Büüüargh!

Von der Biene Maja bis zum Sams: Die Helden der Kindergeschichten werden verschlankt, geglättet und zur Niedlichkeit verdammt. Warum dürfen sie nicht mehr sie selbst sein? VON STEFANIE FLAMM

»Die alten Kinderbuchbilder zeigten fantastische Wesen. Die neuen vermitteln den Kindern die sozialen Zwänge unserer Zeit«

Stefanie Flamm

Jetzt hat es also das Sams erwischt. Für alle, die gerade nicht so im Thema sind: Das Sams ist ein merkwürdiges Wurstwesen mit struppigen roten Haaren und einer riesigen Schweinenase, das irgendwann im Jahr 1973 aus einem Paralleluniversum in das kleine Leben eines gewissen Herrn Taschenbier plumpste und dort Geschichte um Geschichte alles durcheinanderbringt. Nun, im neunten Band der Kinderbuchreihe von Paul Maar, ist aus dem eher unansehnlichen Quälgeist ein niedliches Frätzchen geworden, das mit einem dynamischen Lächeln über die Seiten federt. Meine Kinder finden das neue Sams »supersüß«. Ich finde es schrecklich.

Na ja, könnte man jetzt sagen: Das Sams ist ein Kinderbuch, und wenn’s den Kindern gefällt, wo ist das Problem? Aber das Sams ist eben nicht irgendein Kinderbuch, sondern das letzte Buch eines der größten lebenden deutschen Kinderbuchautoren, der als professioneller Grafiker die ersten acht Sams-Bände selbst illustriert hat. Und es ist bei Weitem nicht die einzige Kinderbuchfigur, die in den vergangenen Jahren durch die Niedlichkeitsmühle gedreht wurde.

Erinnern Sie sich noch an die Pippi Langstrumpf aus Ihren Kindertagen, dieses kleine runde Mädchen mit dem viereckigen Gesicht? Ist einer gertenschlanken, stupsnasigen Person gewichen, der man später durchaus eine Laufstegkarriere zutrauen würde. Oder an Ronja, die zottelige Tochter des sentimentalen Räuberhauptmanns Mattis? In der neuen Comic-Ausgabe von Astrid Lindgrens Alterswerk erscheint sie als glutäugige Schönheit, die schwarzen Locken so wohlgeordnet, als käme sie gerade vom Friseur. Und was ist mit Christine Nöstlingers feuerroter Friederike passiert, die in der Originalausgabe nicht nur sehr rothaarig, sondern auch sehr, sehr dick war? Mit Pumuckl, um auch mal ein Beispiel aus der Welt des Fernsehens zu bringen? Zahnspange und Abmagerungskur?

Als das ZDF vor fünf Jahren in der neuen 3-D-Verfilmung aus der pummeligen Biene Maja und ihrem noch pummeligeren Freund Willi zwei Hungerhaken mit Flügeln machte, lautete die Begründung, übergewichtige Bienen entsprächen nicht mehr dem Zeitgeist. Die Sehgewohnheiten hätten sich verändert. Das stimmt. Auch ich zucke regelmäßig zusammen, wenn ich in einem alten Film die ungezupften Brauen, die buschigen Achselhöhlen, die fetten Hintern und die schiefen Zähne der Helden meiner Achtziger-Jahre-Kindheit sehe. Krasseste Beispiele: die speckige Madonna aus der Desperately Seeking Susan-Phase und das Dracula-Gebiss des jüngeren David Bowie. Und wenn selbst ein cooler Hund wie David Bowie sich das Mundwerk normieren lässt, warum soll das Sams mit Wurstkörper und Schweinerüssel alt werden? Was spricht dann dagegen, Pippi größer und schlanker und Friederike hübscher zu machen? Nun, vielleicht dass Bowie in diesem Punkt ein schlechtes Vorbild war.

Es gehört längst zur kulturkritischen Folklore, die glatten Bilder von makellosen Menschen, die seit Jahren aus allen Kanälen auf uns einströmen, zu beklagen und darin ein Zeichen eines fehlgeleiteten Optimierungswahns zu sehen, der jungen Leuten viel Stress mit ihren nicht ganz so optimalen Körpern macht. Zumindest theoretisch verachten aufgeklärte Gegenwartsmenschen ja nichts mehr als Gleichmacherei. Wir feiern die Buntheit, die Vielfalt, neudeutsch diversity. Wir achten darauf, allen Abweichungen von der Norm mit größter Zugewandtheit zu begegnen, und sind peinlich darum bemüht, beim Sprechen jedes Klischee zu vermeiden, das jemand als demütigend empfinden könnte.

