NINA PAUER ENTDECKT

Quarantäne-Kinder

Man darf sie sich wohl als glückliche Menschen vorstellen

Wie es wohl in ihren Köpfen aussieht? Was sie wohl denken mögen von uns, den Erwachsenen dieser Tage, die bei all ihren Bemühungen um Normalität doch immer wieder stark verhaltensauffällig werden – und sei es bloß durch die Tatsache, dass sie einfach immer da sind?

Was etwa reimte sich der Zweijährige zusammen, der Anfang der Woche noch mehrfach an der Wohnungstür stoppte, die Schuhe in die Hand nahm, den Kopf zur Seite neigte und mit großen Augen fragte: »Kita nich?« – »Genau! Kita nich!«, riefen die Eltern wie aus der Pistole geschossen zurück – eine Wendung um 360 Grad, bedenkt man, wie gehetzt ebenjene Eltern noch bis vor Kurzem jeden Tag zur selben Uhrzeit an demselben Zweijährigen herumzerrten, damit er rechtzeitig für den Morgenkreis in Regenhose und Stiefeln steckte.

Diejenigen, die gerade zu Hause sind, erleben derzeit eine Art von Familienalltag, wie es ihn so noch nie gegeben hat. Eine gewisse Ähnlichkeit gibt es zur Phase des Wochenbetts – drinbleiben, viel essen, die Zeit vergessen, das Leben als Grenzerfahrung unhinterfragt als neuen Alltag hinnehmen –, doch statt eines Säuglings sitzen da jetzt richtige Kinder, und im Gegensatz zu damals steht die Welt diesmal nicht nur drinnen, bei einem selbst, still, sondern auch draußen.

Vieles spricht dafür, sich das Quarantänekind dieser Tage als glücklichen Menschen vorzustellen. So grauenhaft es theoretisch scheint, kleine Kinder zu Hause einzupferchen: Aus ihrer Sicht hat dieses Konzept auch viel Gutes. Die Eltern sind ständig da, die Sendung mit der Maus läuft mittlerweile täglich, und auch sonst hagelt es Aktivitätsangebote. Die normalerweise für Erwachsene als so wichtig und wertvoll angepriesenen Stoffe im Vollkornbrot werden kurzerhand als unnötiger Ballast abgeworfen und restlos durch Weißmehlbrötchen ersetzt. Wünsche nach Kakao oder Pfannkuchen werden, ohne mit der Wimper zu zucken, erfüllt, und die Tablets, die vormals nur zähneknirschend mit strikten Anweisungen (»Eine Folge, danach kein Streit!«) überreicht wurden, gibt es jetzt hinterhergeschmissen. »Darf ich bitte, bitte noch ein bisschen weitergucken?«, diese Frage erübrigte sich bereits an Tag eins, Bibi Blocksberg und Peppa Wutz sind nun als Flatrate verfügbar.

Wobei das Commitment der Eltern noch viel weiter geht. Die Haare der Puppe mit Shampoo in der Badewanne waschen? »Wir könnten sie ihr ja auch schneiden!«, ruft dabei nicht das Kind, sondern der Erwachsene. Höhle bauen? »Ich hole noch das große Kissen!« Ein Gebilde aus auf dem Balkon lagernden Stöckern zusammenbauen mit Nägeln und Schrauben? »Ich suche noch ein längeres Verbindungsstück für die Mitte!« Selbstversunken sitzen sie da, der Papa in Jogginghose, die Mama im Pyjama, schrauben, schmirgeln und schnitzen – auch wenn das Kind schon längst im Nebenzimmer Bilder malt. Ein rührender, ein absurder Anblick.

Wenn ihn denn jemand zu Gesicht bekäme. Die Kinder jedenfalls wundern sich über ihre neuen Eltern wenig. Schön, wenn sie mitmachen, blöd, wenn sie es nicht tun. Wenn sie die Arbeitszimmertür zusperren, fahrig vorm Bildschirm hängen, nervös herumtelefonieren oder darum streiten, wer vormittags arbeiten darf, darüber, wer hysterisch ist oder immer noch viel zu entspannt.

Am Ende liegen sie alle da. Abends, wenn im Kinderzimmer nur noch der Globus leuchtet, wird es kurz ruhig. »Hör mal, wie draußen die Vögel zwitschern«, flüstern sie dann und blicken noch eine Weile schweigend aus dem Fenster ihrer Kinder, für die dieser Tag so viel normaler war als für sie.

Hier entdecken jede Woche im Wechsel: Francesco Giammarco, Alard von Kittlitz, Anna Mayr und Nina Pauer

Illustration: Oriana Fenwick für DIE ZEIT