Bewegt euch!

Vor Krankheiten schützt eine gute Gesundheitsvorsorge. Warum ist das nach zwei Jahren Pandemie noch immer kein Thema? Fragen an eine WHO-Expertin

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Vor Krankheiten schützt eine gute Gesundheitsvorsorge. Warum ist das nach zwei Jahren Pandemie noch immer kein Thema? Fragen an eine WHO-Expertin

DIE ZEIT: Frau Kickbusch, Sie sind eine Vordenkerin des »global health« bei der WHO, befassen sich also damit, allen Menschen zu Gesundheit zu verhelfen. Augenblicklich konzentriert sich die Debatte hauptsächlich auf Corona-Patienten. Alle anderen Erkrankungen scheinen nebensächlich. Was läuft schief?

Ilona Kickbusch: Deutschland trennt, wie auch andere Gesundheitssysteme, scharf zwischen Infektionskrankheiten und »nicht übertragbaren oder chronischen Krankheiten« wie Bluthochdruck oder Adipositas. Dabei gehören beide eng zusammen: Vorerkrankungen haben Einfluss auf den Verlauf von Corona. Corona zeigt, wie viel wir bei der Prävention von nicht übertragbaren Krankheiten versäumt haben.

ZEIT: Das Alter ist der größte Risikofaktor für Corona-Patienten, dagegen können wir nichts tun.

Kickbusch: Es ist nicht das Alter an sich. Schauen Sie sich die Statistiken an: Ab 50 Jahren sind zwei von drei Männern in Deutschland übergewichtig, die meisten trinken zu viel, haben Bluthochdruck. Auch deswegen sind unsere Intensivstationen voll – immer, auch unabhängig von Corona. Wir haben gute Experten in der Virologie; dass übergewichtige, vorerkrankte Menschen unterschiedlich auf Corona reagieren, könnten wiederum Adipositasforscher, Diabetologen und auch Armutsexperten besser erklären. Sie werden jedoch kaum gehört. Welche Vorerkrankungen einen schweren Verlauf von Corona begünstigen, muss noch sehr viel genauer erforscht werden.

ZEIT: Selbst Laien wissen, dass übergewichtige und geschwächte Menschen durch Corona besonders gefährdet sind.

Kickbusch: Ja, aber wir ziehen keine Lehren daraus. Die Ursachen dafür liegen tief – und ja, auch in einer gewissen Überheblichkeit: Der Westen hielt sich lange für unantastbar, geradezu für immun. Noch in den Siebzigerjahren glaubte man, Infektionskrankheiten besiegt zu haben, die gebe es bald nur noch in Afrika. Plötzlich tauchte mit HIV auch in reichen Demokratien wieder eine Infektionskrankheit auf. Man reagierte mit Ausgrenzung der Homosexuellen. Nun räumt Corona endgültig mit dem Mythos auf, dass wir unantastbar sind. In unserem reichen Land ist die Hälfte der Menschen vorerkrankt. Das erscheint uns normal, ist es aber nicht.

ZEIT: So normal, dass es nicht thematisiert wird?

Kickbusch: Es ist traditionell schwierig, über Krankheiten zu reden oder zu schreiben, die wir durch ungesunde Ernährung und mangelnde Bewegung erleiden, denn irgendwie spricht man ja dann auch über sich selber. Diese Bereiche haben eine wahnsinnige Ambivalenz, weil sie uns persönlich angehen. Es gibt Untersuchungen, warum Journalistinnen ungern über Alkoholpolitik schreiben und warum auch viele Mediziner Alkohol bagatellisieren: Sie sind selbst betroffen. Sie haben stressige Jobs, trinken überdurchschnittlich viel, auch der Medikamentenmissbrauch ist höher. Diese Befangenheit erschwert es, in der öffentlichen Diskussion Unterstützung für Prävention und Gesundheitsförderung zu bekommen.

ZEIT: Journalisten und Medizinerinnen rauchen auch überdurchschnittlich viel, aber es gibt sehr viele Artikel über die Risiken von Nikotin.

Kickbusch: Ja, nach mehreren Jahrzehnten wird Tabak angemessen problematisiert, auch weil wir da einen klaren Feind haben: die Tabakindustrie. Bei der Nahrungsmittelindustrie ist das schwieriger. Man versucht daher strategisch, besonders krank machende Zusatzstoffe zu thematisieren, zum Beispiel den Zuckeranteil oder eine Zuckersteuer. Zucker ist tödlich, das kann ich sagen, und es wird akzeptiert. Ich könnte auch sagen: Pizza ist tödlich, das ist schon schwieriger, obwohl es in einem bestimmten Kontext durchaus stimmen kann.

