Tief in den Genen

Christina Motejl war schon erwachsen, als ihre Eltern ihr eröffneten, dass sie mit der Samenspende eines Fremden gezeugt wurde. Zwölf Jahre suchte sie ihren leiblichen Vater – und stieß jetzt auf eine Ungeheuerlichkeit VON HENNING SUSSEBACH

Sie ist spät dran. Irgendwas frisst immer Zeit, der Job, die Kinder, das Kuddelmuddel des Alltags. Es dämmert schon, flackernd springen die Laternen an, als die Frau im Berliner Regierungsviertel vom Fahrrad steigt, das Schloss einrasten lässt und ihren Rucksack schultert. Sie eilt zum Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, einem Büro-Betonriegel, der sich neben dem Reichstag über die Spree spannt. Schon von draußen kann sie die anderen sehen: Professoren, Chefärzte, Verbandsführer, im Licht hinter den Fenstern wie Spielzeugfiguren zu Gesprächsgruppen arrangiert.

Der Aufzug trägt Christina Motejl hinauf in ein Foyer im ersten Stock. Begrüßungsgeplauder unter Anzugträgern. Ein Gong, der alle in den Sitzungssaal ruft. Routiniert wie immer läuft auch an diesem Winterabend die Gesetzgebungsmaschine in der deutschen Hauptstadt. Sachverständige sollen sich zur »Bundestagsdrucksache 19/5548« äußern, einem Gesetzentwurf der Linkspartei, eingebracht unter dem Titel: Medizinische Kinderwunschbehandlungen umfassend ermöglichen. Eine ganz normale Expertenanhörung. Einer von vielen Schritten, nach denen ein Entwurf vielleicht Gesetz wird.

Die geladenen Fachleute und Funktionäre stecken sich Namensschilder ans Revers: die Bevollmächtigte der Bundesärztekammer, der Vertreter des Elternvereins Wunschkind, der Vorsitzende des Bundesverbandes Reproduktionsmedizinischer Zentren Deutschlands. An einem riesigen runden Tisch nehmen sie ihre Plätze ein, ziehen Akten aus den Taschen, richten Mikrofone. Christina Motejl, 38, rotbraunes Haar, heller Teint, setzt sich zwischen zwei ältere Herren. Keine Approbation und keine Promotion hat sie hierhergeführt, sondern der Umstand, dass vor fast vier Jahrzehnten eine Eizelle ihrer Mutter mit der Samenzelle eines Fremden verschmolz.

Ihrem Schild zufolge vertritt Christina Motejl im Rund der Experten einen Verein mit dem Namen Spenderkinder. Was nirgends steht und niemand im Saal weiß: Auf der jahrelangen Suche nach ihrem Vater hat Christina Motejl etwas zutiefst Verstörendes entdeckt.

Wenn es um den Beginn seiner Biografie geht, muss jedes Kind den Überlieferungen der Älteren vertrauen. Ihren Erzählungen, Fotos, Dokumenten.

Da ist also eine Geburtsanzeige:

Wir freuen uns über die Geburt unserer Tochter Christina Dorothee. Mai 1980, Duisburg

Da sind Zahlen zu Gewicht und Größe: 4050 Gramm, 56 Zentimeter.

Da ist ein Klinik-Armband in Weiß.

Da sind Fuß- und Handabdrücke in Blau.

Da sind Notizen über viele erste Male: »Köpfchen hochgehalten im Alter von vier Wochen – erste Breimahlzeit vom Löffel: 15. Juli – nach einem Gegenstand gegriffen: 20. Juli – erster Zahn: 4. November – gerobbt: 5. November – gesessen: 21. Januar – erster Geburtstag, Geschenke: Bobbycar, Kleidchen, Planschbecken«.

Da sind Versuche, Wörter vor dem Verhallen zu retten: »Name für die Mutter: Mama. Name für den Vater: Papa.«

So steht es im Babybuch bei der Mutter zu Hause, erste von vielen Quellen zu einer verworrenen Geschichte. Schnell setzen eigene Erinnerungen des Kindes ein. Die früheste: Venedig, Tauben auf dem Markusplatz. Dann der Vater, der dem Kind das Radfahren beibringt. Mehrere Umzüge. Mit sechs ein fremdes Wort im Radio, Tschernobyl. Sandkastenverbot, zum Essen keine Pilze mehr. Grundschule, Klavierunterricht, im Kino Bernard und Bianca, im Dunkel neben dem Mädchen die Mutter. Die Ehe der Eltern fühlt sich für die Tochter manchmal hakelig an, gelegentlich empfindet sie vage Traurigkeit: Es gibt keine Geschwister. Auf Familienfesten ist sie das einzige Kind. Dann die Pubertät; wenn Streit, meist mit dem Vater. Gemeinschaftliches Glück aber auch oft mit ihm: Radtouren, Schwimmen im Baggersee. Ein gutes Abitur, Auszug, Wohngemeinschaft. Studium in Bonn. Politikwissenschaften, später Jura als Hauptfach.

Als das Leben der Tochter Geschwindigkeit aufnimmt, sie sich von zu Hause entfernt, trennen sich – in den Kulissen ihrer Kindheit – die Eltern.

Christina Motejl ist 26 Jahre alt und denkt, die Geschichte ihrer Jugend sei geschrieben, glaubt, sich selbst zu kennen, da kommt sie mit ihrem Freund aus einem Urlaub in Schweden zurück. Ein Tag im Juli 2006, Sommer, Deutschland berauscht sich an seinem Fußballmärchen. Am Flughafen wartet die Mutter. Sie nimmt die Tochter beiseite und sagt, sie müsse ihr etwas mitteilen. »Etwas Wichtiges, nichts Schlimmes.«

»Okay, schieß los«, habe sie geantwortet, sagt Christina Motejl heute.

Aber die Mutter bittet sie, am nächsten Tag bei ihr vorbeizukommen.

Neurowissenschaftler sprechen von »Blitzlicht-Erinnerung«, wenn das menschliche Hirn in Extremsituationen nicht nur Wesentliches speichert, sondern auch lauter Nebensächlichkeiten. Christina Motejl hat nie vergessen, dass ihre Mutter am Tag nach der Rückkehr aus Schweden Obstsalat gemacht hatte. Und sie ist sich bis heute sicher, dass die Blaubeeren darin schon überreif schmeckten. Als sie damals in die Wohnung kommt, ist auch der Vater da. Das irritiert sie. Noch mehr, dass er sich einen Schnaps eingießt.

