Gott nur als Chiffre

Das EKD-Zukunftspapier verliert kein Wort über Tod und Auferstehung. Ein Gastkommentar VON ULRICH H. J. KÖRTNER

Wenn es noch eines Beweises bedurfte, dass sich die evangelische Kirche organisatorisch wie geistlich in einer Abwärtsspirale befindet, hat ihn die EKD mit ihrem Positionspapier »Kirche auf gutem Grund – Elf Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche« geliefert. Offenbar wollte die EKD mit der Veröffentlichung nicht länger warten und so auf die Corona-Krise und die jüngsten Kirchenaustrittszahlen reagieren. In den letzten Wochen wurde über die gesellschaftliche Systemrelevanz der Kirchen diskutiert. Wolfgang Huber, ehemaliger EKD-Ratsvorsitzender, hat eingewendet, die Kirche und das Evangelium seien nicht systemrelevant, sondern existenzrelevant. Davon kann in den Leitsätzen keine Rede sein. Existenzrelevant ist eine Kirche, die eine Antwort auf die Frage gibt, was nach christlicher Überzeugung der einzige Trost im Leben und im Sterben ist. Dazu vernimmt man im Text nur dröhnendes Schweigen.

Zwar liest man irgendetwas von authentischer Frömmigkeit und Glaubenswissen, das weiterzugeben sei, doch wie kann es sein, dass ein Papier mit dem Titel »Kirche auf gutem Grund« von diesem so wenig zu sagen weiß? Als Bibelleser würde man doch zumindest einen Hinweis auf den Apostel Paulus erwarten, der im 1. Korintherbrief, Kapitel 3, schreibt: »Einen anderen Grund kann niemand legen, als der, welcher gelegt ist in Jesus Christus.« Zwar will auch die EKD weiter »öffentlich relevant auf Christus verweisen«. Aber das geschieht bloß im Sinne einer Urbild- und Vorbildchristologie – oder sollte man besser sagen: Jesulogie. Christus, so lässt uns das Zukunfts-Team der EKD wissen, sei Urbild und Vorbild dessen, was die Kirche »für die Vielen« tue. Die Kirche folge ihm und seinem Geist, wenn sie sich für die Schwachen, Ausgegrenzten, Verletzten und Bedrohten sowie für Frieden und Bewahrung der Schöpfung einsetze.

In dieser moralisierenden Auslegung des Evangeliums treffen sich kulturprotestantischer Liberalismus und eine linksliberale politische Theologie, die sich heute gern »Öffentliche Theologie« nennt. Wenn es im EKD-Papier heißt, die Kirche der Zukunft müsse missionarisch sein, so ist doch nicht an Verkündigung und Seelsorge, sondern in erster Linie an ein sozialpolitisches Handeln gedacht, das »zeichenhaft und exemplarisch« sein soll.

Kein Wort hingegen von Tod und Auferstehung Jesu, seiner Heilsbedeutung für den Einzelnen wie die Welt im Ganzen. Kein Wort von Sünde und Vergebung, es sei denn nur von Schuld in einem moralischen Sinne, aber nicht als Synonym für eine zerrüttete Gottesbeziehung. Kein Wort von Gottesferne oder davon, dass Gott in irgendeiner Weise fehlen könnte.

Die Glaubenskrise, die das Zukunftsteam einleitend diagnostiziert, hat offenkundig auch die Ebene der Kirchenleitungen erfasst. Von Gottes lebendigem Wirken in der Welt und in der Kirche ist praktisch nicht die Rede. Zwar gelte es, »Orte geistlicher Weitergabe und Erneuerung zu fördern und die in Gott gebundene Freiheit als Zukunftsmodell der Humanität stark zu machen«. Doch im Grund fungieren Gott und seine Verheißungen nur als Chiffre für die Motivation für ein ethisches Programm der Humanität, das sich auch ganz säkular vertreten lässt. Gleichzeitig wird das traditionelle Gemeinde- und Gottesdienstleben im Geiste moderner Unternehmensberatung einer Kosten-Nutzen-Rechnung unterzogen.

Bereits 1843 notierte Ludwig Feuerbach, der Fortbestand der Kirchen sei kein Beweis für echten Glauben. Die Gläubigen sprächen zwar weiter vom Segen Gottes, doch suchten sie echte Hilfe nur beim Menschen. Daher sei der Segen Gottes »nur ein blauer Dunst von Religion, in dem der gläubige Unglaube seinen praktischen Atheismus verhüllt«.

Die Kirche der Zukunft soll vor allem diakonisch sein. Nun ist die Diakonie zweifellos ein Aushängeschild der Kirche, das freilich nicht durch die sinkenden Kirchensteuern, sondern im Wesentlichen durch die öffentliche Hand finanziert wird. Das christliche Profil unternehmerischer Diakonie und gar ihre Kirchlichkeit ist inzwischen jedoch bis in das Arbeitsrecht hinein umstritten. Die Kirche ist noch bestenfalls die Hintergrundorganisation der Diakonie. Wenn sie aber immer weiter schrumpft und ihre biblisch begründete Identität verliert, was macht dann noch die Kirchlichkeit der Diakonie aus?

Die Leitsätze nehmen Anleihen bei einer von Dietrich Bonhoeffer inspirierten Theologie. Die wahre Kirche, heißt es oft, könne nur als Kirche für andere existieren. Das ist freilich eine verkürzte Beschreibung von ihrem Wesen und Auftrag. Um Kirche für andere zu sein, muss die Kirche erst Kirche sein und bleiben, die Gemeinschaft der an Christus Glaubenden.

Bevor die Kirche zur tätigen Kirche wird, muss sie zunächst einmal hörende Kirche sein. Als solche aber ist sie, mit Bonhoeffer gesprochen, ganz auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen, was christlicher Glaube überhaupt noch bedeutet. Kirche als religiös angehauchte, aber ganz diesseitsorientierte soziale Bewegung schafft sich ab. Sie droht den beschworenen guten Grund unter ihren Füßen zu verlieren.

***

Ulrich H. J. Körtner ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien.