Wie rassistisch ist der Westen?
Die Frage, ob der kamerunische Historiker und Philosoph Achille Mbembe die Ruhrtriennale eröffnen soll, ist gelöst, ohne beantwortet werden zu müssen: Wegen Corona wird das Kulturfestival dieses Jahr nicht stattfinden. Entzündet hatte sich die Debatte an der Frage, ob Mbembe als Unterstützer des BDS gelten muss, einer politischen Kampagne, die zu »boycott, divestment and sanctions« gegen den Staat Israel aufruft, aus Protest gegen dessen Besatzungspolitik. Der Bundestag hatte im vergangenen Jahr den BDS als antisemitisch verurteilt, keine staatlichen Gelder sollen mehr an Veranstaltungen fließen, auf denen Aktivisten des BDS auftreten. Achille Mbembes Eröffnungsrede der Ruhrtriennale wäre ein Anwendungsfall dieses Beschlusses gewesen.
Aber viel fruchtbarer als die Durchsetzung eines Pauschalverbots ist schon jetzt die Debatte, die der Vorgang ausgelöst hat. Sind Mbembes Positionen zu Israel antisemitisch, wie nicht nur Felix Klein, Antisemitismus-Beauftragter der Bundesregierung, befand, oder handelt es sich um eine Hexenjagd, wie der Afrika-Historiker Andreas Eckert im SWR erklärte? Und unabhängig davon, wie Mbembe selbst sein Verhältnis zum BDS beschreibt, warum erfreut sich sein Denken unter BDS-Unterstützern so großer Beliebtheit?
Schauen wir uns sein vielfach ausgezeichnetes Werk genauer an. Mbembe gilt als Galionsfigur des Postkolonialismus, einer interdisziplinären Forschungsrichtung, die in den vergangenen zwanzig Jahren die akademischen Diskurse dominiert hat. In seinem Hauptwerk Kritik der schwarzen Vernunft arbeitet Mbembe eindrucksvoll heraus, wie Europa seit der Neuzeit ein Bild des Afrikaners geschaffen hat, in dem dieser in Kategorien des Animalischen beschrieben wird, an der Grenze zwischen Mensch und Tier, triebhaft und unterentwickelt, der Vernunft kaum teilhaftig. Mbembe spricht dabei stets vom »Neger«, um, vergleichbar der Schwulenbewegung, den ursprünglich abwertend gemeinten Begriff durch Selbstaneignung umzuwerten.
Dieses rassistische Phantasma war die diskursive Voraussetzung, um den so seines Menschseins beraubten »Neger« versklaven und Afrika insgesamt kolonisieren zu können. Die Neuzeit beginnt für Mbembe nicht mit dem Humanismus oder der Renaissance, sondern mit der Erfindung des Rassismus, der es erlaubt, dem Beispiel der Dehumanisierung des schwarzen Menschen folgend, alle nicht europäischen Völker als Gestalten »minderen Seins« zu betrachten, sie auszuschlachten, zu verdinglichen und wie eine Ware zu behandeln. Von hier nehmen die großen Expansionsbewegungen der Neuzeit ihren Ausgang: Eroberung der Neuen Welt und Vernichtung der indigenen Bevölkerung, transatlantischer Sklavenhandel zur Bewirtschaftung der Plantagen in Übersee und zuletzt die Kolonisierung Afrikas, die sich selbst als Zivilisierungsprojekt an den »Wilden« gerechtfertigt habe.