Drei Menschen, eine Familie, an einem Tisch. Aus dem Mund des Vaters dann die Wörter »Hodenkrebs« und »unfruchtbar«. Aus dem Mund der Mutter: »Insemination«, »Spender«, »anonym«. Die erwachsene Tochter begreift, »dass der Mensch, den ich immer für meinen Vater gehalten habe, es zumindest genetisch gesehen nicht ist«. Eine halbe Stunde Gesprächsrauschen, Beklommenheit, aber keine Vorwürfe, keine Tränen, keine Berührung. Bloß kein Drama. Die Tochter spürt, dass die Eltern Absolution wünschen. Ihr Vater will hören, dass er ihr Vater bleibt, also sagt sie es und meint es auch. Einmal geht sie ins Bad, besieht im Spiegel ihr Gesicht und sucht darin nach etwas Neuem.

Heute, mehr als zwölf Jahre später, sitzt Christina Motejl an ihrem eigenen Küchentisch, wenn sie von jenem Tag erzählt, in ihrer eigenen Wohnung, Erdgeschoss, ein Neubau im Norden Berlins. »Ich dachte damals, ich sitze in einer Folge von Verbotene Liebe oder so. So was passiert doch nur im Fernsehen.« Wenn sie spricht, blickt sie oft wie ins Leere oder in ihr Inneres, als rufe sie dort Sätze ab, die sie lange zurechtgeschliffen hat.

»Ich habe mich an dem Tag gefühlt, als würde ich mich von außen sehen.«

»Ich habe gedacht: Das sind doch meine Eltern, wie können die so was machen?«

Christina Motejl ist längst selbst verheiratet, sie hat zwei kleine Töchter. Der Kühlschrank in ihrer Wohnung ist behängt mit Wasserfarbbildern. Im Wohnzimmer werkelt ihr Mann an einem großen Spielpferd herum.

Im Sommer 2006 lässt Christina Motejl schließlich die Eltern am Tisch zurück. Auf dem Heimweg, sagt sie, auf dem Rad, habe ihr ganzer Körper zu zittern begonnen. Sie steigt ab, um nicht zu stürzen. Wählt die Nummer ihres Freundes, der heute ihr Mann ist. Doch der sitzt in einer Kneipe und hört das Handy nicht. Christina Motejl schiebt ihr Rad nach Hause. Sie spürt: Um sich einen Überblick über die neue Lage zu verschaffen, braucht sie Abstand. An einem der folgenden Tage schreibt sie ihren Eltern eine Mail und bricht den Kontakt fürs Erste ab.

Wenn Christina Motejls Mutter heute von damals erzählt, in derselben Wohnung, am selben Tisch, an dem sie mit der Tochter saß, dann wägt sie ihre Worte so zaudernd, dass auf dem Mitschnitt des Gesprächs später vor allem Schweigen zu hören ist, auch Scham. Aus den wenigen Sätzen wird klar: Die Mutter möchte sich die Entstehungsgeschichte ihrer Tochter als Geschichte einer bedingungslosen Liebe bewahren.

Sie lernte ihren Mann an der Hochschule kennen. Sie war Anfang 20, er über 30, deutlich älter, auch deshalb wollte sie früh Kinder. Er berichtete ihr vom Krebs, der ihn vor Jahren befallen hatte. Für sie ließ er seine Zeugungsfähigkeit testen. »Das Ergebnis war vernichtend, alles abgetötet durch die Bestrahlung«, sagt die Mutter. »Er hat dann gemeint, und das werde ich nie vergessen: Ich würde es gut verstehen, wenn du dich von mir zurückziehst.«

Stattdessen ging das Paar zu pro familia, informierte sich über Adoptionen und hörte von einem Projekt am Universitätsklinikum Essen. Dort injizierten Ärzte den Frauen unfruchtbarer Männer das Sperma anonymer Spender. Fachbegriff: Donogene Insemination. »Wir dachten uns: Was für ein Glück! Anders als bei einer Adoption hätten wir bei dieser Methode die Möglichkeit, das Kind von Anfang an bei uns zu haben. Schon in der Schwangerschaft darüber zu wachen, dass es ihm gut geht.« Sie fing an, Fieberkurven zu führen. Sie bat die Mediziner, der Spender solle »nicht so groß« sein. Ihr behandelnder Arzt, erinnert sich die Mutter, hieß Dr. Katzorke. »Vital, offen und fröhlich« sei er gewesen, mit seiner zugewandten Art habe er ihr die Verlegenheit genommen.

Innerhalb weniger Tage bekam die junge Frau zwei Inseminationen. Sie war sofort schwanger. Das Klinikpersonal entließ sie mit dem Rat, möglichst wenigen Verwandten und Freunden von den Umständen der Zeugung zu erzählen, auch nicht dem Kind, alles andere könne Probleme bringen, das Bild der konventionellen Familie beschädigen, von außen wie innen. Und die werdende Mutter dachte sich, was sei schon die eine Sekunde der Zeugung, verglichen mit all der Liebe und Zeit, die sie und ihr Mann dem Kind nun schenken würden?

Aus der Perspektive der Tochter begann genau damit die Geschichte einer Lüge. Christina Motejl verließ ihre Eltern am Esstisch mit dem Gefühl, dass sich ihre Kindheit nicht auf festem Grund abgespielt hatte, sondern auf doppeltem Boden. »Ich musste mich in der ersten Zeit immer daran erinnern, dass ich noch derselbe Mensch wie vorher war«, sagt sie. Vergessenes trat zutage, Verwirrendes klärte sich. Hatte sich der Vater nicht schnell zurückgesetzt gefühlt, wenn sie mit der Mutter einer Meinung war? Selbst wenn es nur darum ging, welchen Fernsehfilm die Familie schauen wollte? Und hatte er, wenn die Tochter sich mit ihm stritt, nicht manchmal zur Mutter gesagt: »Das hat sie aber nicht von mir«?

Das Kind Christina hatte nicht bemerkt, dass solche Szenen und Sätze die Mutter schon über Jahre quälten. Anders als die Ärzte in Essen gesagt hatten, verschwand das Geheimnis nicht aus der Familie. Es wuchs, wie die Tochter. Welche Eltern sind so frei von Eitelkeit, dass sie sich nicht in ihren Kindern suchen? Und welches Kind gleicht sich nicht mit seinen Eltern ab, sucht nicht Ähnlichkeit – und Abstand zu Macken und Marotten?

