CORONA

Wir müssen das Spiel drehen!

Wie wir uns zu Weihnachten einen leichteren Weg durch den Corona-Winter schenken können – und was das mit Fußball zu tun hat. Ein Gastbeitrag der Corona-Forscherinnen MELANIE BRINKMANN, SANDRA CIESEK UND VIOLA PRIESEMANN

So viel ist sicher: Wir werden in diesem Jahr ein sehr anderes Weihnachts- und Neujahrsfest erleben, als wir es gewohnt sind. Aber was ist über die Festtage hinaus eine sinnvolle Strategie für die kommenden Monate? Darüber machen sich Forscherinnen und Forscher in ganz Europa und der Welt Gedanken. Wir haben uns mit Experten verschiedener Fachgebiete ausgetauscht, von der Virologie bis zur Soziologe, von der Epidemiologie bis zur Wirtschaftswissenschaft, und wir kommen alle zum selben Schluss: So hohe Fallzahlen wie gegenwärtig können wir uns auf Dauer nicht leisten, weder im Gesundheitssystem noch in der Wirtschaft und der Gesellschaft. Deshalb fordern wir gemeinsam mit vielen weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern Europas, die Infektionszahlen zügig zu senken und dann auf einem niedrigen Niveau zu stabilisieren. Wir schlagen vor, einen Richtwert von 10 Neu- infektionen je Hunderttausend Einwohner pro Woche als Ziel anzustreben. Dieser Richtwert ist erreichbar und erlaubt noch klare Spielräume bis zur kritischen Obergrenze von 35 bis 50.

Das kann jedoch nur dann nachhaltig gelingen, wenn ganz Europa dasselbe Ziel verfolgt. Das Virus nutzt unsere offenen Grenzen aus. Ohne ein abgestimmtes Vorgehen werden Länder, die es geschafft haben, die Fallzahlen zu senken, immer wieder erleben, dass das Virus aus Nachbarstaaten mit hohen Fallzahlen eingeschleppt wird und zu vielen Neuinfektionen führt. Dieses europäische Ping-Pong-Spiel hat verheerende Folgen.

Die Eindämmung des Virus ist also eine europäische Teamaufgabe: Jedes Land, das die Ausbreitung unter Kontrolle bringt, erleichtert es den Nachbarländern, die Fallzahlen niedrig zu halten. Deshalb plädieren wir dringend dafür, ein solches Ziel gemeinsam und verbindlich festzulegen. Wie genau man dieses Ziel erreicht, das wissen die Länder, die Regionen selbst am besten.

Aber auch auf regionaler Ebene fordert die Bekämpfung der Pandemie Zusammenarbeit und Rücksicht. Viele Menschen tragen zur Eindämmung bei, indem sie ihre Kontakte beschränken, die AHA+L-Regeln einhalten und vorsichtig sind. Einen großen Beitrag leisten selbstverständlich die Menschen im Gesundheitssystem. Ärztinnen und Ärzte, Krankenpflegerinnen und -pfleger und Hilfspersonal kümmern sich jeden Tag in Krankenhäusern und Hausarztpraxen um infizierte Patienten. Dass manche Menschen die Pandemie für überschätzt und die Einschränkungen für übertrieben halten oder gar die Existenz dieses Virus leugnen – damit müssen die Beschäftigten im Gesundheitssystem, auch die in den Laboren und den Gesundheitsämtern, täglich zurechtkommen.

Um es klarer zu machen, wollen wir es mit dem Fußball vergleichen. Keine gute Mannschaft überlässt es allein den Verteidigern und dem Torwart, Tore zu verhindern. Der Gegner muss auf dem ganzen Spielfeld kontrolliert werden, um schmerzhafte Gegentore zu verhindern. Dieses Virus ist ein sehr ernst zu nehmender Gegner, der jede Verteidigungslücke nutzt. Von daher muss unser gesamtes Team auf dem Platz strategisch und klug aufgestellt sein. Jeder Einzelne muss dazu beitragen, das Spiel zu wenden. Dazu brauchen wir klare Regeln, die nachvollziehbar und vor allem einheitlich sind – nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Wie beim Fußball eben, da hat ja auch nicht jeder Verein, jedes Land seine eigenen Regeln.

