vor der Kommandantenvilla, in Sichtweite des Krematoriums: Du kannst es nicht fassen. Ich kann es immer noch nicht fassen. Ich bin ein überzeugter Gegner der Todesstrafe. Aber als ich den Galgen gesehen habe, an dem Höß gehängt wurde, konnte ich ein Gefühl der Befriedigung angesichts der Dimension seiner Verbrechen vor mir selbst nicht verbergen.

ZEIT: Politisch hat unsere Haltung einen Preis. Neben den USA sind wir diejenigen, die am unverbrüchlichsten an der Seite Israels stehen. Wir brauchen den sogenannten Globalen Süden, zum Beispiel auch für eine Lösung im Ukrainekrieg, aber dort stößt unsere Haltung auf Ablehnung.

Fischer: Meine Erfahrung im Umgang mit dem Nahostkonflikt ist, dass die Klarheit der deutschen Haltung sehr hilfreich ist. Man wusste immer: Die Bundesrepublik Deutschland hat hier eine besondere Verpflichtung, das eröffnet aber auch Möglichkeiten. Und wenn der Preis ist, dass das unseren Einfluss verringert, dann ist das der Preis, der sich aus unserer Geschichte und aus unseren Grundwerten ergibt und den wir bezahlen sollten. Und dann beginnt wieder der Spielraum von Politik und Diplomatie.

Die Fragen stellten Tina Hildebrandt und Heinrich Wefing

Kämpfer a. D.

Joschka Fischer wurde als Sohn eines Metzgers im baden-württembergischen Gerabronn geboren. Erste politische Erfahrungen sammelte er in der Studentenbewegung, er war Mitglied der linksradikalen Gruppe »Revolutionärer Kampf«. 1982 trat Fischer den Grünen bei, 1985 wurde er Umweltminister der ersten rot-grünen Koalition in Hessen, 1998 erster grüner Außenminister der Republik. 2005 schied er aus dem Bundestag aus. Er lebt als Berater und Buchautor in Berlin.

Foto: Marlena Waldthausen für DIE ZEIT