DIE KLIMA-DEBATTE

Mehr oder weniger?

Ohne Wachstum bricht alles zusammen, heißt es. Die Angst vor dem Klimakollaps ist fast harmlos gegen den Panikmodus der Wirtschaft VON MARC BROST UND BERND ULRICH

Es ist nicht die Gier nach mehr, sondern die Angst vor dem Immer-weniger, die das Steigerungsspiel aufrechterhält.

Hartmut Rosa

Es droht eine wirtschaftliche Rezession. Und wir befinden uns in einer Klimakrise. Man könnte auch sagen: Das eine ist eine Krise des Wachstums, das andere eine durch Wachstum. Eine des Zuwenig und eine des Zuviel. Wie kann das sein?

Wer auf dieses Land schaut, kommt erst einmal nicht auf die Idee, dass hier der Wohlstand nicht genug wächst. In drei besonders erfolgreichen Reality-Shows dieses Jahrzehnts a) beriet ein älterer Herr Menschen, die sich für ihren Konsum in Schulden gestürzt haben; b) half eine ordentliche junge Frau den Leuten, ihre mit Waren aller Art überfüllten Wohnungen wieder auszumisten. Und dann schauten viele c) eine behäbige, aber sympathische Sendung, in der Rares gegen Bares getauscht wurde, damit mit dem Baren dann wieder etwas gekauft werden konnte, das man sich von der ordentlichen jungen Frau wenig später aus der Schublade ziehen lassen durfte.

Bei jenem Teil der Gesellschaft, der kein Reality-TV guckt oder nur heimlich, also den Wohlhabenden und Gebildeten, nimmt der Konsumstress eine andere Gestalt an, ist aber nicht minder anstrengend. Diese Menschen kaufen sich selten mehr, als sie sich leisten können, dafür kaufen sie mehr, als sie konsumieren können, und zwar aus Zeitmangel. Weswegen beispielsweise immer mehr Kleider in den Schränken hängen, die immer seltener getragen werden. Um das Geld, das man sich verdient hat, doch noch irgendwie wieder loszuwerden und die darin enthaltene gesellschaftliche Anerkennung zu materialisieren, nutzen diese Menschen dann beispielsweise jeden kleinsten Urlaub und jeden verdammten Brückentag, um irgendwohin in Urlaub zu fahren, wenigstens nach Barcelona oder im Winter zum Skifahren, wo sie die geschändeten Alpen traktieren.

Große Teile dieser Gesellschaft befinden sich ganz offenbar eher in einer Krempel- und Konsumkrise als in einer Konjunkturkrise.

Aber das ist ja nur das Leben. Daneben gibt es eine zweite Logik, der gehorcht jenes höhere Wesen, das wir verehren: die Wirtschaft. Und die darf alles Mögliche, nur eines nicht: stagnieren oder gar schrumpfen.

Dass die Wirtschaft wachsen muss, kommt uns so selbstverständlich und so elementar vor – die Politik ist ja sogar per Stabilitäts- und Wachstumspakt gesetzlich verpflichtet, sich für das Wachstum jedes zur Verfügung stehende Bein auszureißen – dass man kurz noch mal sagen muss, was das eigentlich bedeutet: Für diese Gesellschaft ist das jeweils erreichte historische Maximum jederzeit das unabdingbare Minimum, ohne das wir hier, ja was, zusammenbrechen? Ausrasten? Verarmen?

Ganz offenkundig handelt es sich um ein hysterisches Grundmuster, da kann die Börse vor acht noch so nüchtern daherkommen. Das wird klar, sobald man sich die Sache materiell und in absoluten Zahlen vorstellt. Nie wieder dürfen die Deutschen nur so reich sein wie im Jahr 2000, als das Bruttoinlandsprodukt ungefähr vier Fünftel des heutigen Wertes betrug. Sicher, damals gab es noch keine iPhones und keine E-Roller. Aber die Deutschen lebten auch nicht mehr in Nissenhütten.