Eines der besten Mittel, unsere Verteidigung nachhaltig zu stärken, ist die Impfung. Mit jedem Tag rücken sichere und effektive Impfstoffe ein Stückchen näher. Die Impfung macht aus einer drittklassigen Mannschaft eine auf Champions-League-Niveau. Wir wissen mittlerweile, dass es im kommenden Jahr Impfstoffe geben wird – es lohnt sich also, die aktuell noch lückenhafte Verteidigung mit allen Kräften zu verbessern. Und nicht nur das: Bis dahin müssen wir wieder die Oberhand in diesem harten Match gewinnen.

Um das zu erreichen, müssen zuerst die Neuinfektionen drastisch gesenkt werden. Die Vorteile liegen klar auf der Hand:

– Niedrige Fallzahlen retten Leben. Weniger Menschen sterben oder leiden an Covid-19 mit all seinen möglichen Spätfolgen.

– Niedrige Fallzahlen entlasten unser Gesundheitssystem, und die ohnehin begrenzten medizinischen Ressourcen stehen wieder anderen Patienten zur Verfügung, deren Versorgung derzeit zurückstehen muss. Auch die Krankenhäuser können wieder besser wirtschaften, und die Mitarbeitenden haben dann hoffentlich weniger Überstunden und eine geringere psychische Belastung.

– Niedrige Fallzahlen retten Arbeitsplätze und Unternehmen. Volkswirtschaften können und werden sich schnell erholen, sobald das Virus stark reduziert oder beseitigt ist – das zeigen die Beispiele aus vielen Ländern wie etwa China, Australien, Finnland, Norwegen, Uruguay, Südkorea, Japan, Taiwan und Neuseeland. Im Gegensatz dazu steigen die wirtschaftlichen Kosten von Lockdowns überproportional mit ihrer Dauer, wie Berechnungen des Ifo-Instituts zeigen. Ein kurzer, harter, konzertierter Lockdown über zwei bis drei Wochen lässt sich verkraften, wochenlange Teil-Lockdowns dagegen nicht.

– Die Kontrolle über das Virus ist bei niedrigen Fallzahlen viel effektiver. Denn die Test- und Rückverfolgungskapazitäten sind begrenzt. Nur bei ausreichend geringen Fallzahlen kann die sogenannte Test-Trace-Isolate-Strategie (Testen, Nachverfolgen, Isolieren) effizient die Ausbreitung verringern, nur dann können Infektionsketten unterbrochen werden. Insgesamt sind dann weniger Maßnahmen zur sozialen Distanzierung erforderlich; Schulen und Unternehmen können geöffnet bleiben.

– Die notwendige Herdenimmunität in der Bevölkerung auf natürlichem Weg durch Infektionen zu erreichen ist keine Alternative. Wir haben schon jetzt eine deutliche Übersterblichkeit und eine hohe Belastung durch Krankheits- und Todesfälle. Gleichzeitig gibt es wahrscheinlich keine langfristige Immunität. So viel Leid für ein völlig ungesichertes Resultat ist ethisch nicht vertretbar.

– Niedrige Fallzahlen ermöglichen Planung. Schnelle Richtlinienänderungen sind dann nicht mehr erforderlich. Mehr Sicherheit verringert wirtschaftliche Schäden und bei jedem Einzelnen die Belastung der psychischen Gesundheit.