Das zu lesen ist bewegend, und herausgearbeitet zu haben, wie dem Akt der ökonomischen Ausnutzung der afrikanischen Völker ihre diskursive Zurichtung vorausging, ist ein bleibendes Verdienst von Mbembes Hauptwerk. Sein eigentlicher Impuls, der Initialschrecken sozusagen, ist das unbestreitbare Skandalon, dass die Erklärung der Menschenrechte und die Sklavenwirtschaft Teil ein und derselben historischen Bewegung waren, dass die Aufklärung den Universalismus hervorgebracht hat und den Kolonialismus. Dass Thomas Jefferson als Mitverfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung den Satz »All men are created equal« niederschreiben konnte und dass der nämliche Jefferson auf seiner Farm in Virginia Sklaven besaß (unter Gewissensbissen, aber eben dann doch nicht unter allzu unüberwindlichen Gewissensbissen). Diesen Widersinn kann man entweder mit Heuchelei erklären: Dann hätten die europäischen Nationen und die Vereinigten Staaten den Afrikaner nur als halben Menschen betrachtet, weil ihnen sonst ihre eigenen aufklärerischen Standards das Geschäftsmodell verunmöglicht hätten. Oder aber man hält wie Mbembe beide Bewegungen für die zwei Seiten ein und derselben Medaille. Dann ist Kapitalismus nichts anderes als Rassismus, gleichursprünglich und wesensgleich, eine Wirtschaftsform, die stets eine Klasse von Ausgebeuteten fabriziert, die sie rassisch markiert, um ihr die Gleichbehandlung verweigern zu können. Die Duldung der Sklaverei durch die Gründungsväter der USA wäre dann keine Doppelmoral, kein feiges Einknicken vor den Interessen der Südstaaten-Farmer, sondern die Kernidee des Projekts Moderne. Es ist letztere These, der Mbembe nicht nur zuneigt, sondern die seinem Werk den spezifischen Orgelton des Verhängnisses verleiht. Der Sklavenhandel, schreibt er, sei das »Taufbecken unserer Moderne«.
Die Postcolonial Studies sind ein Kind des Poststrukturalismus. Nicht zufällig orientiert sich Mbembes Schreibstil vor allem in der Handhabung von Körpermetaphern an Michel Foucault – wo Foucault allerdings lakonisch wird, neigt Mbembe zu Pathos und Superlativ. Aber etwas anderes ist hier interessant. Einer der Gründungstexte des Poststrukturalismus war Jean-François Lyotards Aufsatz Das postmoderne Wissen, in dem er Abschied von den großen Erzählungen nahm, also vor allem von der Geschichtsphilosophie Hegelscher und Marxscher Provenienz. Bei Mbembe kehrt die große Erzählung nun zurück – in ihrem totalisierenden Anspruch, die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit aus einem großen Wurf abzuleiten.
Für diese Rückkehr zur großen Erzählung zahlt Mbembe einen hohen Preis. Denn in diesem Werk, immerhin das eines Historikers, gibt es eigentlich keine Entwicklung: Wenn Kapitalismus Rassismus ist und Rassismus Kapitalismus, dann ist die Geschichte der Neuzeit bis zur Gegenwart von niederschmetternder Statik. Die Abolition-Bewegung, die seit dem 18. Jahrhundert, von England ausgehend, für die Abschaffung der Sklaverei kämpfte, findet in der Kritik der schwarzen Vernunft so gut wie keine Erwähnung, sie wäre für Mbembe auch schwer zu erklären, denn sie müsste ja Effekt eines Formtiefs des Kapitalismus gewesen sein – jedenfalls gewiss nicht Ergebnis eines moralischen Paradigmenwechsels, wie es der britisch-ghanaische Philosoph und Historiker Kwame Anthony Appiah beschrieben hat (zwei afropolitane Denker, wie sie im Übrigen unterschiedlicher kaum sein könnten).
Auch der Begriff des »Negers« ist bei Mbembe eine zeitlose Chiffre. So reich sein Buch an Zitaten ist, die das rassistische Phantasma eindrucksvoll belegen, so wenig vermag der Leser diese Zitate einem spezifischen historischen Kontext zuzuordnen: Die Großepoche des rassistischen Kapitalismus kennt keine Binnenperiodisierung. Aber Mbembes »Neger« ist nicht nur zeitlos, er ist in gewisser Weise auch ortlos: Dass die Erfahrung der Kolonialisierung eine andere ist als die der Versklavung, dass Afroamerikaner nicht in gleicher Weise schwarz sind wie Afrikaner, das tut für Mbembe nichts zur Sache. Vermutlich würde er diese Ortlosigkeit sogar als Effekt der gewaltsamen Entwurzelung des Afrikaners insgesamt deuten. Es ist der Blick des Weißen auf ihn, der ihn selbst noch als rebellierendes Subjekt konstituiert.
Ohnehin ist der »Neger« für den Zeitkritiker Mbembe keine empirische Gestalt, sondern eine metaphysische Größe: Er muss, eine zentrale Pointe von Mbembes Gegenwartsdiagnose, auch gar nicht schwarz sein. »Neger« sind heute alle, die vom Kapitalismus ausgeschlachtet werden.
