GRÜNER LEBEN

Viel Lärm um nichts

Die Studie einer Bundesbehörde bremste die Energiewende und beflügelte Windkraftgegner. Zu Unrecht  VON SUSANNE GÖTZE UND ANNIKA JOERES

Windkraftanlagen verschandeln nicht nur die Landschaft, sie machen auch krank. Mit solchen Behauptungen verhindern Bürgerinitiativen in Deutschland immer wieder den Bau von Windparks. Zum Beispiel in Bayern: In Speichersdorf bei Bayreuth wurde vor einem Jahr die Planung neuer Windkraftanlagen gestoppt. Mit Warnhinweisen wie »Auf Dauer tödlich« verbreitete die Bürgerinitiative »Windparkfreie Heimat – Rund um den Rauhen Kulm« Unsicherheit. Die kleine Gruppe von elf Windkraftgegnern postete Videos, verteilte Infoblätter, und am Ende entschied sich der Gemeinderat gegen das Projekt.

Deutschlandweit behaupten Windkraftgegner, durch Windturbinen erzeugte Infraschallwellen verursachten Tinnitus oder Schlafstörungen und begünstigten Folgeerkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems. Infraschall ist ein Schall, dessen Frequenz so tief ist, dass er vom menschlichen Ohr nicht wahrgenommen wird. Solcher Schall ist selbst im Innenraum von Autos messbar, aber zum großen Thema wird er in der Windkraftdebatte.

Immer wieder wird dabei dieselbe Studie zitiert. Der unhörbare Schall von Windkraftanlagen wurde 2009 von der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) in Hannover publiziert, einer direkt dem Bundeswirtschaftsministerium unterstellten Behörde. Darin heißt es: Der Infraschall »moderner und großer Windkraftanlagen mit Leistungen von mehr als 500 kW« produziere Infraschall von mehr als 100 Dezibel Lautstärke. Die Studie des BGR hat es von den wissenschaftlichen Diensten des Bundestages bis zum Deutschen Ärzteblatt in allerlei anerkannte Publikationen geschafft, auch ein Mainzer Kardiologe nutzte die Dezibelzahl für seine Forschungen an Herzzellen. In einer ZDF-Dokumentation wurde auf ihrer Grundlage behauptet, der Infraschall raube Anwohnern im Umfeld der Windräder »den Schlaf«.

Doch die Studie ist in einem zentralen Punkt falsch: Ausgerechnet die in Dezibel ausgedrückte Lautstärke ist zu hoch berechnet. Vor wenigen Tagen hat das Bundesamt sie nach unten korrigiert. Es gebe einen »systematischen Fehler« – die Veröffentlichung sei nun »in Überarbeitung«, heißt es auf der Internetseite. Die Lautstärke sei 36 Dezibel niedriger als ursprünglich angegeben. Klingt nach wenig, macht aber einen riesigen Unterschied: Zehn Dezibel mehr bedeuten ein zehnmal so lautes Geräusch – der Unterschied ist so groß wie der zwischen einem Vieraugengespräch und einem in zehn Meter Entfernung vorbeifahrenden Auto.

Der Erlanger Physik-Professor Martin Hundhausen sagt, dass die BGR-Studie den Windräder-Infraschall um den Faktor 10.000 zu hoch ansetze. Das zugrunde liegende Windrad sei viel größer als angenommen und die Umrechnung in Frequenzspektren fehlerhaft.

»Natürlich irren sich auch Forscher immer wieder – aber auf Hinweise von Kollegen werden Fehler dann auch umgehend korrigiert«, sagt Hundhausen. Dies sei besonders bei politisch bedeutsamen Aussagen geboten.

Doch die BGR ignorierte offenbar über Jahre Studien mit stark abweichenden Resultaten. So kommen das Landesumweltamt Baden-Württemberg (LUBW), internationale Studien und auch neue Berechnungen der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt nur auf Schalldrücke von 60 Dezibel in 200 Meter Entfernung zu Windrädern. Einzig die BGR publizierte Werte von 90 Dezibel und mehr. »So eine große Diskrepanz ist physikalisch absolut ausgeschlossen. Das hätte der BGR früher auffallen müssen«, sagt Hundhausen.

Ist es aber nicht, was auch daran liegen könnte, dass es die Aufgabe der BGR ist, die Einhaltung des internationalen Atomwaffensperrvertrages zu überprüfen. Dafür betreibt sie an zwei Standorten in Deutschland große Infraschall-Messstationen, die illegale Atomtests in weiter Ferne aufspüren sollen. 2004 wollte sie offenbar untersuchen, ob der Betrieb von Windrädern solche Messungen beeinträchtigen könnte. Mittlerweile aber hat sie dazugelernt.

Die BGR schreibt auf Nachfrage, man habe »in der Folge eines fachlichen Austausches mit der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt (PTB) in diesem März intern eine vertiefte Prüfung veranlasst«. Dabei habe sich ein Fehler bei der Programmierung des Algorithmus herausgestellt, durch den die Störsignale an Windanlagen überschätzt worden seien. Die BGR plane nun neue Messreihen an »modernen Windanlagen«.

Der Bayreuther Umweltwissenschaftler Stefan Holzheu sagt, er habe dem Autor der BGR-Studie, Lars Ceranna, seit Frühjahr 2020 insgesamt 18 E-Mails mit seinen Anmerkungen und Korrekturen geschickt, um mit ihm »von Wissenschaftler zu Wissenschaftler« zu diskutieren. Holzheu wurde auf das Thema aufmerksam, als wenige Kilometer entfernt von seinem bayerischen Dorf eine Bürgerinitiative wegen der angeblichen Infraschall-Belästigung ein Windrad verhindern wollte – das kam ihm, dem Sensortechniker, seltsam vor.

