Politik statt Programm

Angela Merkel hat vieles mit Herz, aber wenig aus Überzeugung getan VON NAVID KERMANI

Angela Merkel hat nie Aufhebens um ihre Person gemacht: keine privaten Bilder, inszenierten Urlaube, pompösen Auftritte, öffentlich gepflegte Freundschaften, schon gar keine Beichten im Talkshowsessel. Das Maximum an Glamour, das sie sich geleistet hat, waren ihre Kleider für Bayreuth, und man kann sicher sein, dass sie die Festspiele nicht etwa wegen des Auftritts Jahr für Jahr besuchte, sondern weil sie Wagner liebt. Entsprechend saß sie auch nicht in der ersten Reihe, sondern vier, fünf oder sechs Stunden auf einem der Stühle mitten im Parkett. Einmal sogar schräg hinter mir, und ich habe sie erst beim Applaus bemerkt.

Aber wenn ich jetzt darüber nachdenke, was mir von den sechzehn Jahren ihrer Kanzlerschaft am meisten imponiert, dann ist es nicht diese oder jene Entscheidung, ihr Verhandlungsgeschick oder ihre Durchsetzungskraft. Es ist der Mensch Angela Merkel. Dieser Mensch, der öffentlich ganz selten einmal in Erscheinung trat und dennoch nie hinterm Amt verschwand. Tatsächlich erlebte ich sie das eine Mal, als ich allein mit ihr sprach, als vollkommen unprätentiös, empathisch, witzig, klug.

Wenn ich sie seither im Fernsehen sah, im Kreise der Weltenlenker oder in Deutschland zwischen Politikern, deren Persönlichkeit aus Karriereleitern gebaut zu sein schien, dachte ich stets: Wie gut, dass auf den Gipfeltreffen wenigstens in einer Brust ganz sicher ein Herz schlägt! Und dass Deutschland von einer Frau vertreten wurde, die inmitten der Männerrüpel so sachlich wie selbstbewusst blieb, machte mich als Staatsbürger auch ein bisschen stolz. Zugleich staunte ich über ein Charisma, das aus dessen Verweigerung erwuchs, also aus dem Unwillen und wahrscheinlich auch der Unfähigkeit zu großen Gesten, bedeutungsvollen Blicken, tiefschürfenden Worten und langfristigen Perspektiven.

Politisch lag hier allerdings ein, wenn nicht sogar das eigentliche Problem ihrer Kanzlerschaft, und zwar nicht nur wegen ihres mangelnden Gespürs für Symbolik. Regelmäßig misslangen ihr wichtige Personalfindungen, ob in Brüssel, in Berlin oder in der eigenen Partei, und wie sie im Frühjahr die heimkehrenden Soldaten aus Afghanistan begrüßte, nämlich gar nicht, war würdelos. Den Bundestag, der doch Deutschlands Souverän ist, stellte sie ebenso wie die europäischen Gremien immer wieder vor vollendete Tatsachen, indem sie Beschlüsse in informellen Runden herbeiführte. Mag sein, dass es besonders in Brüssel mitunter nicht anders möglich war. Doch an den Versuch, die Institutionen zu reformieren, wo sie sich als handlungsunfähig erwiesen, hat sie vermutlich nicht einmal gedacht.

Denn noch schwerer als ihre Geringschätzung demokratischer Repräsentation wiegt: Nach sechzehn Jahren als Bundeskanzlerin ist es kaum möglich, Angela Merkel mit einer Überzeugung oder Programmatik in Verbindung zu bringen, die über Pragmatismus, einen Grundbestand an Moralität und gesunden Menschenverstand hinausginge. Und wenn sie doch einmal mit Verve eine kontroverse Position wagte, konnte man sicher sein, dass sie bald das Gegenteil erklären wird. So ersetzte sie die wirtschaftsliberalen Vorstellungen, mit denen sie in ihrem ersten Wahlkampf überraschte, als Kanzlerin über Nacht durch solide Sozialdemokratie und kostete ihr Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Ausstieg aus der Atomenergie Deutschland viele Milliarden Euro.