Wenn wir (die Mehrheit) nicht mehr in Saus und Braus leben, sondern nur noch in Hülle und Fülle, dann, ja dann kommen wir nicht mehr gewaltlos aneinander vorbei, dann reiben uns Neid und Knappheit auf, dann stirbt auch die Solidarität, weil sich das egoistische Individuum derlei Altruismus angeblich nur im stetigen Mehr abzuringen vermag. Und auch die Umwelt kann selbstredend nur geschützt werden, wenn der Wohlstand so sehr wächst, dass durch den Umweltschutz kein Weniger entsteht.

Man muss an dieser Stelle ohne jede Kritik und ganz nüchtern festhalten: Unser Bild von Wirtschaft setzt ein misanthropisches Menschenbild voraus, schafft es täglich neu und hält die Gesellschaft in latenter Panik. Wenn das Wachstum ausbleibt, sind wir alle verloren.

Anders – also ohne den Faktor Panik – lässt sich auch schwerlich erklären, welche hohen und immer höheren Preise die westlichen, also die schon sehr, sehr reichen Gesellschaften für das zu bezahlen bereit sind, was sie dann Wachstum nennen. So wurde in den USA über einen längeren Zeitraum mit fiktivem Geld das Wachstum am Laufen gehalten, so lange, bis sich der Subprime-Schwindel im Jahr 2007 entlud und die Welt in die Krise stürzte. In Europa werden heute die Zinsen unter null gesenkt, damit das Geld schön billig ist und unter die Leute kommt, das Sparbuch wurde dem Wachstum also auch geopfert. Jahrzehntelang haben die westlichen Staaten die unfairen Handelsbedingungen und den Ideenklau der Chinesen hingenommen, weil sie hofften, dass deren Wachstumsraten die hiesigen trotz der unfairen Bedingungen nach oben treiben würden. Bis Donald Trump zu dem Schluss gelangte, dass dies zu einem Minusgeschäft für die USA geworden sei und einen Handelskrieg anzettelte, der nun wiederum zur globalen Konjunkturkrise beiträgt.

Im Namen des Wachstums wurden auch Regime mit Waren und Waffen versorgt, denen man zutrauen kann, die Welt ins Unglück zu stoßen; der ganze gigantische Versuch, den Mittleren Osten immer wieder so zurechtzuruckeln, dass am Ende möglichst viel billiges Öl dabei rauskommt, hat unglaubliche Summen Geld verschlungen und Menschenleben zerstört und nebenbei dazu geführt, dass der Mittlere Osten mehr aus den Fugen ist als je zuvor und darum zurzeit – Stichwort Irankrise – mal wieder der Ölpreis steigt, was wiederum die Weltkonjunktur gefährdet.

Und da haben wir über die unfassbare Naturzerstörung, die bis zum heutigen Tag für das Wachstum in Kauf genommen wird, noch so wenig gesprochen wie über die ungeheure Selbstüberredungsmaschine, die da unter dem Namen Werbung in Gang gehalten wird. Denn von sich aus will auch der westliche Mensch gar nicht so viel konsumieren, wie er muss, um das Wachstum am Laufen zu halten.

Man möge dies bitte nicht gleich als Kritik am Wachstum werten, es muss halt darauf hingewiesen werden, dass die moralischen, politischen, ökologischen und eben auch ökonomischen Kosten schier unermesslich geworden sind. Und es stellt sich dann schon die Frage: Geht das noch lange so weiter? Und: Lohnt sich das?

Solche Fragen sind im herkömmlichen ökonomischen Denken zwar erlaubt, aber sinnlos, weil Wachstum alternativlos ist. Das liegt daran, wie die Gesellschaft im Augenblick organisiert ist: Ohne Wachstum brächen die Sozialsysteme zusammen, würde die Arbeitslosigkeit steigen, schrumpften die Steuereinnahmen des Staates.