Auch die Kinder kennen die Dos und Don’ts im Schlaf. Unsere älteste Tochter hat uns erst kürzlich mit der Erkenntnis verblüfft, dass der Ausruf »Alter Schwede!« eine Beleidigung der »nordeuropäischen Ureinwohner« sein könnte. Erwachsenen, die ihrer afrodeutschen Freundin durch die krausen Haare fahren wollen, haut sie sofort auf die Finger. Schon mit neun hat sie ein gutes Gespür für jede Form von Übergriff; in der Schule lernt sie, dass Toleranz ein hohes Gut ist und fat shaming eine böse Sache. Jede zweite Mail, die ich von der Direktorin bekomme, endet mit dem Satz »Wir sind alle anders«.

Nur, wie bitte schön geht das zusammen, dass wir überall die Diversität feiern, sie aber gleichzeitig aus unserer Bilderwelt verbannen? Weil wir gar nicht wollen, was wir so gerne wollen würden? Weil wir nicht aushalten, was wir irgendwie schon wollen? Weil wir in unserem Selbstbild so tief verunsichert sind, dass wir uns trotz aller Bekenntnisse heute mehr nach der Banalität normierter Schönheit sehnen denn je? Da sollte man mal einen Psychoanalytiker dransetzen.

Bei den Kinderbüchern, von denen hier die Rede ist, sticht der Widersinn noch offensichtlicher ins Auge. Seit Jahren schon werden Pippi, Ronja, Friederike, das Sams als Vorbilder für aufmüpfiges und unangepasstes Verhalten herumgereicht. Man benennt Spielplätze, Kindergärten und Grundschulen nach ihnen. Außerdem kokettiert man gerne damit, früher auch mehr so der Ronja-Typ gewesen zu sein. Das muss nicht stimmen, kommt aber gut an. Denn deutsche Eltern wünschen sich Kinder, die so wild und frei sind wie die Helden ihrer Bücher. Oder glauben sie das nur? Fürchten sie sich womöglich davor, dass ihre Kinder tatsächlich so werden, und sind deshalb insgeheim beruhigt, wenn selbst die crazy Pippi jetzt aussieht wie eine höhere Tochter am Casual Friday?

Die Verlage jedenfalls sagen: Wir machen, was sich verkauft. Und die Erfahrung zeige nun mal, dass auch vermeintlich beliebte Klassiker in den Buchhandlungen verstauben, wenn ihre Aufmachung nicht auf der Höhe der Zeit ist. Da sind wir wieder bei den Sehgewohnheiten. Doch entsprachen diese Figuren jemals irgendwelchen Sehgewohnheiten? Lag ihre Wucht nicht gerade darin, dass sie nicht zum Vorbild taugten?

Pippi Langstrumpf entstand im Kriegswinter 1941 in Schweden, damals noch kein Musterländle der Achtsamkeit, sondern ein armes, von einem unbarmherzigen Protestantismus regiertes Königreich, in dem ein schwer erziehbares Kind mit Legasthenie und ausgewachsener Rechenschwäche sofort im Heim gelandet wäre. Man darf vermuten, dass Astrid Lindgren ihrer Tochter Karin mit diesen Geschichten nicht nahelegen wollte, den Schulbesuch einzustellen und abends mit Schuhen ins Bett zu gehen. Es ist auch nicht völlig abwegig, dass Paul Maar ein Kind, das durch samshaftes Dauerquasseln und mutwilliges Wörtlichnehmen alle zur Weißglut gebracht hätte, einem Psychologen vorgestellt hätte.

Aber was ist das Sams? Jedenfalls kein Kind, das in die ADHS-Therapie muss, sondern ein Wesen aus einer anderen Dimension, irgendwo zwischen Märchen und Wirklichkeit. In dieser Grauzone des Fantastischen, in der auch Pippi, Ronja und Friederike leben, gelten die Regeln der Erwachsenen nicht, denn hier muss keiner erwachsen werden – oder auch nur die Macht der Naturgesetze anerkennen. Hier haben vernachlässigte schwedische Mädchen Bärenkräfte, Störenfriede Wunschpunkte im Gesicht und adipöse Mobbingopfer feuerrote Haare, mit denen man fliegen kann. In diesem »unbekannten Land« darf man mal eben auf eine Südseeinsel verschwinden, tagelang am Rand einer lebensgefährlichen Schlucht rumhängen oder, um im Bild zu bleiben, selbst als Biene auch mal fett und faul sein.

