SINN & VERSTAND REDE UND GEGENREDE

Wie herrscht Angst?

Unter allen menschlichen Emotionen ist die Angst die machtvollste. Doch wir können verhindern, dass sie politischen Schaden anrichtet. Ein Gespräch mit der Philosophin Martha Nussbaum

DIE ZEIT: Weil das Wort in aller Munde ist, zuerst eine Klärung, bitte: Was ist in Ihren Augen Angst?

Martha Nussbaum: Angst ist das Gefühl, das wir aufgrund unserer körperlichen Verletzlichkeit mit den meisten Lebewesen teilen. In der menschlichen Entwicklung tritt sie unter den Gefühlen als erstes auf. Sie eilt dem Nachdenken voraus. Aristoteles meinte: Angst ist das Leid, das einen angesichts eines anscheinend bevorstehenden Übels packt, verbunden mit einem Gefühl der Machtlosigkeit, das Übel nicht aus eigener Kraft abwenden zu können. Diese Definition ist ziemlich gut. Heute fühlen sich in den demokratischen Gesellschaften viele Menschen machtlos, sie haben Angst, dass ihnen die Kontrolle über ihr Leben entgleitet.

ZEIT: Ist es nicht einfach eine menschliche Tatsache, Angst zu haben? Warum müssen wir die Angst heute fürchten?

Nussbaum: Weil sie die Demokratie bedroht. Sie ist für nicht alle Regierungsformen gleichermaßen bedrohlich. Die Autokratien beruhen ja geradezu auf ihr. Sie nähren sich aus der Angst der Untertanen, um deren Gehorsam zu erzwingen. Neu ist die Gefahr nicht: Auch die antiken Demokratien hatten ein Problem mit der Angst, dem Ärger, der Wut. In der Orestie von Aischylos fordern die wütenden Furien mit ihrer Vergeltungssucht die Rechtsordnung bis an ihre Grenze heraus. Heute mischt sich in unseren Gesellschaften die Angst mit dem Ärger, dem Abscheu, den Schuldzuweisungen zu einem brandgefährlichen Gebräu, sie sucht Opfer und vergiftet die Zuversicht.

ZEIT: Angst vermag Leben zu retten.

Nussbaum: Gewiss, sie gehört zur Überlebensausstattung und kann auch ein guter Ratgeber sein. Es kommt daher in einer Demokratie darauf an, die Ängste genau zu prüfen und einzudämmen, damit sie ihr Gift nicht freisetzen.

ZEIT: Aus der Erkenntnis, dass Menschen Angst vor der Gewalt haben, die sie einander zufügen, kann politisch Vernünftiges entstehen. Der moderne Staat mit seinem Gewaltmonopol, so sah es der Philosoph Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert, begründet sich dadurch, dass Menschen einander sonst dauernd fürchten müssten.

Nussbaum: Nur war Hobbes kein Demokrat, seine Idee der Herrschaft fußte auf der Angst vor dem Fürsten. Hobbes hielt diese Angst für unverzichtbar. Ich meine dagegen, dass man sie durch eine vernünftige öffentliche Kommunikation gestalten und überwinden kann.

ZEIT: Manchmal ist Angst unverzichtbar. Sie kann politisch berechtigt und nützlich sein.

Nussbaum: In der Tat. Premierminister Winston Churchill hatte recht, als er den Briten mitteilte, der nationalsozialistische Faschismus sei zu fürchten, und als er sie dadurch zum Widerstand mobilisierte. Churchill hat vorgemacht, wie man unterscheidet zwischen einer Angst, die berechtigt ist, die politisch fruchtbar sein kann, und solcher Angst, die nach Sündenböcken sucht und Schuldzuweisungen vornimmt. Die Erstere will Wut und Vergeltungslust in demokratische und rechtsstaatliche Verfahren umwandeln. Sie kommt ohne die Rhetorik der Verächtlichkeit aus. Churchill hat ja nicht die Deutschen generell verabscheut, sondern den Nationalsozialismus. Die giftige Sorte der Angst hingegen gibt der Vergeltung und Rache Raum, und sie wählt oft Redeweisen der Abwertung und der Erniedrigung.

