POPULISMUS

Welche Krise?

CDU und CSU wollen der Bevölkerung einreden, sie habe jetzt lange genug verzichtet. Putin wird es freuen Von Mariam Lau

Stellen Sie sich vor, Sie gehen mit einem Mann aus, der während des Abendessens immer wieder seinen prall gefüllten Geldbeutel auf den Tisch legt. Da kommt doch sofort der Gedanke auf: »Wofür hält mich der Kerl?«

Ein ähnliches Gefühl könnten die neuesten Ankündigungen aus der Union auslösen. Ein Rundum-sorglos-Paket für den Herbst hat die CSU anlässlich ihrer Jahresklausur für die Wähler im Angebot: massive Steuersenkungen, ein 365-Euro-Jahresticket für die Bahn, Absenkung sämtlicher staatlicher Gebühren, ein Winter-Wohngeld, einen Tankrabatt bis ins nächste Jahr – und immer an die Rentner denken! Das überrascht. Krise? Welche Krise? Wohlstand für alle solle die Parole sein, nicht immer »Verzicht für viele«, man lebe schließlich nicht in einer »Brokkoli-Republik« – ein Ort, vor dem uns der bayerische Ministerpräsident Markus Söder jetzt gewarnt hat. Der Ukraine helfen – schön und gut, sagen sie dieser Tage in der Union. Aber nun sei es auch mal höchste Zeit, wieder »an die eigene Bevölkerung« zu denken.

Die Union hat Deutschland die fatale Abhängigkeit von Putin mit eingebrockt

Wladimir Putin dürfte begeistert sein. Für ein paar Stimmen mehr wird hier die erste Lektion aus dem russischen Angriffskrieg über Bord geworfen: dass es auch gegen uns geht, gegen »Gayropa« und seine Sicherheitsordnung. Vergessen scheint, dass die Ukraine unseren Kampf kämpft, ihr Überleben also in unserem ureigensten Interesse liegt. Geradezu jubeln dürfte der russische Staatschef darüber, dass Politiker aus der Union fordern, bei den Sanktionen in die Knie zu gehen, sie sogar gänzlich fallen zu lassen und bei Putin um Gas zu betteln, wie es der CDU-Bundestagsabgeordnete Jens Koeppen forderte. Was die Bundesregierung denn zu tun gedenke, fragt CSU-Chef Söder, wenn Putin demnächst die Pipeline Nord Stream 1 abstelle, aber Gas über die umstrittene Nord Stream 2 anbiete – jene Ostsee-Pipeline, deren ganzer Zweck es ist, kein Gas mehr über die Ukraine zu liefern.

Deprimierend ist das Bild von den Wählern, das sich aus diesen tristen Bemerkungen ergibt. Sie sollen mit Geschenken überhäuft werden, ihre Stimmen stehen praktisch zum Kauf. Für sie soll alles so weitergehen wie gewohnt, Verbrennerauto, Wurst und so weiter, das Hemd soll ihnen näher sein als die Hose. Man hält sie, mit anderen Worten, für ein bissl blöd.

Bei dem Versuch, Bürger zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung zu überreden und Hilfspakete zu schnüren, steht die Bundesregierung also womöglich bald allein da. Kann man in der größten Bewährungsprobe seit der Wiedervereinigung nicht mehr auf CDU und CSU zählen, die Parteien der Westbindung, der emphatisch bejahten Wehrhaftigkeit, der »Nato als Wertegemeinschaft«? Schließlich reden wir hier von einer Union, die uns die fatale Lage mit der Abhängigkeit von einem Despoten überhaupt erst mit eingebrockt hat.

Das allein ist schon ein ziemlich starkes Stück. Wenn dann noch hinzukommt, dass die Union ausgerechnet den Grünen – die so gut wie all ihre Heiligtümer in der Not der »Kriegswirtschaft« preisgegeben haben – ideologische Starrköpfigkeit vorwirft, steht man perplex da. Während sich die »vaterlandslosen Gesellen« – wie es über die Sozialdemokraten früher gern hieß – gegen erhebliche Widerstände aus den eigenen Reihen zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine durchgerungen haben, nimmt sich die Union eine Migräne. Wird Friedrich Merz das unwidersprochen lassen? Wann sind CDU und CSU ihr letztes politisches Risiko eingegangen? Apropos Risiko: Glaubt man dem aktuellen Politbarometer, ist noch immer eine Mehrheit der Menschen für eine Unterstützung der Ukraine – selbst dann, wenn sie uns etwas kostet.

Wer wissen möchte, was Pragmatiker von Opportunisten unterscheidet, dem bieten die kommenden Tage einen interessanten Testfall. Aus der Spitze der Grünen wird signalisiert, man könne es von einem Stresstest abhängig machen, ob doch noch eine Laufzeitverlängerung für die Atomkraftwerke denkbar sei. Gleichzeitig gibt es Stimmen in der Union, die sich mit einem Tempolimit auf Autobahnen anfreunden könnten. Dies sind auf beiden Seiten Identitätsfragen, deren Überwindung für die Parteien sehr heikel ist. Für die sogenannte Brokkoli-Republik könnten solche Fragen den Stoff liefern, den die Briten einmal the finest hour nannten: die Zeit, in der man die Zähne zusammengebissen und sich gegen einen gemeinsamen Gegner untergehakt hat.