Pädagogen betonen gerne, dass diese Geschichten Kindersehnsüchte und -ängste artikulieren, weil sie auf eine lustige Art zeigen, was in der Erwachsenenwelt alles nicht stimmt. Astrid Lindgren selbst hat mal von der »heilenden Wirkung« ihrer Bücher gesprochen. Was auch stimmt: Anders als beim klassischen Zaubermärchen gibt es hier keine bittere Moral von der Geschicht’. Und im Vergleich zu dem brachialpädagogischen Realismus von Conni, Feuerwehrmann Sam und wie all diese Kinderratgeber heißen, die in den großen Buchhandlungen ganze Regalwände füllen, sind die Klassiker Rock ’n’ Roll. Man lernt darin nicht, wie man Pizza macht und dass im Haus regelmäßig die Feuermelder gewartet werden müssen, man lernt, sich eine Welt vorzustellen, in der Dinge möglich sind, auf die die Eltern niemals kommen würden.

Schon vor Jahren hat Walter Scott, ein Sicherheitsexperte der Nasa, in einem langen Aufsatz die Nachwuchsprobleme seiner Branche mit einer grassierenden Fantasielosigkeit begründet. Kinder, die nicht läsen, würden keine guten Forscher, weil sie sich nicht vorstellen könnten, dass hinter dem Offensichtlichen etwas anderes lauert. Sie würden keine Erfinder, weil sie die Dinge so nähmen, wie sie sind. Weniger ambitioniert ausgedrückt: Sie erwarten von der Welt nichts, was die ihnen nicht ohnehin anbietet.

Scotts Essay stammt aus dem Jahr 2002, damals bereiteten ihm Computerspiele große Sorgen. Heute müssen Eltern und Pädagogen eine Haltung zum digitalen Dauerregen finden, in den sich schon Grundschüler gerne stellen. Es hat wenig Zweck, sie von der Technik fernzuhalten, denn dann lernen sie nie, mit dem ganzen Gegacker und Gegiggel der glitzernden YouTube-Welt von »Bibi liebt dich« und »How to make the best slime« umzugehen.

Es ist eine Binsenweisheit, dass gute Bücher Kindern dabei helfen, diesen Bildern, die auf sie einprasseln, eigene, innere Bilder entgegenzusetzen. Harry Potter zum Beispiel oder die großartige Rico und Oskar-Reihe von Andreas Steinhöfel, deren Geschichten zwischen Förderzentrum und Nachtclub spielen, also in einem Milieu, das viele Eltern vermutlich nie zu Gesicht bekommen. Für jüngere Leser sind es aber vor allem die Klassiker, die sich über die Jahrzehnte behauptet haben, weil sie die Welt nicht zeigen, wie sie ist oder wie sie sein soll. Hier bleibt bis heute ein magischer Rest, irgendwas, das über das Bekannte hinausweist. Oder sollte man besser sagen: blieb?

Radikale Lesedidaktiker wie der Göttinger Erziehungswissenschaftler Christian Rittelmeyer lehnen Kinderbuchillustrationen kategorisch ab, weil jedes Bild die Fantasie beschneidet. Mir würde es schon reichen, wenn die Bilder die Geschichten von unseren fragwürdigen Sehgewohnheiten verschonen würden. Die alten, oft ins Groteske lappenden Bilder zeigten halbfantastische Wesen, die kein Kind in seiner Nachbarschaft vermutet hätte. Ihre neuen, glatten Versionen holen sie genau dorthin: in unsere von sozialen Zwängen regierte Gegenwart.

Aber die Kinder wollen es so, sagen die Verlage. Bei Lesungen und Gesprächen zeige sich, dass Kinder auf die neuen Bilder spontan viel besser reagierten. Natürlich tun sie das. Sie leben ja auch nicht in Takatuka-Land, sondern in einem Umfeld, in dem man früh lernt, was schön ist und was nicht. Meine Kinder finden das alte Sams jetzt schon hässlich. Es hat keinen Zweck, ihnen zu erklären, dass es in seiner Welt nie hässlich war, weil Schönheit dort überhaupt kein Maßstab ist. In ihrer Welt ist sie das. Und in ihren Büchern jetzt auch.

www.zeit.de/audio Composing: Matthias Schütte für DIE ZEIT, verwendete Illustration: ©Studio 100 media GmbH Illustrationen: Biene Maja: ©Studio 100 media GmbH; Das Sams: Oetinger, Illustration: Paul Maar und Nina Dulleck (neu); Pippi Langstrumpf: Oetinger, Illustration: Ingrid Vang Nyman und Katrin Engelking (neu)