Der Richter und die Kleriker
Der größte Fehler, den man beim Thema sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche begehen kann, ist, das Ganze für ausschließlich historisch zu halten. Wobei nicht nur Kleriker und einige katholische Laien dazu neigen, die Tausende Missbrauchsfälle zu historisieren, um sie so besser verarbeiten oder vergessen zu können. Auch im Fernsehen bei Anne Will oder Markus Lanz interessiert nach Vorstellung des Münchner Missbrauchsgutachtens im Januar derzeit mehr katholische Zeitgeschichte im Allgemeinen und Joseph Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., im Besonderen als die nicht weniger skandalöse katholische Missbrauchsgegenwart. Diese steht gerade in ganzer Schrecklichkeit in Köln vor Gericht. Seit November wird dort einem Priester des Erzbistums Köln vor dem Landgericht der Prozess gemacht. Der 71-jährige Ue. wird beschuldigt, in den 1990er-Jahren seine drei Nichten missbraucht zu haben. Am 24. Februar soll die Kammer voraussichtlich das Urteil verkünden.
Der Prozess ist in vielerlei Hinsicht bedeutsam. Er ist Justizkrimi, katholisches Sittengemälde und Paradebeispiel für die Überlegenheit der staatlichen Aufklärung gegenüber der kirchlichen Paralleljustiz in einem. Kurz: Wer verstehen will, warum das System Kirche Missbrauch nicht nur möglich machte, sondern nach wie vor macht, sollte im Saal 142 des Kölner Landgerichts dabei gewesen sein oder zumindest die Prozessberichte im »Kölner Stadt-Anzeiger« nachlesen.
Drei Gutachten im Auftrag des Erzbistums Köln beschäftigten sich zuvor mit dem Fall und hielten fest, was nach der reichlich dürftigen Aktenlage kirchenintern zuvor bekannt war: dass die Nichten bereits 2010 Anzeige gegen den Onkel erstatteten und diese aufgrund innerfamiliären Drucks wieder zurücknehmen mussten. Dass der damalige Kölner Offizial Günter Assenmacher eigenmächtig entschied, die Glaubenskongregation nicht über die Vorwürfe zu informieren. Dass Ue. laut einer internen Notiz 2010 »alles« im Generalvikariat gesagt haben soll, was immer das auch heißt. Dass Erzbischof Joachim Meisner entschied, Ue. wieder als Priester einzusetzen. Und dass der damalige Kölner Hauptabteilungsleiter und spätere Hamburger Erzbischof Stefan Heße einer weiteren Notiz zufolge abgesegnet hatte, kein Protokoll von dem Gespräch mit Ue. im Generalvikariat anzulegen. Denn dies könnte irgendwann beschlagnahmungsfähig sein durch die Staatsanwaltschaft.
Nun, da sich der Prozess in Köln dem Ende nähert, steht fest: Was die Kirchenakten hergeben, spiegelt das wahre Ausmaß des Falls nicht wider. Ue., der im nicht öffentlichen Teil der Verhandlung teilweise gestand, missbrauchte wohl nicht nur in mindestens 33 Fällen seine drei Nichten und 2011 ein elfjähriges Mädchen. Es meldeten sich während des Prozesses zudem noch weitere Betroffene, darunter zwei ehemalige Pflegetöchter Ue.s. Eine gab an, von diesem zum oralen, vaginalen und analen Verkehr sowie zur Abtreibung gezwungen worden zu sein. In einem Fall ist der angegebene Tatzeitpunkt 2019 – im selben Jahr wurde der Fall Ue. neu aufgerollt, weil die Nichten sich entschlossen hatten, nun doch gegen ihren Onkel auszusagen. Kardinal Woelki verbot Ue. 2019, das Priesteramt auszüben.