Je älter Christina wurde, desto mehr hatte die Mutter das Gefühl, einem Film mit Untertiteln zuzusehen. Immer stand da vor ihrem inneren Auge: Sie weiß es nicht! Du musst es sagen! Sag es ihr!

»Ich habe versucht, den geeigneten Zeitpunkt zu finden«, sagt die Mutter heute. Doch statt des richtigen Moments waren da lauter verpasste Gelegenheiten. Als die Tochter noch klein war, erkundigte sie sich einmal, warum sie keine Geschwister habe. Erst Jahre später fiel der Mutter eine Antwort ein, die ein Anfang hätte sein können: »Du, dein Papa konnte keine Kinder machen, aber wir wollten dich so gerne haben ...« In dem Moment aber blieb sie stumm.

All das wäre eine innerfamiliäre Angelegenheit geblieben. Doch indem sich Christina Motejl auf die Suche nach ihrem biologischen Vater begab, betrat sie öffentlichen Raum, beschritt einen Weg, der sie in den folgenden Jahren durch Arztpraxen, Gerichtssäle und Parlamentsbüros führen würde, einen Weg, der nicht nur mit Erinnerungen rekonstruiert werden kann, sondern anhand von Briefen, Akten, Urteilen, Gentests.

Noch am selben Abend, an dem Christina Motejl ihr Rad nach Hause geschoben hat, beginnt sie, den Worten der Mutter hinterherzugoogeln.

Donogene Insemination: auch Heterologe Insemination, ist die Behandlung mit Spendersamen. Die Frau wird, wenn überhaupt, nur leicht mit Medikamenten stimuliert und das Fremdsperma wird mit Hilfe eines flexiblen Katheters in die Gebärmutter eingebracht.

Dr. Thomas Katzorke: bis 1981 wissenschaftlicher Assistent an der Universitätsfrauenklinik Essen; 1981 Gründung einer der ersten Spezialpraxen in der BRD zur Behandlung kinderloser Ehepaare; Forschungsaufenthalt in New Orleans bei Prof. Schally (Nobelpreisträger Medizin); außerplanmäßiger Professor für Gynäkologie an der Universität Padua; Vorsitzender des Arbeitskreises Donogene Insemination.

Auf ihrem Computer ein Foto: ein Mann um die 50, rundlicher Kopf, runde Brille, nettes Lächeln. Im Jahr nach ihrer Geburt hatte der Arzt die Uni-Klinik verlassen und sich in Essen selbstständig gemacht. Christina Motejl liest, dass er seitdem ein »Zentrum für Reproduktionsmedizin« führt.

Sie schreibt einen Brief.

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Katzorke,

ich habe von meinen Eltern vor einigen Tagen im Alter von 26 Jahren erfahren, dass mein Vater nicht mein genetischer Vater ist und ich aus einer (...) Insemination unter Ihrer Leitung an der Universitätsklinik Essen entstamme. (...)

Daher möchte ich Sie bitten, mir Zugang zu allen noch vorhandenen Unterlagen zu verschaffen, die Auskunft über die Behandlung meiner Mutter (...) geben. Insbesondere geht es mir darum zu erfahren, von wem der Spendersamen stammt, mit dem ich gezeugt wurde. Ich hoffe, dass dies mir helfen wird, mit der Situation besser zurecht zu kommen. (...)

Nach zwei Wochen eine Antwort.

Sehr geehrte Frau Motejl,

(...) Ich kann Ihnen in der angesprochenen Angelegenheit leider nicht weiterhelfen. Mir ist nicht mehr erinnerlich, ob ich Ihre Eltern behandelt habe. (...)

Meines Wissens nach sind auch keinerlei Unterlagen mehr im Klinikum über die damaligen Behandlungen vorhanden. Häufig war es gerade Wunsch der Eltern, dass die Behandlungsunterlagen nach erfolgreich abgeschlossener Behandlung vernichtet werden sollten. (...)

Das einzige, was ich Ihnen anbieten kann ist, dass Sie ein Gespräch mit unserer jetzigen Klinikpsychologin führen. (...)

Andere Empfänger hätten aus dem letzten Satz womöglich Wärme herausgelesen. Oder routiniertes Abwimmeln. Christina Motejl, in jenen Wochen seelisch wund, fühlt sich angegriffen. Sie braucht eine Psychologin?! Sie ist krank?! Therapiebedürftig?! Sie schreibt zurück: »Ich hätte einfach gerne nur ein Foto und ein paar Fakten über Beruf und Hobbies, damit ich mir wieder in etwa vorstellen kann, was ich geerbt habe und was nur von mir kommt.«

Keine Reaktion.

In den folgenden Monaten lernt die Jurastudentin fürs Examen, recherchiert aber weiter. Sie telefoniert mit ehemaligen Mitarbeitern der Uni-Klinik und findet heraus, dass das Krankenhaus nur etwa zehn Spender hatte, als ihre Mutter dort behandelt wurde. Da Sperma damals noch nicht tiefgekühlt wurde, mussten die Männer zeitgleich mit den Patientinnen in der Klinik sein.

Kann sich wirklich kein Arzt an die Anfänge erinnern? An ein paar Namen aus dem kleinen Kreis? Sie will es nicht glauben. Außerdem hat das Bundesverfassungsgericht 1989 entschieden: Jeder Bürger hat ein Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung.

Christina Motejl beschließt, die Universitätsklinik auf Herausgabe des Spendernamens zu verklagen. Und scheitert. Die Klinik hat mitgeteilt, alle Unterlagen seien längst vernichtet. Zur Zeit von Christina Motejls Zeugung war es juristische Mehrheitsmeinung, dass Spenderdaten höchstens zehn Jahre aufgehoben werden müssen.