Der schleppende Ausbau der Windräder bremst den Klimaschutz

»Der Fehler der BGR ist keine Lappalie«, sagt Holzheu. Die falschen Zahlen hätten dazu beigetragen, Windradprojekte mit dem Infraschall-Argument zu verhindern. Die BGR aber habe ihm zunächst ausweichend geantwortet und schließlich gar nicht mehr. Nachdem Holzheu dem Autor ankündigte, auf seiner Website über die falschen Zahlen informieren zu wollen, sollte er seine Darstellung nicht ändern, habe Ceranna Holzheus Chef angerufen. Holzheus Ankündigung sei der Rechtsabteilung des BGR aufgefallen, und sie denke nun darüber nach, »rechtliche Schritte einzulegen«, heißt es in einer anschließenden E-Mail des Chefs an Holzheu.

Doch Holzheu publizierte weiter auf seiner Internetseite zur BGR-Studie – und die rechtlichen Schritte blieben aus. Holzheu setzt sich auch in seinem Dorf für Windräder ein. »Ohne Erneuerbare werden wir unsere Klimaziele nie erreichen.« Der Ausbau des Ökostroms ist längst Gesetz: Bis 2030 soll der Anteil erneuerbarer Energien an der gesamten Stromgewinnung laut Klimapaket auf 65 Prozent steigen. Wenn Deutschland klimaneutral werden will, muss seine Energie vor allem aus Wind, Sonne und Biogas gewonnen werden.

Im vergangenen Jahr stellten erneuerbare Energieformen erstmals über 50 Prozent des deutschen Strommixes. Die Windkraft allein lieferte 27 Prozent – mehr als Braun- und Steinkohle. Doch damit die Klimaziele noch erreicht werden, müsste allein die Windkraft an Land um rund acht Gigawatt pro Jahr zulegen, rechnet das Fraunhofer-Institut vor. 2020 lag der Zuwachs nur bei 1,4 Gigawatt.

Der Alarmismus der Windkraftgegner macht selbst Gesunde krank

Das liegt auch an Gemeinden, in denen oftmals nur mit einer Handvoll gut organisierter Bürger Windparks verhindert werden. So wie in Speichersdorf bei Bayreuth. Nach dem Beschluss des Gemeinderates ist Windkraft dort unmöglich geworden. Die Angst vor Infraschall habe auf jeden Fall eine Rolle gespielt, sagt Bürgermeister Christian Porsch.

Womöglich führte die BGR-Studie mit den fälschlich hohen Dezibelzahlen sogar zu realen Beschwerden bei Anwohnerinnen und Anwohnern von Windradanlagen. Dies beweist ein viel beachtetes Experiment von Gesundheitspsychologinnen der neuseeländischen Universität Auckland. Sie führten eine Gruppe von Probanden in einen Raum mit erhöhtem Infraschall. Die eine Hälfte las vorher beunruhigende Berichte über gesundheitliche Folgen des unhörbaren Schalls, die andere nicht. Das Ergebnis: Die durch die Berichte alarmierte Gruppe verspürte Kopfschmerzen, Schwindel oder Herzklopfen – der zweiten Gruppe ging es so gut wie vorher. Das Fazit der Forschenden: »Psychologische Erwartungen könnten erklären, warum Windräder zu gesundheitlichen Problemen führen.«

Die BGR verteidigt ihre Studie auf Anfrage. Ein »unsachgerechtes Einbringen« ihrer Arbeit durch Interessengruppen sei zu bedauern, jedoch seitens der BGR nicht zu verhindern. »Die BGR weist stets darauf hin, dass sich ihre Arbeiten auf die oben beschriebenen hochempfindlichen Messsysteme beziehen, nicht jedoch auf die Auswirkung des von Windenergie-Anlagen generierten Infraschalls auf Menschen.«

Allerdings trat der für die fehlerhafte Veröffentlichung verantwortliche Mitarbeiter der BGR, Lars Ceranna, in einer ZDF-Dokumentation auf – das Thema: Welche Folgen hat Infraschall für Nachbarn von Windrädern? Darin zeigt Ceranna seine Kurven mit 100 und mehr Dezibel und behauptet, große Windkraftanlagen würden »noch in 20 Kilometer Entfernung ein möglicherweise detektierbares Infraschallsignal generieren«. Von dieser vielfach kritisierten Angabe weicht die BGR auch heute nicht ab: Es bleibe bei dem für Störsignale relevanten Entfernungswert von 15 Kilometern, schreibt sie. Für den Physiker Hundhausen ist dies der nächste Fehler: »Die 15 Kilometer sind nicht realistisch und widersprechen gängiger wissenschaftlicher Erkenntnis.« Die BGR habe keine Messung dazu vorgelegt. Schon bei einem Abstand von 800 Metern sei der Infraschall von Windrädern nicht größer als allgemeines Hintergrundrauschen.

Der Bundesverband Erneuerbare Energien (BEE) kennt die Kritik an den Zahlen der BGR und hält eine Korrektur für überfällig. »Bundesbehörden müssen ihre Aussagen wissenschaftlich fundiert treffen und dürfen nicht zum Stichwortgeber der Energiewende-Gegner werden«, sagt BEE-Präsidentin Simone Peter. Infraschall sei weder gefährlich noch in irgendeiner Weise schädlich, er sei zum Beispiel bei Autofahrten höher als bei Windenergieanlagen. »Zahlen wie aus der BGR verdrehen die Realität«, sagt Peter. Sie schürten nur eines: Angst.

Foto [M]: Mark Mühlhaus/attenzione/Agentur Focus

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