ZEIT: Ein Beispiel?

Nussbaum: Im Märchen von Hänsel und Gretel sind Hunger und bittere Armut das reale Problem. Doch die Geschichte erfindet eine hässliche, kinderfressende Hexe, der als Sündenbock alle Schuld zugewiesen wird. Das ist das Muster, nach dem toxische Angst herrscht.

ZEIT: Sie setzen in Ihrem Denken die Antike, die Welt der Märchen und die heutigen Demokratien zu einem Bild zusammen. Dabei liegen sie weit auseinander.

Nussbaum: Ich finde es hilfreich, aus der Gegenwart einen Schritt zurückzutreten. Aus dem Abstand wird die Fähigkeit von Demokratien erkennbar, so lange informieren, streiten und argumentieren zu können, bis sich eine berechtigte Angst von ihren giftigen, vernichtenden Exzessen unterscheiden lässt. Die Demokratie kann im Streit herausfinden, was ihre höchsten Güter sind und was hingegen ein Übel ist, das bekämpft werden muss. Das kann sie unter allen Regierungsformen besonders gut.

ZEIT: Sollten wir nicht deshalb eher über die realen Probleme reden, über Kaufkraft, über die Krise der männlichen Industriearbeit, über Armut, Einsamkeit in alternden Gesellschaften? Und nicht zuletzt über den Klimawandel, der die Zukunft ungewiss sein lässt?

Nussbaum: Die Angst interessiert mich als politische Philosophin, die über die Bedingungen von Würde nachdenkt und darüber, wie Menschen gedeihen können. Über die Angst nachzudenken heißt, tiefer vorzudringen, es heißt, das Wissen über den Menschen zu stärken und zugleich die historische Erinnerung: Als ich ein kleines Mädchen war, fanden im Süden der Vereinigten Staaten noch Lynchmorde an Schwarzen statt. Meine Studentinnen und Studenten hingegen sehen heute in der Ära Trump die absolut zu fürchtende Katastrophe.

ZEIT: Die Anzahl von Verbrechen aus Hass ist unter Trump um 20 Prozent gestiegen, fast zwei Drittel sind rassistisch motiviert.

Nussbaum: Ich bin skeptisch, wenn einem die Gegenwart apokalyptisch und die Vergangenheit in rosigem Licht erscheint. Viele meiner Studenten bedenken kaum, dass bis vor Kurzem weder Schwarze noch Homosexuelle oder Behinderte volle Rechte genossen und dass Frauen an den besten Universitäten nichts verloren hatten. Die späten 1920er-Jahre der Großen Depression waren durch eine Angst und Unsicherheit geprägt, die heute kaum vorstellbar sind, es herrschte Hunger. Präsident Franklin Delano Roosevelt begriff, dass diese Angst selbst ein Grund ist, Angst zu bekommen, und dass sich ihr nur durch staatlichen Schutz begegnen ließ: durch Sozialpolitik, durch ein Recht auf auskömmliche Arbeit, auf ein würdiges Zuhause, auf Gesundheitsversorgung. Roosevelt erkannte, dass soziale Rechte die Demokratie schützen. Das denke ich auch. Aber mich interessiert, wo die Ursachen dafür liegen, dass Angst uns beherrschen kann.

ZEIT: Lassen Sie uns über die Herrschaft der Angst sprechen. Die Angst ist monarchisch, schreiben Sie in Ihrem neuen Buch Königreich der Angst . Wie genau herrscht Angst?

Nussbaum: Die Angst herrscht heute gleich zweifach monarchisch. Zum einen lässt sie die Ängstlichen nach starken Machthabern suchen, die wie Könige Schutz und Sicherheit versprechen, keine Zeit mit Debatten und Informationen verlieren wollen und von oben herab ansagen, was richtig und falsch ist. Aber zum anderen verwandelt die Angst auch Individuen in Herrscher, die andere von oben herab herumkommandieren wollen. Wie es jedes neugeborene Kind tut, das die Erwachsenen befehligt.