ZEIT: Klingt auch abwegig.

Kickbusch: Sehen Sie? Es ist aber wahr. Pizza ist eines der meist konsumierten und zugleich kalorienreichsten Gerichte, das zu unserem massiven Problem mit Übergewicht beiträgt. Aber das Entscheidende ist doch: Pizzaessen, sich nicht zu bewegen sind zwar persönliche Verhaltensweisen, aber sie sind sozial strukturiert. Wenn zwei Millionen Kinder und ein Großteil der über 50-Jährigen übergewichtig sind, dann ist das kein individuelles Problem mehr. Wir müssen uns fragen: Wie wird im Alltag gekocht, wie wird Stress verarbeitet, wie werden Nahrungsmittel beworben? Was ist billig und macht wenig Arbeit? Wer einen stressigen Beruf mit Nachtschichten hat, stellt sich nicht hin und schält Karotten.

ZEIT: Wir können niemandem vorschreiben, was er oder sie essen soll.

Kickbusch: Das will auch niemand, obwohl das unterstellt wird. Der wichtigste Grundsatz in der Gesundheitsförderung ist: Don’ t blame the victim, keine Schuldzuweisung an das Opfer. Die Regierung kann beschließen, den Zucker- und Salzgehalt in Nahrungsmitteln und auch Getränken zu verringern. Und dann muss dringend an dem Preis gedreht werden: Wer kann sich gesunde Nahrung leisten? Auch das kann mit Steuern gelenkt werden. Auch eine verpflichtende Ampel zur Kennzeichnung von Lebensmitteln kann hier unterstützend wirken. Der Mangel an politischem Handeln treibt die Zahl der chronischen Erkrankungen nach oben. Und sicherlich können Ärzte auch Sport verschreiben. Aber noch mehr brauchen wir fahrradfreundliche Städte und ein Umfeld, in dem sich jeder bewegen kann. Fahren Sie doch mal durch Amsterdam oder Kopenhagen, da sehen Sie, wie politische Entscheider Menschen auf das Fahrrad kriegen und diese es genießen. In Berlin habe ich Angst auf dem Sattel.

ZEIT: Ein wenig Fahrradfahren, kann das die Lösung sein für die Fülle an Krankheiten?

Kickbusch: Wir suchen immer nach dem silver bullet, nach der einen großen Lösung. Die gibt es aber nicht. Wenn jemand ein Herz verpflanzt, sagen alle: mein Gott, super! Aber wenn man jemandem sagt: Du kannst 90 Jahre alt werden, wenn du jeden Tag eine halbe Stunde spazieren gehst, interessiert das nur wenige. Alltagsbewegung ist wahnsinnig wichtig, das zeigen alle Studien. Mit einer fahrrad- und fußgängerfreundlichen Stadt erreichen Sie sehr viel auf einmal. Sie haben messbar weniger Herzinfarkte, weniger Autos, weniger Luftverschmutzung, weniger Übergewicht und dazu noch Klimaschutz. Und eine eindeutig höhere Lebensqualität.

ZEIT: Kritisieren Sie, dass wir uns zu sehr auf die Impfung verlassen haben, um aus der Pandemie herauszufinden?

Kickbusch: Impfen ist sehr wichtig, aber die Vakzinen allein können uns nicht retten. In unserer Gesellschaft erwartet jeder, dass die Medizin uns aus der Pandemie erlöst. Dass wir auch unseren Alltag und unsere Umwelt ändern müssen, um gesund und ohne viel Medikamente alt zu werden, das wird weniger vermittelt. Das Tragische ist: Deutschland ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt, Deutschland hat eines der besten Gesundheitssysteme der Welt, wir haben mehr Impfstoff, als wir verspritzen können. Wir haben hervorragende Virologen und eben auch hervorragende Experten in der Gesundheitsförderung und Prävention. Derzeit fragen sich Menschen in Ländern, die kein Gesundheitssystem und keine Vakzine haben: Was ist in diesen reichen Gesellschaften eigentlich los?

Die Fragen stellte Annika Joeres

Abb.: Lucia Heffernan (»Yoga Chick«; Öl auf Leinwand)

Alltagsbewegung sei »wahnsinnig wichtig«, sagt Ilona Kickbusch