Was ist BDS?
Lana Del Rey will nicht in Israel auftreten, Lauryn Hill nicht, ebenso wenig wie Elvis Costello oder Annie Lennox. Roger Waters, früher Sänger von Pink Floyd, schimpft seit Jahren wie ein Rohrspatz gegen den Judenstaat, er unterstützt die weltweite antiisraelische Kampagne BDS und bedrängt seine Musikerkollegen, es genauso zu tun. Die drei Buchstaben stehen für »Boykott«, »Desinvestition« und »Sanktionen«, Maßnahmen, mit denen Israel für seine Palästinenserpolitik gestraft werden soll.
Judith Butler gehört zu den prominenten Unterstützern, Achille Mbembe, Alice Walker, Noam Chomsky, der Filmregisseur Ken Loach, Bischof Desmond Tutu und natürlich der ewige Adabei Naomi Klein. BDS gibt es seit 2005. Aber erst in den letzten drei Jahren taucht das Kürzel auch in der deutschen Öffentlichkeit auf, etwa wenn eine israelische Künstlerin mit Finanzhilfe ihres Staates auf ein Popfestival nach Berlin reist und boykottiert wird. In Zukunft könnte BDS laut zu hören sein: Wenn Netanjahus Regierung wie angekündigt in den nächsten Monaten Teile des Westjordanlandes annektiert, wird das eine neue und heftige Welle antiisraelischer Proteste auslösen.
BDS versammelt linkes und linksliberales Unbehagen an Israels Siedlungspolitik, an der desolaten Lage der Palästinenser, aber auch an der Existenz Israels und vielleicht am Judentum generell. Ganz klar wird nie, wo die Grenzen liegen, ein bisschen Übertreibung ist immer im Spiel, wenn BDS Protest organisiert. Das sticht ins Auge, und dann springen die Unterstützer der Bewegung herbei, kluge Leute aus Kultur oder Wissenschaft, und beteuern, von Antisemitismus könne trotzdem keine Rede sein und Kritik an der israelischen Regierungspolitik dürfe man ja wohl noch äußern.
Die meisten zivilgesellschaftlichen und öffentlichen Organisationen in der Bundesrepublik distanzieren sich allerdings: zu nah am Judenhass das Ganze. Im Mai 2019 beschloss der Bundestag, BDS sei als antisemitisch anzusehen und dürfe mit öffentlichen Mitteln nicht unterstützt werden. Ein seltsames Missverhältnis scheint zu walten. Die Volksvertretung reagiert eigens mit einer Entschließung auf ein winziges palästinenserfreundliches Grüppchen ohne eigene Mobilisierungskraft?
Also muss der Einfluss von BDS woandersher kommen: In Großbritannien und Irland unterstützen einige Gewerkschaften die Kampagne, in den USA wissenschaftliche Verbände und Studentenorganisationen; in der Demokratischen Partei dort sind sogar hochrangige Aktivisten tätig. Auch Achille Mbembe, als bekanntester Theoretiker des Postkolonialismus in Südafrika lehrend, sprach sich für den Boykott einer israelischen Universität aus. Vor allem im Kulturmilieu sowie in den Geistes- und Sozialwissenschaften findet die These Anklang, Israel sei ein rassistischer Apartheidstaat wie früher Südafrika. Was den einen legitimes Medium ist, um sich gegen die israelische Politik auszusprechen, verstößt für andere gegen die historische Verantwortung, den jüdischen Staat zu schützen. Je sichtbarer die Sammlungsbewegung BDS wird, desto härter die Konfrontation. Was also ist sie genau?
BDS ist ein Kind der Zweiten Intifada. 2005 brach der bewaffnete Kampf der Palästinenser zusammen, Arafat war tot, der Widerstand politisch gespalten. Im Juli desselben Jahres verfassten mehr als 170 zivilgesellschaftliche palästinensische Organisationen einen Aufruf, der als Programmerklärung von BDS gilt. Fortan soll der Kampf gewaltlos und dezentral geführt werden, was heißt, dass man die internationale Gemeinschaft dazu bringen will, Israel als »Schurkenstaat« zu isolieren. Soft Power, will sagen Kampagnenarbeit, steht im Fokus: »electronic Intifada«.
Ziel von BDS ist seither, jene Schlüsselbegriffe zu besetzen, mit denen der israelisch-palästinensische Konflikt diskutiert wird. Wirkung entfaltet das langfristig, denn diese Begriffe fließen in den Sprachgebrauch von NGOs ein, sie stützen oder schwächen Rechtspositionen und tauchen irgendwann in den außenpolitischen Zielsetzungen westlicher Staaten wieder auf. Erfolgreicher als Geheimbündelei ist die Suche nach anschlussfähigen Protestinitiativen. Infrage kommen praktisch alle, die für Minderheitenrechte streiten und antikapitalistisch orientiert sind. BDS ist ein Branding-Tool – auf Graswurzelarbeit bauend und den lokalen Vertretungen, so klein sie sein mögen, ein Maximum an Gestaltungsfreiheit einräumend.