In den Unterlagen, die das Krankenhaus zu seiner Verteidigung einreicht, findet sich auch ein Musterformular. Eine »Einwilligung zur Insemination«, wie sie Christina Motejls Mutter und Vater einst unterschrieben. Darin verständigten sich Ärzte und Patienten auf größtmögliches Nichtwissen – darauf, »daß der Samen von einem Spender stammt, der die Identität der Frau und des Mannes nicht kennt. Ebenfalls soll die Identität des Spenders dem Paar unbekannt sein und bleiben.«

Niemand kennt niemanden, alle Akten sind geschreddert. Es ist das Frühjahr 2007, der Tag der Offenbarung liegt noch kein Jahr zurück, da heftet Christina Motejl die Dokumente ihrer ersten Niederlage ab. Anwaltspost, Gerichtsbescheid. Das Musterformular, von dem sie nicht ahnt, dass es noch wichtig werden wird. Es ist für sie bloß Beleg dafür, es mit einem Schweigekartell zu tun zu haben. Schweigen ist im Sinne aller Beteiligten, außer dem von Christina Motejl, die noch nicht mal ein Zellklumpen war, als die Verabredungen getroffen wurden. Welcher Spender will schon riskieren, dass Jahre später – wenn er eine eigene Familie hat – ein fremdes Kind vor seiner Tür steht und Unterhalt verlangt? Und welche Eltern wollen sich der Gefahr aussetzen, dass irgendwann der Spender klingelt und alles durcheinanderbringt?

Im Jahr 2007 telefoniert Christina Motejl manchmal wieder mit ihrer Mutter, die vorsichtig anmerkt, die Tochter könnte etwas dankbarer sein. Ohne die Methode, ohne das Kartell, gäbe es sie, Christina, nicht. Das ärgert die Tochter noch mehr. Ihre Mutter redet fast wie Dr. Katzorke vom Arbeitskreis Donogene Insemination. Die Vereinigung von Reproduktionsmedizinern berät Politiker und hat in den Jahrzehnten seit Christina Motejls Geburt einige Selbstverständlichkeiten als Richtlinien ausformuliert.

Spender dürfen nicht mit Hepatitis, HIV oder Syphilis infiziert sein, auch kein Asthma, Rheuma und keine Epilepsie haben.

Mit dem Sperma ein und desselben Spenders sollen höchstens 15 Kinder gezeugt werden.

Keiner Patientin darf »Mischsperma« mehrerer Männer verabreicht werden.

Und Ärzte selbst sollen nicht spenden. Sie müssen gewissenhafte Mittler bleiben. Bei der Auswahl des Spenders sollen sie auf eine »Anpassung an Merkmale der Wunscheltern« achten, auf Körpergröße, Haar- und Augenfarbe, Blutgruppe, »ggf. Beruf und persönliche Interessen«.

Nicht so groß.

Das hat sie aber nicht von mir.

Von wem dann?

Wenn Christina Motejl damals bei Ärzten auf dem Anamnesebogen die Vorerkrankungen ihrer Eltern aufzählen soll, lässt sie viele Felder frei.

Was sie auch nicht weiß: welche anderen Menschen in ihrer Lage sind. Menschen, für die sie nicht mal einen Gattungsbegriff kennt. Sie liest von Adoptivkindern und Retortenbabys, erfährt auch von schätzungsweise 100.000 gelungenen Inseminationen in der Geschichte der Bundesrepublik, aber nichts über die Kinder, die daraus hervorgegangen sind.

So muss es sein, wenn man allein im All ist.

Also sendet sie ein Signal. Ihr Freund, Informatiker, baut eine Website, di-kind.de, Donogene-Inseminations-Kind. Singular.

Christina Motejl stellt einen Text auf die Seite. Ihre Geschichte. Und eine Bitte.

Ich würde mich über Kontakt zu anderen Samenspendekindern für einen Erfahrungsaustausch freuen. Erreichen kann man mich unter ...

Aus dem Nichts treffen Botschaften ein. Signale anderer Einzelner. Die Ersten, die sich melden, haben nicht das Gefühl, einen Schicksalsschlag besprechen zu müssen, eher eine Schicksalsschrulle. Der Kontakt reißt wieder ab.

Monate später schreibt eine Anne. Die weiß seit früher Kindheit Bescheid und sucht ihren Spendervater. Die beiden Frauen mailen, telefonieren, halten sich aneinander fest, eine Juristin und eine Psychologin, eigentlich funken sie auf verschiedenen Frequenzen, doch die Verbindung erweist sich als stabil.

2009 treffen sich acht Menschen in Göttingen. Sie gründen einen Verein. Sie geben sich einen Namen. Spenderkinder. Plural. Sie schalten eine neue Homepage frei. Die Signale werden stärker, auch nach außen. Sie werden von Redaktionen wahrgenommen. Erste Reportagen erscheinen. In Neon, Brigitte, der Rheinischen Post.

Anfangs sieht es so aus, als habe Christina Motejl eine Art journalistischer Pendeldiplomatie angestoßen, einen Austausch von Argumenten: Wenn Reporter eines der Spenderkinder befragen, holen sie anschließend die Meinung des Vorsitzenden des Arbeitskreises Donogene Insemination ein, Thomas Katzorke. Sprechen sie erst mit ihm, fragen sie danach die Spenderkinder.

2010 berichtet auch die ZEIT. Der Autor dieses Dossiers interviewt Thomas Katzorke. Der Arzt ist so fröhlich und witzig, wie Christina Motejls Mutter ihn in Erinnerung hat. Und er ist stolz auf sein Lebenswerk: »Vielleicht 30.000, 40.000« Kinder seien in seiner Praxis entstanden. Katzorke erwähnt das Leid, von dem er verzweifelte Paare erlöse, erklärt, dass die geheime Samenspende vor allem Menschen aus Kulturkreisen helfe, in denen Kinderlosigkeit ein Makel ist. Das können Muslime im Ruhrgebiet sein oder Katholiken im Sauerland.

Spielt man das Tonband heute ab, hört man einem Alltagssoziologen zu. Der Arzt berichtet, wie ihn die Globalisierung bei der Suche nach Spendern vor Probleme stellt – weil die Patienten zugleich in engen Grenzen denken: Türkische Paare wollen nichts vom Kurden, Eritreer nichts vom Äthiopier. »Einmal hatte ich welche, die haben mich zur Weißglut gebracht. Die kamen aus Ceylon, da habe ich mit Mühe und Not jemanden gefunden – da haben die aber gesagt: Der hat die falsche Religion!« Lautes Lachen.