ZEIT: Ein Baby herrscht wie ein Monarch?

Nussbaum: Das Politische beginnt, wo ein Leben beginnt. Die Angst ist nach der Geburt unsere erste Erfahrung. Die menschliche Entwicklung fängt damit an, dass wir nach den Monaten der angenehmsten Fürsorge im Mutterbauch plötzlich hilflos und ohnmächtig zur Welt kommen. Wir sind die einzigen Lebewesen, die fast ein Jahr lang einfach daliegen, anstatt aufzustehen und mitzuhelfen. Das ist die Quelle unserer Angst. Das Baby kann nichts anderes tun, um seine elementaren Bedürfnisse zu stillen, als zu schreien, damit jemand es füttert, wärmt, bekleidet, tröstet. Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse, hat das Baby deshalb »Seine Majestät« genannt. Der römische Dichterphilosoph Lukrez hat im 1. Jahrhundert vor Christus in dieser Hilflosigkeit des nackten Neugeborenen die Quelle aller Politik erkannt. Wir lernen im Laufe der Kindheit erst nach und nach, uns nicht wie Könige zu benehmen, sondern die Bedürfnisse und Interessen der anderen zu respektieren. Aber die erste Angst ist überaus machtvoll, sie begleitet uns ein ganzes Leben lang, und besonders in der Todesangst zeigt sie, wie stark sie uns beherrschen kann.

ZEIT: Man wird als Monarchin geboren und wird dann irgendwann zur erwachsenen Demokratin?

Nussbaum: Es braucht eine Weile, bis ein Kind begreift, dass die Eltern nicht seine Sklaven sind. Wir lernen in einer demokratischen Kultur, unserem ersten Narzissmus Grenzen zu setzen, uns für andere zu öffnen und füreinander Mitgefühl und Respekt zu empfinden. Die Demokratie beruht auf solcher Wechselseitigkeit, auf den Beziehungen unter Gleichen. In Demokratien versteht jeder jeden anderen als ebenso verletzbar, wie er selbst es ist. Jeder braucht Schutz und bietet Schutz. Alle Bürgerinnen und Bürger begegnen einander in den demokratischen Verfahren auf Augenhöhe, um die Macht, andere zu verletzen, einzuhegen. Das wechselseitige Vertrauen unter Gleichen verbindet sie.

ZEIT: Mit welchem Ziel?

Nussbaum: Nicht die Angst soll herrschen, sondern das Recht. Gesellschaften können das lernen, das zeigt die Geschichte der Sklaverei und der Frauenrechte. In meinen Augen ist eine Gesellschaft erstrebenswert, in der die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass ihre eigene Zukunft in den Händen der anderen liegt, und in der sie zugeben, dass sie von Geburt an bedürftig und verletzlich sind.

ZEIT: Sind wir denn nun frei und gleich an Würde und Rechten geboren, wie es die Erklärung der Menschenrechte versichert, oder vor allem hilflos und nackt, wie Sie es betonen?

Nussbaum: Wir Verletzlichen sind alle nackt und hilflos geboren, gleich an Würde und Rechten. Anders als das gesellschaftliche Ansehen ist die Würde unveräußerlich. Wenn sie angegriffen wird, packen uns deshalb bisweilen eine Angst und eine Wut, die wir in demokratische Verfahren umwandeln müssen, wie es auch den abscheulichen antiken Rachegöttinnen, den rasenden Furien, geschieht, die in der Orestie zivilisiert werden.

ZEIT: Was verstehen diese alten Autoren von unseren gegenwärtigen Ängsten? In all Ihren Argumenten und Büchern sind Sie fortgesetzt im Gespräch mit der Antike. Der Weg bis zu uns ist doch ziemlich lang.

Nussbaum: Oh, ich spreche überhaupt viel mit den Toten, nicht nur mit denen des klassischen Altertums, sondern auch mit denen der jüngeren Vergangenheit. Philosophie ist Gespräch. Ich rede auch oft mit meinem verstorbenen Doktorvater John Rawls. Er meinte ja, dass Menschen bisweilen gar keine Alternative dazu haben, sich feindlich gegenüber anderen zu verhalten, weil es ihnen einfach am Notwendigsten fehlt. Aber die Griechen und Römer kennen die animalische Seite des Menschen besonders gut. Sie wissen, dass wir Angst haben, weil wir körperlich verletzbar sind. Die digitale Epoche will das vergessen.