Sowohl in Kritik der schwarze Vernunft von 2013 als auch in Politik der Feindschaft von 2016 spricht Mbembe immer wieder davon, dass »die Ähnlichkeiten zwischen Markt und Krieg niemals so deutlich waren wie heute«. Der datengestützte Finanzkapitalismus sei nur die neueste Spielart der Entmenschlichung, die den Menschen auf seine Warenhaftigkeit reduziere. Wie einst der Schwarze ein bewegliches Gut war, sind wir heute alle »Arbeitsnomaden«. Wenn die Kapitalströme aber nur eine neue Form der globalen Zirkulation von Humankapital sind, dann verliert der transatlantische Sklavenhandel des 17. und 18. Jahrhunderts, um es vorsichtig zu formulieren: etwas von seiner Spezifik. Dann ist die Sklaverei dasselbe wie der Kolonialismus, der Kolonialismus dasselbe wie die Apartheid und die Apartheid nicht zu unterscheiden vom Neoliberalismus und der Demokratie, von der Mbembe sagt, sie trage »die Kolonie tief in sich«. Das meint Mbembe, wenn er mit Blick auf unsere Gegenwart apokalyptisch raunt, »die Welt werde schwarz«.
Mbembe beschreibt – unter Bezug auf Carl Schmitt – sehr plausibel, wie im Zeitalter des Kolonialismus eine Linie gezogen worden sei zwischen den Weißen und den anderen, zwischen Europa und der überseeischen Welt: Jenseits dieser Linie habe der »freie Raum ungehemmten Kampfes« begonnen, »offen für freien Wettbewerb und freie Ausbeutung, in dem die Menschen frei sind, sich zueinander wie wilde Tiere zu verhalten«.
Hier kommt eine weitere Gedankenfigur, die für das Werk entscheidend ist, zum Tragen: Diese einst von den Europäern in die Welt jenseits dieser Linie externalisierte Gewalt kehre heute an ihren Ausgangspunkt zurück: in Form des Neoliberalismus und der Armutsmigration – zwei Seiten derselben Medaille.
»Früher oder später«, schreibt Mbembe in Politik der Feindschaft, »wird man in der Heimat ernten, was man in der Ferne gesät hat.« Der ursprüngliche Akt der Diskriminierung, mit dem man zwischen dem Weißen und dem Afrikaner eine kategoriale Seinsgrenze gezogen hatte, wiederhole sich heute in den Grenzregimen der westlichen Welt. 80 Seiten lang beschreibt Mbembe in Politik der Feindschaft in düster flackernden Metaphern, aber ohne historische Konkretion, inwiefern der Rassismus in der heutigen Gesellschaft nichts von seiner tödlichen Gewalt eingebüßt habe. Und während man als Leser ungeduldig auf einen konkreten Beleg wartet, wo genau die ja nicht ganz harmlos klingenden »Verfahren zur Vernichtung all derer, die von der Demokratie zu Staatsfeinden erklärt werden«, Gestalt annehmen, wird Mbembe plötzlich, als breche es wie bei einem unter Tourettesyndrom Leidenden aus ihm heraus, furchtbar konkret: in Israel und seinem Besatzungsregime, das »an das Modell der Apartheid« erinnere. »Doch die Metapher der Apartheid reicht nicht aus, um das israelische Trennungsprojekt zu erfassen.« Die »fanatische Zerstörungsdynamik« Israels ziele darauf ab, »das Leben der Palästinenser in einen Trümmerhaufen und einen zur Entsorgung bestimmten Berg aus Müll zu verwandeln. In Südafrika erreichten die Trümmerberge niemals solche Ausmaße.«
In einem Vorwort zu dem englischsprachigen Buch Apartheid Israel, dessen Erlös dem BDS zufloss, nennt Mbembe die »Besetzung Palästinas« den »größten moralischen Skandal unserer Zeit, eine der am stärksten dehumanisierenden Torturen des Jahrhunderts, in dem wir leben, und die größte Feigheit des letzten halben Jahrhunderts«.
Man könnte zugunsten Mbembes darauf verweisen, dass seine Rhetorik grundsätzlich nur Superlative kennt und der Grenzzaun, mit dem Israel die besetzten Gebiete abriegelt, für ihn nur das Sahnehäubchen einer weltweiten Tendenz zu Mauerbau, Abschottung und tödlicher Ausgrenzung des Fremden darstellt, Israel sich, so gesehen, in bester Gesellschaft befindet. Aber da eben liegt ein weiteres Problem mit Mbembes Werk: Die Rhetorik des moralischen Maximalismus, die immer klingt, als sprächen die sieben Engel der Apokalypse gleichzeitig, macht sein Denken der düsteren Gesten anschlussfähig für politischen Aktivismus. Doch ist diese Rhetorik zugleich eine Immunisierungsstrategie gegen kritische Nachfragen. Indem Mbembe alles dafür tut, dass ihn niemand zu überbieten vermag in seiner radikalen Verwerfungsgeste, klingen Fragen nach historischer Differenzierung immer schon so, als wolle man den fundamentalen Rassismus wo nicht leugnen, so zumindest verharmlosen.