Die Liste ließe sich nicht beliebig, aber doch lang genug verlängern, um den Eindruck zu gewinnen, Angela Merkel sei weniger an Inhalten interessiert gewesen als am Machbaren und auch machtpolitisch Opportunen. In sechzehn Jahren hat sie nicht eine einzige Rede gehalten, die über den Tag hinausgewiesen hätte, nicht über Europa, nicht über Deutschlands Rolle in der Welt, schon gar nicht über Kultur, und man kann es beinah verstehen. Eine Grundsatzrede von Angela Merkel hätte wie ein Widerspruch in sich selbst gewirkt. Im Ergebnis freilich liegt Deutschland zum Ende ihrer Kanzlerschaft auf zahlreichen Gebieten zurück: Digitalisierung, Bildung, Außen- und Sicherheitspolitik, Klimaschutz, Verkehr, Infrastruktur, europäische Integration, und auch die Bilanz der deutschen Corona-Politik fällt im Vergleich zu anderen europäischen Ländern alles andere als glänzend aus. Vollends desolat ist der Zustand, in dem sie die Christdemokratie hinterließ. Das hat Ursachen und ist nicht einfach so passiert.

Indem Merkel Politik wesentlich als Problemlösung verstand, engte sie deren Gestaltungsraum und Gestaltungswillen radikal auf die unmittelbare Umgebung und die eigene Gegenwart ein. Das lässt sich beispielhaft an jener Entscheidung nachzeichnen, die sie in linksliberalen Milieus fast schon zu einer Heiligen werden ließ und zu einer Hoffnung für Verfolgte in aller Welt: das Offenhalten der Grenzen im September 2015. Das war kühn, das war zutiefst human, das war nicht zuletzt auch europäisch gedacht. Aber es war eben auch eine Kehrtwende um hundertachtzig Grad. Denn bis dahin war es Deutschland gewesen, das über Jahre eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik blockiert, für die Abschaffung der Seenotrettung gesorgt und sich gegen eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen auf alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gestemmt hatte. Und mehr noch, Angela Merkel selbst war im Zusammenhang mit den Bootsflüchtlingen auf dem Mittelmeer das unsägliche Wort von der »Flüchtlingsbekämpfung« unterlaufen. Und nun, innerhalb eines Wochenendes, ohne parlamentarische Beratung oder öffentliche Diskussion, rief die gleiche Kanzlerin die Willkommenskultur aus. Es ist nicht rechtspopulistisch, darauf hinzuweisen, dass der Entschluss mit besserer Vorbereitung und frühzeitiger Diplomatie den Kontinent nicht derart gespalten hätte – bis hin zum Brexit, der ohne die vorangegangene Flüchtlingskrise vermutlich nicht erfolgreich gewesen wäre, so knapp, wie das Votum ausfiel.

Der Verlauf jener Stunden, die Beratungen und Telefonate, sind inzwischen minutiös rekonstruiert worden. Aber den tiefer liegenden Grund legte die Bundeskanzlerin, kaum bemerkt, seinerzeit bei Anne Will selbst offen. »Bis jetzt haben – ich geb’s für mich auch zu –, hab ich oft doch gedacht: Syrien ist weit, Irak ist weit, Afghanistan ist weit«, sagte sie gegen Ende der Sendung, ohne eigentlich danach gefragt worden zu sein, und fuhr in erstaunlicher, durchaus sympathischer Selbstkritik fort: »Jetzt zeigt sich plötzlich, dass es Menschen gibt, die so um ihr Leben rennen, dass diese weiten Strecken plötzlich zusammenschrumpfen und sie bei uns in die EU kommen, das heißt, dass wir Teil dieser Konflikte werden und gar nicht mehr zwischen Außen- und Innenpolitik unterscheiden.«

Merkel hat mit Erfolg Krisen bewältigt, die sie selbst maßgeblich befördert hatte