Das ist damals seine Botschaft, oder auch die Verteidigung seines Geschäftsmodells: Gene sind nicht so wichtig, die Identität des Spenders noch weniger. Und die Spenderkinder? Nerven ihn. Katzorkes Stimme verliert ihren freudigen Ton. Er sagt, das seien fast nur Frauen, »aus gescheiterten Beziehungen offensichtlich. Man muss aufpassen, dass das nicht Krankheitswert erlangt.«

Die journalistische Pendeldiplomatie bringt keine Entspannung. Die Konfliktparteien kommen nicht miteinander ins Gespräch. Sie reden nur übereinander. Und das schlecht. Als Christina Motejl nach Berlin zieht und dort einen Job in einer global operierenden Anwaltskanzlei antritt, schickt Thomas Katzorke ihr einen öffentlichen Gruß hinterher. Dem Autor Andreas Bernard, der damals für ein Sachbuch mit dem Titel Kinder machen recherchiert, sagt er in einem Interview: Eine »Jurastudentin« habe ja »immer getönt, sie werde mich verklagen, aber jetzt scheint sie doch zu arbeiten und eine andere Beschäftigung gefunden zu haben«.

Nach wie vor kennen sich Thomas Katzorke und Christina Motejl damals nur dem Namen nach. Erbitterte Gegner, die sich nie zu Gesicht bekommen, aber voneinander wissen, zwei Antipoden. Der Aufmerksamkeit für die Spenderkinder setzt der Arzt Aufsätze in Fachzeitschriften entgegen. Einmal schreibt er: »Bindungen zwischen Menschen, ob genetisch unterlegt oder nicht, sind stets die Folge sozialer Prozesse, die ihre Zeit gedauert haben und von Gefühlen begleitet gewesen sein müssen. Familie ist eine soziale Konstellation; die sog. Blutsbande wurden in der Vergangenheit (...) überschätzt und mythisch überhöht.«

Blutsbande. Stammbaumstolz. Genpool. Die Sache ist verzwickt, historisch vergiftet. Forscher wissen zwar, dass nicht allein die Sozialisation den Menschen prägt, nicht nur Umfeld und Umgang, wie man in den Siebzigerjahren glauben wollte. Aber wie über vererbte Einflüsse reden? Das Vokabular ist kontaminiert. Und schnell hat man falsche Verbündete. 2010, als die Spenderkinder immer mehr Gehör finden, diskutiert die Republik über Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab. Darin legt der Autor nahe, ganze Ethnien seien – genetisch bedingt – unterschiedlich intelligent.

Christina Motejl weiß: Leicht gerät sie auf die Seite derer, mit denen sie nichts zu tun haben will. Der Rassisten, alten Nazis, neuen Rechten. Doch sie hat Fragen. Warum sind Zwillingskinder, die getrennt aufwachsen, sich oft sogar im Verhalten verblüffend ähnlich? Warum sind Geschwister, die gemeinsam groß werden, grundverschieden?

Wer hat was von wem?

In jeder Sprache sind die Wörter Mutter und Vater allgegenwärtig, auch im Deutschen. Da ist nicht nur das Vaterland. Da sind der Landesvater, Beichtvater, Doktorvater, Herbergsvater, Turnvater, Übervater, Gottvater, die Vorväter, Vaterfreuden, der Vatertag, väterlich. Ganz der Vater.

Christina Motejl verdächtigt Thomas Katzorke, sich absichtlich, beinahe lustvoll, zwischen Spender und Kinder zu stellen. Obwohl sie ihn noch nie getroffen hat, glaubt sie, ihn zu kennen. Sie verfolgt seine Wege, beobachtet ihn, sammelt Artikel, lädt Bilder aus dem Netz, schaut, ob er neue Aufsätze geschrieben hat. Sie weiß, dass Katzorke mit seiner Frau drei Töchter hat, geboren 1986, 1988, 1990. Sie weiß, dass er Vorsitzender des Fördervereins der Fotografischen Sammlung des Essener Folkwang-Museums ist. Dass er moderne Kunst liebt und kauft. Dass er ein neues Haus gebaut hat, um Platz für seine Sammlung zu haben.

Für jemanden, der hinschaut, ist es fast unmöglich, nichts über Thomas Katzorke zu erfahren. Die Westdeutsche Allgemeine Zeitung berichtet regelmäßig über ihn. Das Magazin der Süddeutschen Zeitung druckt ein großes Gespräch. Auftritte bei Sat.1 und RTL 2 werden folgen, wie auch ein Fotoshooting der Kunstzeitschrift Monopol in Katzorkes Haus.

Christina Motejl liest und sammelt, sammelt und liest. Und ihr fällt etwas auf: Die Unterlagen aus der Uni-Klinik, die Daten ihres eigenen Spenders, mögen verschollen sein. Doch wenn der Arzt nach den jüngeren Akten in seiner eigenen Praxis gefragt wird, äußert er sich nicht so klar.

Und so beschließt sie zu lauern. Zu warten. Darauf, dass sich ein jüngeres Spenderkind bei ihr meldet. Jemand, der nicht wie sie in der Uni-Klinik entstand, sondern in Katzorkes neuer Praxis, wo es vielleicht Unterlagen gibt.

Es meldet sich eine Sarah, 18, aus Essen. Christina Motejl denkt: Mag sie selbst vor Gericht verloren haben – jetzt hilft sie eben einer anderen, zu gewinnen. Und dann schreibt die »Jurastudentin«, von der Thomas Katzorke sagte, sie habe immer »getönt«, ihn zu verklagen: eine Klage.

Dezember 2012, Oberlandesgericht Hamm. Draußen fällt Schnee, unter den schwarzen Augen einiger Fernsehkameras begegnen sich Christina Motejl und Thomas Katzorke zum ersten Mal. Der Arzt spricht sie nicht an, erkennt sie vielleicht gar nicht. Im Gerichtssaal sitzen sich die beiden gegenüber, Christina Motejl neben Sarah und einem Anwalt, der das Mandat übernommen hat.

Unter den Zuschauern: Journalisten. Juristen. Anne aus den Anfangszeiten. Und Christina Motejls Eltern. Für diesen einen Tag sind die Getrennten wieder beieinander. Die Eltern sind nicht mehr befremdet angesichts der Verbissenheit der Tochter, sondern stolz auf ihre Beharrlichkeit.