Jeder der bisherigen Verhandlungstage brachte neue erschreckende Fakten ans Licht. Doch nur wenige finden sich in allen vom Erzbistum beauftragten Expertengutachten. Wie kann das sein, wenn Aufklärung und Prävention in der kirchlichen Selbstwahrnehmung so vorbildlich funktionieren? So viel steht fest: Der Vorsitzende Richter Christoph Kaufmann ist ein in Missbrauchsprozessen erfahrener Richter, über Superkräfte in der Wahrheitsfindung allerdings verfügt auch er nicht. Die sind, das ist ein deprimierendes Ergebnis dieses Prozesses, auch nicht nötig, um Missbrauch in der katholischen Praxis aufzuklären. Es reicht die Bereitschaft, die Fragen zu stellen, die in einer seriösen Ermittlung nach Beantwortung schreien: Warum hat ein Priester überhaupt Pflegetöchter? Welcher Bistumsverantwortliche lässt so etwas zu? Oder: Wieso hat 2010 kein Hierarch im Generalvikariat mit den Pflegetöchtern oder den Nichten gesprochen und selbst vor Ort Erkundigungen angestellt? Und: Was ist das eigentlich für ein kirchliches Rechtssystem, das so viel auf seine Unabhängigkeit hält und sich dann sofort mit dem Beschuldigten solidarisiert, wenn der, wie Ue. bis zu Prozessbeginn, die vorgeworfenen Taten offiziell beharrlich leugnet?
Es ist eine Qualität dieser staatlichen Aufklärung im Saal 142 des Kölner Landgerichts, dass sich Kaufmann nicht auf die Klärung des Tatvorwurfs beschränkt, sondern bei den Befragungen von Assenmacher und Heße auch nach den bistumsinternen Abläufen fragt und den klerikalen Selbstrechtfertigungen (»nicht zuständig«, »nicht verantwortlich«, »nicht befugt«) keine Autorität aus sich heraus zubilligt. Alles ist der Wahrheitsfindung untergeordnet, auch und gerade das kirchliche Amt und sein Träger. Die Kirchenverantwortlichen, noch ein Fazit, versagten vor der Verantwortung und versagen noch. Konfrontiert mit der staatlichen Macht, wirken sie wie Operetten-Generale, sind klein, hilflos, lächerlich fast. Weil der Vorsitzende Richter ihnen die gewohnten Privilegien gerade nicht zubilligt, schrumpfen sie auf ihr wahres Maß.
Um eine Missbrauchsbetroffene nicht warten zu lassen, unterbrach Kaufmann etwa die Befragung Günter Assenmachers und ließ diesen lieber noch mal im Gerichtssaal antanzen. Empathie mit den Betroffenen, zeigt das Beispiel, braucht nicht viel. Es reicht, dem Wort der Betroffenen dieselbe Bedeutung beizumessen wie dem eines Offizials oder Erzbischofs. So schafft man Vertrauen und ermutigt die zum Reden, die sich bislang nicht zu reden trauten. So wie die Frau, die eines Verhandlungstags bewegt unter den Zuschauern saß und von Kaufmann angesprochen wurde, ob sie auch etwas zur Wahrheitsfindung beitragen könne. Sie konnte und gab als Betroffene eine weitere Tat an. Ihr Mut, auszusagen, traf auf die Bereitschaft eines Richters, zuzuhören.
Der Kölner Prozess zeigt: Gerichtsverfahren können der unabhängigen Aufklärung als Vorbild dienen. Gleichwohl bleiben im konkreten Fall wichtige Fragen offen: Welche Maßnahmen ergriffen das Erzbistum Köln und Kardinal Woelki etwa in den Jahren 2018 und 2019, um weitere Taten Ue.s zu verhindern? »Wer als Vorgesetzter weiß, dass er es mit einem möglichen Sexualstraftäter zu tun hat«, sagte der Mainzer Strafrechtsprofessor Jörg Scheinfeld dem »Kölner Stadt-Anzeiger«, »und die Sache laufen lässt, handelt nach weltlichem Recht pflichtwidrig.«
Wird der Fall Ue. bald zum Fall W. wie Woelki? Zieht er weitere Verfahren nach sich? Nicht, wenn es nach Ue.s Verteidiger geht. Zu Prozessbeginn sagte der: Ue. habe nicht als Priester gehandelt, sondern als Privatperson. Bei der Bemessung des Strafmaßes ist die Unterscheidung nicht von Belang. Sie diente einzig dazu, die Institution freizusprechen von juristischer und moralischer Verantwortung. Es ist die Aufgabe von Richtern und Politikern, von Talkshows und Gutachtern, von Untersuchungsausschüssen, aber auch von jedem Einzelnen, selbst zu beurteilen, ob die Verteidigung damit durchkommt.
Dieser Prozess ist ein Justizkrimi und ein katholisches Sittengemälde.