Wie bitte? Die Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland verfügt über eine Mannschaft außenpolitischer Berater, ihrem Amt arbeitet ein Ministerium mit mehreren Tausend hoch qualifizierten Mitarbeitern zu, die sich mit jedem einzelnen Land der Welt beschäftigen – und sie will erst im Herbst 2015 »jetzt« und »plötzlich« erfahren haben, dass Deutschland von den Kriegen im Nahen Osten betroffen ist und die Flüchtlinge bereits Monate zuvor aus ihren Lagern in und rund um Syrien aufgebrochen waren, nachdem das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen mangels Geld die Lebensmittelrationen gekürzt hatte? Die gleichen Worte: »jetzt« und »plötzlich«, hätte Angela Merkel auch nach dem jüngsten Desaster in Afghanistan finden können, nur dass es diesmal die eigenen Staatsbürger und Ortskräfte waren, deren Gefährdung unbemerkt geblieben war. Und wieder tagte am Wochenende der Krisenstab. Es ist nicht nur Zufall, dass in Merkels Amtszeit eine Vielzahl dramatischer Nachtsitzungen und disruptiver Entscheidungen fielen. Wer nur abarbeitet, was auf den Schreibtisch kommt, sorgt dafür, dass es immer mehr wird.

Merkels gesamte Europapolitik ließe sich anhand dieses Musters nacherzählen, von der gescheiterten Verfassung über die Finanzkrise zur Flüchtlingspolitik; vom Autoritarismus und auch Antisemitismus Victor Orbáns, den sie viel zu lange in der Europäischen Volkspartei hielt, bis zur Besetzung der europäischen Spitzenämter mit Politikern aus der zweiten und dritten Reihe, damit nur ja die Entscheidungsgewalt bei den nationalen Führern blieb; von der Weigerung, auf die Vorschläge Emmanuel Macrons zu einer Neugründung Europas auch nur zu antworten, bis zu dem geradezu blindwütigen Egoismus zu Beginn der Pandemie, als sich die Bundesregierung weigerte, Masken nach Italien zu liefern, und es der Kanzlerin in ihrer ersten Fernsehansprache gelang, fünfzehn Minuten ausschließlich über Deutschland zu sprechen. Ein ums andere Mal war Angela Merkel damit beschäftigt, Krisen zu bewältigen – oft mit bemerkenswertem Erfolg –, die sie selbst durch Desinteresse, Mutlosigkeit und anfänglichen Nationalismus maßgeblich befördert hatte.

Nun hat sich auch noch der Niedergang der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, den sie sechzehn Jahre tätig begleitete, ein weiteres Mal gerächt, als Europa nicht einmal in der Lage war, einen Flughafen zu sichern, geschweige denn, dass die EU mit einer eigenständigen Diplomatie auf das Abkommen der USA mit den Taliban reagieren konnte. Die Folgen werden nicht zuerst in Washington und New York zu erfahren sein, sondern in Athen, Berlin und Paris: Flüchtlinge, Terrorismus und billiges Heroin mitsamt deren gesellschaftlichen Verwerfungen. Dass mitten in einer globalen Pandemie, während einer tiefen Krise der Europäischen Union und der westlichen Wertegemeinschaft, nur Wochen nach dem Fall Kabuls und angesichts des weltbedrohlichen Klimawandels, in einer Fernsehdebatte der Kanzlerkandidaten ausschließlich nach nationalen Themen gefragt werden kann, ist das Erbe einer Politik, die damit beruhigt, alles werde bleiben, wie es ist, wenn es nur am eigenen Herd halbwegs gerecht zugeht, die Impfquote um zehn Prozent erhöht wird und Deutschland seine nationalen Klimaziele statt 2050 bereits 2048 erreicht. Was für eine Illusion!