Die Verhandlung dauert Stunden. Der Arzt verstrickt sich in Widersprüche. Thomas Vogt, damals Vorsitzender Richter, macht klar, das Recht auf Kenntnis der Abstammung lasse sich nicht von Erinnerungslücken eines Mediziners aushebeln. Vogt erinnert sich heute noch gut an »ein ungewöhnliches Verfahren, wegen der menschlichen Betroffenheit. Es ging für beide Seiten um enorm viel.«

Es fällt kein Urteil an jenem Tag, dennoch zieht am Abend eine Prozession von Spenderkindern siegesgewiss durch die verschneite Stadt zum Bahnhof und verteilt sich dort in alle Himmelsrichtungen.

Einige Wochen später verkündet das Gericht: Der Arzt muss die Spenderdaten nennen. Es reicht nicht, dass ein Reproduktionsmediziner behauptet, er habe keine Akten mehr. Er muss es beweisen. Eine Revision des Urteils ist nicht möglich. Auf der Facebook-Seite der Spenderkinder erscheint ein Kommentar.

Ihr Lieben: wir haben gewonnen! :-)

Spiegel Online berichtet, die Welt, die WAZ, die FAZ, die Gazeta Wyborcza in Polen und ABC in Spanien. Das Thema ist überall. Ein Mann, der glaubt, er könnte Sarahs Spender sein, meldet sich von selbst. Er heißt Hubertus. Sie verabreden sich, mögen sich, machen einen Gentest. Treffer. Inzwischen ist Sarah Mutter und Hubertus Großvater.

Nicht lange nach dem Prozess bringt auch Christina Motejl ihr erstes Kind zur Welt. Ein Mädchen. 56 Zentimeter groß. Wie sie es selbst als Baby war.

Zwischen ihr und Thomas Katzorke geht es weiter hin und her, meist beharken sie sich indirekt, mit Stellungnahmen für Politiker, in den Medien. Christina Motejl ärgert sich, als sie erfährt: Auch nach seiner Niederlage vor Gericht zeigt sich der Arzt bei Anfragen von Spenderkindern nicht sehr kooperativ. Mehrmals verlangt er für Auskünfte Bearbeitungsgebühren. In einem Brief, der der ZEIT vorliegt, fordert er eine Anzahlung von 500 Euro.

Ein letztes Mal begegnen sich Thomas Katzorke und Christina Motejl 2016 in Berlin. Das Gesundheitsministerium hört sie zu einem Entwurf des »Samenspenderregistergesetzes« an. Monströser Name, revolutionärer Inhalt: Spenderdaten sollen nicht mehr von einzelnen Ärzten gesammelt, sondern zentral gespeichert werden. Nicht für zehn, nicht für 30, sondern für 110 Jahre. Weit über jede Lebenserwartung hinaus. Bis heute erzählen nur wenige Eltern ihren aus einer Samenspende entstandenen Kindern von der Art ihrer Zeugung. Wenn sie es täten, gäbe es also einen Ansprechpartner. Dafür sollen künftige Spender von Unterhalts- und Erbansprüchen der Kinder befreit werden – und die Kinder von denen der Spender.

Bei der Anhörung sitzen Thomas Katzorke und Christina Motejl nur einige Armlehnen voneinander entfernt. Für die junge Frau ist der Tag ein Triumph. Aus der Ratsuchenden ist eine Ratgeberin geworden. Parlamentarier der Grünen, der SPD, der CDU erkundigen sich nach ihrer Meinung. Und ein Teil ihrer Meinung wird Gesetz, der Entwurf geht durch.

Im selben Jahr stirbt Christina Motejls Vater, sie nennt ihn bis heute so. Wieder ist es Krebs. Die Tochter fährt zum Sterbenden, sooft sie kann. Letzte Chancen, letzte Worte.

Und dann findet Christina Motejl den Spender. 2018. Nach zwölf Jahren.

Ihr Verein hat mittlerweile 150 Mitglieder, eine Menge und doch nicht viele. Die meisten Spenderkinder hätten mit ihrer Herkunft eben kein Problem, sagen einige Ärzte. Falsch, sie wüssten bis heute nicht davon, sagen die Vereinsgründerinnen.

Viele der Mitglieder suchen nach wie vor ihre Erzeuger, aber ihren Platz im Leben haben sie gefunden, als Ärztin, Historiker, Ingenieur, Informatikerin, Drogeriefachverkäuferin, bei der Polizei. Christina Motejl ist Regierungsdirektorin in einem Bundesministerium geworden.

Die Mails, die sich die Suchenden heute schreiben, lesen sich mittlerweile euphorisch, fiebrig. Nach Bittbriefen, Prozessen und Interviews bedienen sie sich eines neuen Mittels: Plastikröhrchen, Schraubverschluss, Barcode. Ein Gentest.

Die Zeiten sind endgültig andere als in Christina Motejls Geburtsjahr, und der Zeitgeist ist es auch: Bücher, die nun erscheinen, heißen Was unsere Gene über uns verraten, The Gene: An Intimate History und Die Reise unserer Gene: Eine Geschichte über uns und unsere Vorfahren. Die ZEIT zitiert einen Verhaltensgenetiker mit der Behauptung, das »größte Geschenk der Eltern an ihre Kinder« sei nicht die Erziehung, sondern das Erbgut. »Unsere genetische Ausstattung bestimmt mindestens zur Hälfte, wie wir uns in unseren wichtigsten Charaktermerkmalen von anderen unterscheiden.«

Wer mag, kann heute seine DNA per »Ethnizitätsschätzung« in baltische, jüdisch-aschkenasische oder zentralasiatische Anteile aufschlüsseln lassen, kann zurückreisen in die Zeit der Völkerwanderung oder prüfen, ob seine Ahnen einst womöglich auf der Mayflower über den Atlantik segelten. Vor allem in den Vereinigten Staaten ist die Herkunftssuche zum Gesellschaftsspiel geworden – und jeder, der eine Probe einreicht, knüpft mit an einem Netz aus bisher unsichtbaren Verbindungen.

Das Erbgut eines Menschen ist ein gefragter Erzähler. Es verrät viel über Krankheitsrisiken. Und über Verwandte, vorausgesetzt, sie haben ihre DNA in derselben Datenbank hinterlegt.

2012 macht Christina Motejl einen ersten Test. Nichts.

2013 erhalten zwei Spenderkinder aus Hamburg Rückmeldung – sie sind Halbgeschwister, gezeugt vom selben Mann.