Dabei ist Mbembe in seinem unerbittlichen Antiliberalismus repräsentativ für ein ganzes politisch-akademisches Milieu, in dem sich die BDS-Bewegung nicht zufällig großer Beliebtheit erfreut. Im Zentrum dieses Denkens, zu dessen Stichwortgebern auch der italienische Philosoph Giorgio Agamben gehört, steht die Überzeugung, dass die Welt ein einziges Lager geworden sei und gerade die westlichen Demokratien mit ihren befestigten Staatsgrenzen Orte der Entrechtung und der Vernichtung seien. Dem liberalen Rechtsstaat darf in diesem Denken keinerlei Kredit gewährt werden. Dass Flüchtlinge in Europa einen Rechtsanspruch haben, kommt Mbembe nicht über die Lippen, vermutlich weil er ihn für einen bloßen, heuchlerischen Taschenspielertrick hält. Vom Humanitätsversprechen des liberalen Universalismus lässt sich nämlich einer wie Mbembe keinen Sand in die Augen streuen.
Wie soll man aber nun die Frage nach dem Antisemitismus beantworten? Ich glaube nicht, dass die Fixierung auf diesen Begriff die Linderung bringen wird, die man sich davon verspricht. Um sich kritisch mit Mbembes Werk auseinanderzusetzen, brauchen wir nicht zu dieser Ultima Ratio zu greifen. Es wirft schon genug Fragen auf, warum ein Autor, der im Zentrum des Menschheitsunheils den Rassismus identifiziert, geradezu um sich schlägt, sowie es um Israel geht. Eine mögliche Erklärung bietet sich an: In Mbembes Gedankenarchitektur werden wir alle zu »Negern«, die höchste Form des »Negers« aber waren die Juden als Opfer des Holocaust. Wenn aber die Juden in diesem Sinne »Neger« waren, dann sind die Israelis als Grenzzieher keine Juden mehr, sondern Weiße.
»Das Apartheidregime in Südafrika und – in einer ganz anderen Größenordnung und in einem anderen Kontext – die Vernichtung der europäischen Juden sind zwei emblematische Manifestationen dieses Trennungswahns.« Relativiert Mbembe mit diesem Satz den Holocaust? Die Frage hat etwas Steriles. Viel interessanter ist etwas anderes: Die Opfer der Schoah kann Mbembe problemlos in sein Weltbild integrieren, der Staat Israel hingegen mit seinen ganzen Ambivalenzen, Verbündeter der USA, aber tödlich bedroht durch seine Nachbarn, fügt sich weit weniger in Mbembes Aufteilung der Welt in Täter und Opfer. Sein Hass auf Israel hat etwas vom Zorn über einen Verräter, der die Seite gewechselt hat.
Selten war eine Debatte so produktiv wie diese. Selbst in der postkolonial stets gut informierten taz wird jetzt die Frage aufgeworfen, ob es an einem »grundsätzlichen Konstruktionsfehler« der Postcolonial Studies liege, wenn ihre Theoretiker das Fach meistens nicht nur »als Wissenschaft, sondern auch als Widerstandsform« verstünden.
Was folgt daraus? Mbembe sollte weiterhin nach Deutschland eingeladen werden. Es ist intellektuell fruchtbarer, ihn mit kritischen Nachfragen zu konfrontieren, als seinen moralischen Maximalismus wie eine Donnerpredigt schuldbewusst über sich ergehen zu lassen. Die Postcolonial Studies sind für die Rekonstruktion unserer Gegenwart zu wichtig, als dass wir es uns leisten könnten, sie für sakrosankt zu erklären. Auch hier gilt es, Dogmatismus aufzumischen. Die Debatte um Achille Mbembe wird Argumente und Zusammenhänge schärfen und Phrasen aussortieren, ohne Mbembes großen Beitrag zur Geschichte des Rassismus grundsätzlich infrage zu stellen.