ZEIT: Ist es eine Generationenfrage, ob einem diese alten europäischen Experten etwas zu sagen haben? Geht es Ihren Studierenden in Chicago ähnlich?

Nussbaum: Vor Kurzem habe ich sie in einer Prüfung gebeten, einen Essay über das Thema der Selbsttötung zu schreiben. Sie sollten darin mit den Argumenten der antiken Epikureer oder Stoiker einen Freund beraten, der sich das Leben nehmen will. Diese Essays haben mich zu Tränen bewegt. Die Studentinnen und Studenten haben sich diese alten Autoren wirklich sehr lebendig zu Herzen genommen.

ZEIT: Der verletzliche Körper spielt in Ihren Gedanken zur Angst eine Hauptrolle. Sie sind dafür bekannt, nicht nur regelmäßig zu singen, sondern Sport zu machen, zu trainieren. Sind auch das Methoden gegen die Angst?

Nussbaum: Die Kunst, das Singen, das Gespräch sind Tätigkeiten der Hoffnung. Und über die körperliche Betätigung ist ja bekannt, dass sie gut gegen Angst ist. Ich bin auch heute Morgen ein paar Kilometer gelaufen. Es gibt wohl wenig Verlässlicheres gegen die Angst, als laufen zu gehen.

ZEIT: Ist die Philosophie nicht selbst eine Methode gegen die Angst, die unverletzbar machen will?

Nussbaum: In meinen Augen ist sie das nicht. Sie ist im Gegenteil ein riskanter Weg, sich zu öffnen, sie zeigt die eigenen Argumente in ihrer Verletzbarkeit vor, und sie ist immer bereit, sich überzeugen zu lassen und ihre Auffassungen zu ändern. Insofern sie sich anderen mit Respekt nähert, ist sie in meinen Augen eher eine Form der Liebe und daher ein Ausdruck von Hoffnung. Wer die Angst hinter sich lässt, trennt sich nicht nur von der Hoffnung. Er verliert auch die Liebe. Jedenfalls wenn sie etwas anderes sein soll als ein lauwarmer guter Wille.

ZEIT: Über die Hoffnung haben sich nicht viele Philosophen geäußert. Sie aber wohl. Warum?

Nussbaum: Der Hoffnung geht es nicht um Wahrscheinlichkeiten, sondern um die Haltung zur Welt. Cicero hat in seinem kurzen Leben mit der Erschöpfung, mit Magenschmerzen und Verzweiflung gerungen und mit der Angst. Aber er hat es für seine Pflicht gehalten, die Hoffnung nicht aufzugeben, sondern dem Gemeinwohl zu dienen. Ähnlich wie später Kant: Der hat es als Pflicht verstanden, die Welt besser zu machen, und dazu braucht man die Hoffnung. Es mag verrückt sein, Ungewissheiten zu umarmen und einer Idee zu folgen, wie die Welt sein sollte. Aber Kant hat recht, es ist notwendig.

DAS GESPRÄCH FÜHRTE ELISABETH VON THADDEN Foto: Allison Stewart (»Curtis’ Bug Out Bag for Car«); Illustrationen: Carolin Löbbert für DIE ZEIT

Martha Nussbaum

Die Anwaltstochter Martha Nussbaum, geboren 1947 in New York, studierte Altphilologie, lehrt als Professorin in Chicago und ist eine der angesehensten Philosophinnen der Welt. Ihr Werk widmet sich Fragen der Gerechtigkeit und einer Philosophie der Emotionen. Ihr neues Buch »Königreich der Angst« erscheint im Januar bei der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft (a. d. Engl. v. M. Weltecke, 304 S. 28,– €).

Die nächsten Seiten »Sinn & Verstand« erscheinen am 14. Februar im Feuilleton

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