Wie sehr Wachstum und Arbeit zusammenhängen, hat man in der Finanzkrise 2008 gesehen. Damals brach in Deutschland die Industrieproduktion ein, auf einmal gab es weniger Arbeit, Massenentlassungen drohten. Um das zu verhindern, finanzierte die Regierung das Kurzarbeitergeld: Die Arbeiter hatten zwar weniger zu tun, aber kaum reale Lohneinbußen. Fünf Milliarden Euro kostete das. Dauerhaft möglich wäre so etwas im bestehenden System ganz sicher nicht.

Als Greta Thunberg ihren legendären Satz sagte – »I want you to panic!« –, war ihr wahrscheinlich nicht klar: Wir sind schon in Panik. Und natürlich hat dieser No matter what-Zwang zum Wachstum entschieden autoritäre Züge. In demokratischen Gesellschaften, in denen die Regierungen dem Volk zu dienen haben, gibt es außerhalb von Kriegen nur eine Situation, in denen Bundeskanzler, Präsidenten und Premierminister sich trauen, das Volk anzuschnauzen, es zur Ordnung zu rufen, zum Verzicht und zum Fleiß anzuhalten – und das ist die Wirtschaftskrise. Dann sind auch radikale Maßnahmen erlaubt, ja geboten.

Aus diesem Grunde sehen einige im politischen Berlin die aufziehende Rezession nicht nur negativ, sondern auch als Gelegenheit, Schluss mit diesem Modethema Klima zu machen und die wirklich wichtigen Themen wieder auf die Agenda zu setzen, also die Wirtschaft. Diese Politiker glauben aus unerfindlichen Gründen, dass Ökonomie hart ist und Ökologie weich, sie meinen, ein Auto sei irgendwie materieller als ein Wald, ein Geldschein realer als ein CO₂-Molekül.

Nun gibt es Menschen, die der Meinung sind, dass die Klimaerhitzung ein zu hoher Preis für das Wachstum sein könnte. Manche plädieren sogar für eine No-Growth-Ökonomie, weil in ihren Augen unendliches ökonomisches Wachstum auf einem endlichen Planeten nicht möglich sei und darum Kapitalismus und Ökologie unvereinbar seien.

Darauf erwidert die Panikfraktion des Kapitalismus, was sie immer antwortet: dass nämlich auch die Rettung der Natur (nur) mit Wachstum möglich sei, weil die Marktmechanismen von selbst für eine immer effizientere Wirtschaft sorgen, erst recht wenn man ihr mit ein paar staatlichen Vorgaben Beine macht. Kann sein, kann nicht sein, hat jedenfalls eine höchst ambitionierte Voraussetzung: Bisher wurden viele Effizienzgewinne beim CO₂-Ausstoß und beim Ressourcenverbrauch durch Massenzuwachs aufgezehrt. (Das SUV ist der lebende Beweis: Wie viel Energie hätte man noch vor 20 Jahren gebraucht, um 2,5 Tonnen zu bewegen?) Theoretisch ist Wachstum innerhalb der planetaren Grenzen möglich, allerdings nur, wenn das Eingesparte nicht sofort woanders wieder draufgeschlagen wird. (Um beim Beispiel Auto zu bleiben: Ein wirklich klimafreundliches und wahrscheinlich technisch völlig unmögliches Auto wäre ein Golf mit dem Gewicht, das er in den Siebzigerjahren hatte, angetrieben von einem der supereffizienten Motoren von heute.) Das Wirtschaftswachstum darf also den Fortschritten bei der Effizienz nicht enteilen – was sehr unwahrscheinlich ist. Weshalb eine verantwortliche und rationale Klimapolitik zwar darauf zielen kann, vereinbar zu sein mit dem herkömmlichen Wachstum, aber sie darf sich nicht davon abhängig machen.