Aber kann man Angela Merkel ausgerechnet Provinzialität zum Vorwurf machen, wenn sie nach sechzehn Jahren im Amt weltweit ein phänomenales Ansehen genießt? Und was kann an ihrer Amtsführung falsch gewesen sein, wenn ihre möglichen Nachfolger darum wetteifern, ihr möglichst ähnlich zu sein? Das »Sie kennen mich«, das sie in ihrem letzten Wahlkampf plakatieren ließ, mag die Inhaltslosigkeit auf die Spitze getrieben haben, und dennoch – oder deshalb? – haben die Deutschen sie viermal hintereinander gewählt. Die zunehmende Selbstgerechtigkeit, die sie bei ihren letzten Auftritten an den Tag legt, lässt vermuten, dass Merkel selbst inzwischen jede Kritik an sich abperlen ließe oder so überheblich beantwortete wie jüngst bei ihrer Rede im Bundestag zu Afghanistan. Und es stimmt ja: Gerade weil ich ihre Intelligenz, ihre Integrität, ihr Pflichtbewusstsein bewundere, habe ich sechzehn Jahre lang umso mehr mit ihrer Politik und mehr noch mit ihrem visionsfreien Politikverständnis gehadert. Offenbar hat Merkel das Bedürfnis vieler Deutschen befriedigt, in Ruhe gelassen zu werden von der bedrohlichen Wirklichkeit. Das lässt sich nicht nur ihr, sondern mindestens so sehr ihnen zuschreiben. Wer Reformen wagt, wird in Deutschland – siehe zuletzt Gerhard Schröder, Merkels erstes Wahlprogramm oder die Grünen, als sie den Klimaschutz noch nicht mit einem Bausparvertrag verglichen – üblicherweise abgestraft.

Und wieder: Genau das, was als Stillstand und Kurzsichtigkeit zu kritisieren wäre, hat als Ruhe und Selbstbescheidung zugleich eine Qualität. Denn zum Erbe dieser Bundeskanzlerin gehört auch, dass Politik in Deutschland heute ohne allzu viel Größenwahn, Machismo und persönliche Diffamierung auskommt, obwohl mit dem Internet ein massiver Verstärker für Schmutz und Lügen entstanden ist. Die Systemfrage wird am Wahltag jedenfalls nicht gestellt. Während in vielen anderen westlichen Ländern Populisten, Autokraten und Rambos um die politische Führung ringen, geht in Deutschland ein Wahlkampf zu Ende, der bei aller Realitätsverweigerung doch auch vom Respekt der Kandidaten untereinander geprägt war. Über zentrale gesellschaftliche Fragen, von Integration über Gleichberechtigung und sexueller Selbstbestimmung bis hin zur Bildungsgerechtigkeit, herrscht in Deutschland von der Linken bis zu den Freien Demokraten ein sehr weitgehender Konsens oder wird jedenfalls im Parlament überwiegend sachlich debattiert.

So wird ausgerechnet dort, wo es nicht um die großen Leitlinien der Politik, sondern um das tägliche Miteinander geht, im Rückblick vielleicht sogar eine Agenda erkennbar, die von der Islamkonferenz und dem Integrationsgipfel übers Elterngeld, das Recht auf einen Kita-Platz, den Kampf gegen Antisemitismus, die Abschaffung der Wehrpflicht, die Ehe für alle, die zwischenzeitliche Willkommenskultur bis hin zur Frauenquote führt. Und wirklich ist die gesellschaftliche Öffnung, die die rot-grüne Vorgängerregierung angestoßen hatte, erst während Merkels Kanzlerschaft vollzogen worden. Dabei hat die beträchtliche Akzeptanz für diesen Wandel unmittelbar mit ihrer Person zu tun, weil ihre pragmatische Menschenfreundlichkeit über unterschiedliche politische Lager hinweg einen Kompass bot, was zu gelten hat und was heute nicht mehr gelten kann. Es wäre nicht wenig, ließe sich etwas Ähnliches dereinst über ihren Nachfolger oder ihre Nachfolgerin sagen.

Dieser Text erscheint zugleich auch in »Le Monde«

www.zeit.de/audio Fotos: Hamilton/pool/ddp (o.); Stefan Boness/Visum (u.)

Angela Merkel am 10. November 2018 gemeinsam mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron im Waffenstillstands-Museum in Compiègne

Navid Kermani ist Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Eben erschien »Morgen ist da« mit drei neuen Reden bei C.H.Beck