War der palästinensische Widerstand während der Studentenrevolte ein »Befreiungskampf der Dritten Welt« und galt der Zionismus – also die Überzeugung, Juden hätten ein Anrecht auf einen eigenen Staat – damals noch als »Faschismus«, so beginnt sich die Umdefinition bereits durchzusetzen: Heute ist der Zionismus in vielen Ländern ein »Rassismus« und der palästinensische Widerstand eine Praxis der weltweiten Entkolonisierung.
Die neue Rahmung des Konfliktes ist eine Aktualisierung, sofern sie an die heutige Demonstrationskultur und ihre Menschenrechtsrhetorik anzuknüpfen erlaubt, vor allem stellt sie aber eine Enthistorisierung dar. Die geschichtliche Erzählung, welche einen eigenen Judenstaat plausibel macht, fällt damit unter den Tisch. Wenn Zionismus allgemein westlicher oder weißer Rassismus ist, bleibt die jüdische Erfahrung vorenthaltener Emanzipation im 19. Jahrhundert ausgeblendet, ebenso die gescheiterte Assimilierung im 20. Jahrhundert und die Geschichte der Pogrome bis hin zur Schoah. Israels Gründung ist dann nichts anderes als eine koloniale Landnahme.
Offen antisemitisch äußert BDS sich nicht, aber freimütig und stolz antizionistisch. Die drei Forderungen des Aufrufs von 2005 – Ende der Okkupation der besetzten Gebiete, gleiche Rechte für arabisch-palästinensische Einwohner Israels sowie Rückkehrrecht für alle Flüchtlinge sowie deren Nachkommen – tragen es in sich. Der Mitbegründer und inoffizielle Kopf von BDS, ein gebürtiger Katarer und israelischer Staatsbürger namens Omar Barghouti, machte nie einen Hehl daraus, wie sie gemeint sind: Die Rückkehr erzwingt ein binationales Israel mit palästinensischer Mehrheit, also faktisch das Ende des Judenstaats, und mit den »besetzten Gebieten« ist nicht etwa das 1967 im Sechstagekrieg eroberte Westjordanland gemeint, sondern das israelische Staatsgebiet insgesamt.
Nicht nur unter gemäßigten Palästinensern sorgte das Auftauchen von BDS für Aufregung. Denn seither gilt wieder die alte Frontstellung von 1948, die Idee, Israel könne und müsse vollständig beseitigt werden. Die Auslöschung des Judenstaats ist jetzt eine Art Regulativ palästinensischer Politik. In islamischen Ländern mit jüdischen Minoritäten hat das konkrete Auswirkungen. Dort gibt es kein BDS, wohl aber eine einflussreiche »Antinormalisierungskampagne«, welche vorschreibt, dass es auf keiner Ebene und in keinem Bereich eine Zusammenarbeit mit Juden oder jüdischen Organisationen geben dürfe. Das viel beschworene Selbstbestimmungsrecht gilt dort für Juden nicht.
Beobachter sehen die Position von BDS inzwischen als repräsentativ für die palästinensische Seite an. Der Aufruf von 2005 stellte die Absage an Versuche dar, den Konflikt aufs Westjordanland begrenzt und im Sinne einer Zweistaatenlösung zu bearbeiten. Inzwischen sind auch Israel und die USA davon abgerückt. So bedeutet BDS: Im Grunde kann und soll es keine politische Lösung mehr geben. Der Exekutivrat von BDS, der BNC (BDS National Committee), ist zwar mit zivilgesellschaftlichen Organisationen besetzt, um den friedlichen Charakter der Kampagne zu unterstreichen. Ganz oben auf der Mitgliedsliste steht jedoch der Council of National and Islamic Forces in Palestine, was stets ein Indiz für die Anwesenheit von Hamas oder der Volksfront für die Befreiung Palästinas ist, also für Gruppen, die mit dem Terror in Verbindung stehen. Diese Gruppen führen BDS nicht operativ, sorgen aber für Rückhalt. Sie signalisieren vor allem Autorität.
Versuche, Israel per weltweiter Kampagne zu delegitimieren, vermochten seiner Wirtschaft nicht nachhaltig zu schaden. Auch außenpolitisch ist kaum eine Wirkung zu verzeichnen. Gleichwohl entging es der israelischen Regierung nicht, dass die Kritik an ihr – auch die nicht-zionistisch jüdische – sich mit der Zeit der Begriffe »rassistischer Diskriminierung«, »ethnischer Säuberung«, »Apartheid« oder »Kolonialregime« bediente. Sie musste mit ansehen, dass aus einem bejahrten, unlösbar gewordenen politischen Konflikt ein akuter, die Weltöffentlichkeit alarmierender Fall von Menschenrechtsverletzung zu werden drohte.