2014: zwei Halbschwestern aus Gießen, zwei Halbgeschwister aus Essen.

2016: zwei Halbgeschwister aus München. Vier neue Halbgeschwister aus Essen.

2017: zwei Halbbrüder aus Zwickau, Wochen später noch eine Halbschwester.

2018: wieder drei Halbschwestern aus Essen. Die Münchner sind jetzt zu neunt.

Menschen, die einen Vater suchen, finden Brüder und Schwestern. Die Münchner Geschwistergruppe feiert hin und wieder gemeinsam Geburtstage und geht auf den Weihnachtsmarkt. Auch Anne, von Anfang an dabei, entdeckt Halbgeschwister in Berlin, Kalifornien und Essen – eine der Frauen, an die Anne sich wendet, rutscht in eine Krise, sie weiß nicht: Ist ihr Vater nicht ihr Vater? Oder war ihr Vater in seinen jungen Jahren Spender, bevor er mit ihrer Mutter eine Familie gründete? Sie will ihn nicht fragen. Sagt, sie wolle von Anne und den anderen nichts hören. Aufklärungsfuror kann auch traumatisieren.

Immer mehr Mitstreiter melden neue Treffer, Christina Motejl bringt ihr zweites Kind zur Welt. Wieder ein Mädchen. Wieder 56 Zentimeter groß.

Noch einmal macht sie einen Test, bei gleich zwei Anbietern. Die Päckchen kommen aus den USA, auf einem steht welcome to you. Christina Motejl gibt Speichel in die Röhrchen. Am nächsten Tag geht sie zur Post.

Drei Monate später eine Mail. Ein Klick, ein letzter Moment des Wartens nach Jahren. Dann sieht Christina Motejl: Da ist ein Verwandter namens Guido. Cousin ersten oder zweiten Grades. Wahrscheinlichkeit: extremely high.

Guido. Wer soll das sein?

Google sagt: Guido lebt in Kanada. Christina Motejl findet eine Adresse. Und eine Todesanzeige, die Guido für seinen Vater geschaltet hat: Der war 1953 aus Deutschland ausgewandert und ist nach langer Krankheit im Alter von 84 Jahren gestorben. Jetzt trauern »Guido and his wife Susan (...) his nephew Steven (...), his niece Tania (...) and his nephew Dr. Tomas Katzorke of Germany.«

Dr. Tomas Katzorke of Germany.

Rundlicher Kopf, rotbraune Haare, heller Teint.

»Da hatte ich zum zweiten Mal das Gefühl, mir selber in einer schlechten Vorabendserie zuzusehen«, sagt Christina Motejl in ihrer Wohnung in Berlin.

In der folgenden Nacht kann sie nicht schlafen. Tomas Katzorke? Der Neffe des Vaters ihres Cousins ersten oder zweiten Grades? Und das fehlende H in Tomas: ein Tippfehler?

Als gäbe es wirklich ein Drehbuch, trifft am nächsten Tag die Mail des anderen Labors ein. Das meldet einen Benutzer, der sich mit dem Kürzel »TK« registriert hat.

Genetische Übereinstimmung: 49,8 Prozent.

Verwandtschaftsgrad: Father.

Nun kann es kein Irrtum mehr sein, keine Halluzination, kein Film, da ist Christina Motejl sich sicher. Wer soll TK sein, wenn nicht Thomas Katzorke? Wie, um Himmels willen, ist er in diese Datenbank geraten? Hat der Arzt, der stets vorgab, die Interessen der Spender zu wahren, die ganze Zeit sich selbst geschützt? Der Mann, der ihr zum Feind wurde, ist ... ja, was? Für so eine Vaterfigur gäbe es im Deutschen dann doch keinen Begriff.

Wie ganz am Anfang schreibt Christina Motejl wieder an Thomas Katzorke.

Sehr geehrter Herr Katzorke,

ich habe gestern meine Ergebnisse für den DNA-Test Ancestry erhalten. (...) Ich muss annehmen, dass Sie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit mein genetischer Vater sind.

Das ist nicht mein erster Brief an Sie, aber wohl der schwierigste. (...) Es ist geradezu ironisch, dass ausgerechnet wir miteinander verwandt sind. In Interviews haben Sie oft betont, dass der Samenspender inzwischen eine eigene Familie haben könnte, in die nicht eingebrochen werden dürfe. Jetzt ist mir klar, dass sie dabei auch über sich selbst gesprochen haben. (...)

Ich habe weder finanzielle Interessen, noch möchte ich Ihre Familie irgendwie stören. (...) Aber ich hätte gerne ein paar Antworten. Ich fände es daher schön, wenn wir miteinander reden würden. (...)

Anliegend schicke ich Ihnen ein Foto von meiner Familie und mir am Kap der Guten Hoffnung vom Ende des letzten Jahres.

Dieses Mal kommt die Antwort prompt. Thomas Katzorke schreibt, er sei überrascht, er würde gern reden. Wörtlich aus seiner Mail zu zitieren würde gegen seine Persönlichkeitsrechte verstoßen; mit der ZEIT will er nicht mehr sprechen.

Und dann ruft er sie an. Es telefonieren, allem Anschein nach: Ein Starmediziner und seine erbitterte Gegnerin. Ein Arzt und sein Geschöpf. Ein Vater und seine Tochter.

Er ist inzwischen 70, sie fast 40.

In Christina Motejls Ohren klingt Thomas Katzorke freundlicher, als sie ihn je erlebt hat. »Vielleicht hatte ich erstmals einen Eindruck, wie er privat sein kann.« Er habe ergriffen gewirkt, als klar wurde, dass da »zwei Enkel mehr« sind. Nach Christina Motejls Darstellung deutet Katzorke an, dass er zwei- oder dreimal eingesprungen sei, wenn Spender nicht zum Termin erschienen.

Und der Gentest, der nahelegt, dass er ihr biologischer Vater ist?

Den habe er gemacht, um Krankheitsrisiken zu testen. Offenbar hatte er vergessen, im Datenschutz-Klein-Klein anzukreuzen, dass seine Ergebnisse nicht mit anderen abgeglichen werden sollen.

Die beiden verabreden, sich bald zu treffen.