Es gibt aber noch ganz andere Probleme im Spannungsfeld von Ökologie und Wachstum. Grüne Anhänger der kapitalistischen Markwirtschaft schlagen auch angesichts der absehbaren Rezession ein gigantisches öko-keynesianisches Konjunkturprogramm vor. Tatsächlich spricht viel dafür, diesen Weg zu gehen, weil schon allein der Zeitdruck gewaltige Investitionen in Technologie und Infrastruktur nötig macht. Nur, wenn ein solches Programm erst einmal eine nachhaltige Wirtschaft geschaffen hat, dann halten die Waschmaschinen länger, dann stehen tatsächlich weniger Kühe in den Ställen und auf den Weiden, dann sind die Hemden teurer, wir haben aber weniger davon, tragen sie länger, waschen sie seltener und schonender. Was wird dann aus dem Wachstum? Wir wissen es nicht.

Und darum genau geht es heute im Kern. Nicht um eine Abschaffung des Kapitalismus, diesmal auf dem grünen Schleichweg, sondern darum, ob diese Gesellschaft sich aus ihrem ökonomischen Panikmodus befreien kann; ob sie die Nerven hat, Wirtschaft wieder als einen offenen Prozess zu betrachten, bei dem nur eine Variable unumstößlich ist: dass er die Erde nicht weiter zerstören darf. Die Frage in dieser historischen Epoche kann nicht mehr sein, ob Ökologie mit Wachstum vereinbar ist, vielmehr umgekehrt: Kann Wachstum mit Ökologie vereinbart werden?

Und da derzeit ausgerechnet die glühendsten Verfechter des Kapitalismus anhand der Klimafrage, des billigen Fleisches und Fliegens die für sie offenbar erschütternde Erkenntnis fassen, dass Arme sich weniger leisten können als Reiche: Wirft die Klimafrage womöglich die soziale Frage noch mal ganz neu auf? Und wenn sie mit Abstrichen beim Klima nicht länger beantwortet werden darf, dann womöglich mit Abstrichen bei der Ungleichheit?

Wie gesagt, wir wissen all das nicht ganz genau, und dieses Nicht-Wissen müssen wir nun eben aushalten, uns wird schon was einfallen. Einem ist schon vor neunzig Jahren etwas eingefallen:

Mitten in der schwersten Wirtschaftskrise des 20. Jahrhunderts, zu Beginn der 1930er-Jahre, prognostizierte John Maynard Keynes, dass »das wirtschaftliche Problem innerhalb von hundert Jahren gelöst sein dürfte«. Im Jahr 2030 seien die Menschen von den »drückenden wirtschaftlichen Sorgen erlöst«. Es seien »Dreistundenschichten oder eine Fünfzehnstundenwoche« völlig ausreichend, um die Lebensbedürfnisse zu befriedigen.

Heute klingt das wie Hohn. Viel zu arbeiten und einen hohen Lohn nach Hause zu bringen gehört in den modernen Industriegesellschaften des Westens einfach dazu. Die Krankenversicherung, das Arbeitslosengeld und die Rente hängen vom Lohneinkommen ab. Weniger zu arbeiten und die vorhandene Arbeit zu teilen ist gar nicht möglich, solange die Sozialsysteme so organisiert sind wie jetzt. Und solange Einkommen und Vermögen so ungleich verteilt sind.

Am Ende kann über Wachstum nur rational diskutiert werden, wenn auch über das ihm zugrunde liegende negative Menschenbild gesprochen wird. Können wir wirklich nur im Überfluss solidarisch sein? Werden Manager wirklich faul, wenn sie eine Million weniger verdienen oder wenn sie ihren Verdienst nicht mehr im Anhäufen von möglichst viel veredelter Materie realisieren können, weil das gesellschaftlich verpönt ist? Was passiert überhaupt, wenn Erfolg nicht mehr so sehr in Geld ausgedrückt wird, wenn er weniger vorzeigbar ist?

Man sieht schon: Nach der Panik fängt das Leben neu an.

Illustration: Doreen Bursutzki für DIE ZEIT www.zeit.de/audio