Die Regierung beauftragte ihr »Ministerium für Strategische Angelegenheiten«, eine Gegenkampagne zu organisieren. Das Ministerium entwickelte konzise Formulierungen der offiziellen israelischen Position und verankerte sie in der israelbezogenen Bildungsarbeit. Es bemühte sich auch, einen international verbindlichen Begriff von Antisemitismus zu implementieren, dem beispielsweise auch der Bundestag folgte.
Und selbstverständlich, wie kann es anders sein, trug nichts so sehr zur Aufwertung von BDS bei wie diese Gegenbegriffspolitik, die seither das gesamte Spektrum von Israelkritikern misstrauisch stimmt. Die Verteidigung Israels sowie die Kritik an BDS stehen inzwischen unter Manipulationsverdacht. BDS-Unterstützer beschweren sich über »Diskurswächter« und »cancel culture« oder erklären sich zu Opfern einer im Verborgenen tätigen zionistischen Allianz.
Dabei geht es nicht um jene, die immer schon an die Protokolle der Weisen von Zion glaubten oder antijüdischen Klischees folgen. Es geht auch nicht um den ausgedehnten geistigen Raum des rechten Antisemitismus. BDS findet eher in einer jungen, kritischen Schicht Gehör. Gerade das Unscharfe, Nebulöse von BDS im Zusammenspiel mit den auf den ersten Blick so selbstverständlich erscheinenden Forderungen ist es, das ein breites Angebot eröffnet, irgendwie dafür zu sein. Omar Barghouti empfahl stets, in Deutschland besonders behutsam vorzugehen und Rücksicht auf dessen Geschichte zu nehmen.
In einem separaten »Deutschlandweiten BDS-Aufruf« von 2015 sind die »besetzten Gebiete« plötzlich auch mit dem Westjordanland identisch – und wer gegen deren Annexion protestiert, kann sich in der Tat aufs Völkerrecht berufen. Doch welcher Aufruf gilt? BDS macht sich unkenntlich, wo es opportun erscheint. Niemand, der dort einschwingt, wird mit den intrikaten Details der innerpalästinensischen Gewaltdiskussion behelligt, für sie und ihn liegt das Problem eines israelbezogenen Antisemitismus in weiter Ferne, wo die Menschenrechtslage doch so klar aussieht, ja der Nahe Osten scheint mit außenpolitischen Interessen gar nichts zu tun zu haben. Eine israelfeindliche Haltung droht sich in den Lebensstil von Jüngeren zu schleichen und so selbstverständlich zu werden, wie vegan zu essen oder kohlenstofffrei zu leben oder sich für LGBT-Rechte einzusetzen. Die Rhetorik des universalistischen Humanismus geht ganz gut mit Ausgrenzung einher.
Welcher Umgang mit BDS ist angemessen? Der Bundestagsbeschluss vom vergangenen Jahr hob den antisemitischen Charakter der Kampagne hervor, was in der besonderen diskursiven Sphäre der Bundesrepublik nach wie vor ein verbindliches Signal darstellt. Es ist allerdings fraglich, ob BDS vor allem anderen antisemitisch ist – was für die Mehrheit der Unterstützer sicher nicht gilt – oder ob die destruktive Qualität der Bewegung nicht vielmehr darin liegt, dass sie eine an Frieden orientierte Bearbeitung des Nahostkonflikts kategorisch abweist.
Der Bundestagsbeschluss mag in bester Absicht gefasst worden sein, dennoch wirkt er bereits eigentümlich defensiv. So national geschlossen ist dieser deutsche Diskursraum ja keineswegs mehr. In angelsächsischen Ländern, wo Postcolonial Studies das geistige Klima stark beeinflussen und wo der Nahostkonflikt vor dem Hintergrund eines »Empire« dichter am Kolonialismus situiert wird, gelten andere Normen, was als antisemitisch gilt und was Israel zuzumuten sei. Diese Normen und die mit ihnen verbundenen Sichtweisen dringen inzwischen als Folge einer intellektuellen Globalisierung auch nach Deutschland.
Die Soft-Power-Strategie von BDS mag anstößig sein, aber dass sie akademisch debattiert wird, ist eine Tatsache. Es ist daher sinnvoll und fair, deutlich zwischen Unterstützern und Initiatoren von BDS zu unterscheiden. In den meisten Fällen gilt die Unterstützung gar nicht den Zielen des Aufrufs, sondern der Sorge, per Selbstzensur in der Universität intellektuelle Positionen verbannen zu müssen. Muss jemand, der einmal auf einer BDS-Liste auftauchte, wirklich vom Forschungsbetrieb ausgeschlossen werden? Rede- und Wissenschaftsfreiheit sollten Hexenjagden ausschließen. Der Einfluss von BDS ist ein gesellschaftlicher, und mit staatlicher Politik wird er kaum zurückzudrängen sein. Differenzierende Nachfragen sind es, die Sympathisanten dazu zwingen, ihre Haltung zu den BDS-Zielen zu präzisieren. Ein jeder von ihnen müsste offenlegen, wie weit er bereit ist, die Ziele dieser Bewegung mitzutragen.