Bevor es dazu kommt, skizziert Thomas Katzorke in einer weiteren, langen Mail zunächst die Kriegs- und Vertreibungsgeschichte seiner Eltern, fast so, als führe er Christina Motejl in seine Familie ein. Doch Absatz für Absatz kühlt sein Ton ab, etwas verschattet sich. Die Mail liest sich wie die Mitschrift eines inneren Monologes, wie ein psychologisches Dokument: Ein Mann kehrt in die Rolle zurück, in der er die meiste, die sicherste, die erfolgreichste Zeit seines Lebens verbracht hat. In den letzten Zeilen teilt er Christina Motejl mit, er wolle nichts über ihre Familie wissen und keine Fotos sehen. Genetische Abstammung sei für ihn immer uninteressant gewesen.

Und er schreibt ihren Namen falsch.

Christina Motejl sagt heute, sie habe sich »natürlich einen offeneren, freundlicheren Spender« gewünscht. Es fühle sich seltsam an: Resultat eines riesigen Zufalls zu sein, noch willkürlicher entstanden als andere Spenderkinder. Aber sie habe jetzt wenigstens einen Namen, ein Gesicht, einen Abgleich. »Entschlossen sind wir ja beide«, sagt sie. Sie lacht, spricht von »Heilung«, und vielleicht glaubt sie es auch.

Für ihre Töchter hat sie ein Babybuch angelegt, wie ihre Mutter eine Generation zuvor. Dort klebt im Stammbaum das Bild eines Mannes, rundlicher Kopf, runde Brille, rotbraunes Haar, heller Teint. Darunter, handschriftlich: »Prof. Dr. Thomas Katzorke, genetischer Opa.«

Der ZEIT lässt Thomas Katzorke über seine Anwälte ausrichten, selbst wenn er sich eines Verstoßes schuldig gemacht haben sollte, unterläge der »nach mehr als 30 Jahren der absoluten Verjährung«. Einer Verletzung seiner Rechte werde »mit Nachdruck« begegnet.

Doch der Fall ist von beispielhafter Relevanz, von öffentlichem Interesse. Nicht weil er Züge einer Tragödie hat. Sondern weil deutlich wird, was geschehen kann, wenn der Fortschritt der gesellschaftlichen Kontrolle und der Gesetzgebung enteilt. Wenn sich ein toter Winkel auftut, in dem Pioniere – ob Kernphysiker, Bakteriologen oder eben Reproduktionsmediziner – unbeobachtet bleiben. Und handeln.

Thomas Katzorke fühlte sich offenbar so unantastbar, dass er sehr wahrscheinlich gegen seine eigenen Verträge verstieß: »... daß der Samen von einem Spender stammt, der die Identität der Frau und des Mannes nicht kennt.«

Christina Motejls Mutter zu Hause ringt um Worte. Sie ist diesem Arzt ja nach wie vor dankbar dafür, ein Kind zu haben. Aber sie will ihm »nie wieder begegnen. Was er gemacht hat, war nicht in Ordnung. Dieses: Ich zeuge, ich schöpfe.«

Der Berliner Medizinrechtler Jörg Heynemann nennt ein solches Verhalten eines Arztes ethisch »völlig unakzeptabel«, strafrechtlich betrachtet halte er es für eine »vorsätzliche Körperverletzung« der Mutter. Die zuständige Ärztekammer Nordrhein will sich zum konkreten Fall noch nicht äußern, teilt aber allgemein mit, wenn ein Arzt eine Patientin mit eigenem Sperma behandle, stelle das »aus berufsrechtlicher und medizinethischer Sicht ein unvertretbares Vorgehen dar«: Das Vertrauen der Frau werde missbraucht, das Gebot der professionellen Distanz missachtet, die Patientenautonomie untergraben.

Für Christina Motejl ist das Rätsel um ihren Erzeuger gelöst. Doch mit der Antwort stellen sich neue Fragen: Wie viele Kinder hat Thomas Katzorke selbst gezeugt? Wie oft ist er eingesprungen? Und wie viele andere Ärzte in Deutschland handelten wie er?

In Berlin, Regierungsviertel, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus, erster Stock, reden die Fachleute gut eine Stunde lang über die »Bundestagsdrucksache 19/5548«, den Gesetzentwurf der Linkspartei: Medizinische Kinderwunschbehandlungen umfassend ermöglichen. Am runden Tisch, zwischen zwei älteren Herren, sitzt Christina Motejl. Im Saal das Für und Wider zum Gesetzentwurf: Sollen auch alleinstehende Frauen Samenspenden bekommen? Und müssen die Krankenkassen das komplett bezahlen? Christina Motejl ist dagegen. Sie zieht ihr Mikrofon heran und sagt, alleinstehende Frauen seien nicht krank, ihnen fehle nur ein Mann. Einige wollten auch keinen, aus Überzeugung. Solle man da eine Schwangerschaft auf Bestellung erlauben und bezahlen, eine Befruchtung beim Arzt anstatt in einer Beziehung? Ob das später dem Kind diene?

Sie argumentiert sehr hart. Auch Christina Motejl ist wieder in ihrer alten Rolle, kämpft.

Genau wie er.

Sie hätte gern ein Foto und ein paar Fakten, um sich vorzustellen, was sie vom Spender geerbt hat

Er findet, die Identität der Spender müsse geschützt werden. Dafür hat er gute Gründe

Foto: Oliver Müller/Funke Foto Services Foto (Ausschnitt): Marlen Mueller für DIE ZEIT Fotos: Marlen Mueller für DIE ZEIT; Keystone/dpa (o.)

HINTER DER GESCHICHTE

Der Ausgangspunkt: Der Autor berichtete schon 2010 über den Streit zwischen Spenderkindern und Reproduktionsmedizinern. Damals kam er auch in Kontakt zu Christina Motejl, die ihn nun auf ihre Geschichte aufmerksam machte.

Die Recherche: Als Quellen dienten Dokumente und Gespräche mit etwa 30 Personen – Richtern, Beamten, Anwälten, Ärzten.

Um ihren biologischen Vater zu finden, ließ Christina Motejl ihre DNA testen. Nun stellen sich ihr viele Fragen

Das Babybuch, das Christina Motejl für ihre eigenen Kinder angelegt hat. Im Buch klebt auch ein Foto des genetischen Opas

Der Reproduktionsmediziner Thomas Katzorke, fotografiert im Jahr 2009 – ihm verdankt Christina Motejl ihre Existenz