Simulationsrechnungen haben gezeigt, dass es einen sogenannten Kipppunkt gibt, an dem das Virus die Überhand gewinnt. Solchen Punkten begegnen wir in der Wissenschaft immer wieder. Im Falle des Virus sind die Kapazitäten der Tests und der Gesundheitsämter ein wichtiges Kriterium. Bei zu hohen Fallzahlen rennen wir dem Geschehen, um auf die Fußballmetapher zurückzukommen, im eigenen Strafraum nur noch hinterher. Das Ziel muss sein, den Ball erst gar nicht an den Gegner zu verlieren. Denn hinterherzusprinten kostet zu viel Kraft und Ressourcen. Besser ist es, die Kontrolle über den Ball zu behalten. Daher gilt: Je früher wir handeln, desto besser ist es. Um diese Kontrolle über das Infektionsgeschehen wieder zu erlangen und dann auch zu behalten, schlagen wir eine Strategie mit folgenden vier Kernelementen vor:

Erstens: Drastische Senkung der Zahl der Neuinfektionen. Dabei sollte das Ziel bei einer Wocheninzidenz von etwa 10 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner liegen, am besten darunter. Dieses Ziel wurde in vielen Ländern nach der ersten Welle im Frühjahr erreicht, es kann wieder erreicht werden. Dabei haben sich starke und konsequente Interventionen als effizient erwiesen. Die Wirtschaft leidet unter konsequenten, aber dafür kurzen Interventionen in deutlich geringerem Umfang als unter weniger effizienten und dann länger andauernden.

Zweitens Stabilität: Zahl der Neuinfektionen auf konstant niedrigem Niveau halten. Wenn die Fallzahlen niedrig sind, können die Beschränkungen gelockert werden. Das Lockern muss jedoch sorgfältig überwacht werden. Gezielte Präventionsmaßnahmen müssen weiterhin eingehalten werden, also die erweiterten AHA+L-Regeln sowie das Testen, die Kontaktrückverfolgung, Isolation und Quarantäne. Lokale Ausbrüche erfordern eine schnelle und konsequente Eindämmung, einschließlich lokaler Reisebeschränkungen und gezielter Tests, um ein Überspringen auf die stabilen Regionen zu vermeiden.

Drittens: Koordinierte und einheitliche Strategie in Europa. Um einen Ping-Pong-Effekt der Ein- und Wiedereinfuhr von Sars-CoV-2-Infektionen zu vermeiden, muss die Senkung der Neuinfiziertenzahlen in allen europäischen Ländern synchronisiert werden, und sie sollte so bald wie möglich beginnen. Diese Synchronisation wird es ermöglichen, die europäischen Grenzen offen zu halten.

Und viertens: Entwicklung einer langfristigen Strategie. Die Länder Europas müssen nationale und europäische Aktionspläne in Abhängigkeit von der Anzahl der Infektionsfälle entwickeln, mit besonderem Fokus auf eine Test-Trace-Isolate-Strategie, Präventionsvorkehrungen und Impfstrategien.

Diese Niedriginzidenz-Strategie zu erreichen verlangt den Menschen in Europa einiges ab. Aber es lohnt sich. Es ist viel einfacher, die Fallzahlen bei etwa 10 je 100.000 pro Woche zu stabilisieren als bei 35 oder 50.

Um die Ziele zu erreichen, brauchen wir eine Kommunikation, die die sozialen und wirtschaftlichen Vorteile für alle klar herausstellt. Jene, die an eine umfassende Verschwörung aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien glauben wollen, werden wir nicht überzeugen. Aber wir müssen unsere Erkenntnisse, unsere Argumente und unsere Schlussfolgerungen so nachvollziehbar erläutern, dass möglichst viele Menschen bereit sind, sich als Teil des Teams zu sehen und mitzuspielen.

Dazu gehört auch, dass die Einschränkungen unserer Rechte und Freiheiten klar mit einem Enddatum versehen sind. Wir alle sehnen den Schlusspfiff herbei. Mit hoffnungsvollem Blick in die Zukunft wird die Kontrolle von Sars-CoV-2 leichter: Testmethoden werden erweitert, die Kontaktnachverfolgung durch digitale Möglichkeiten wird effizienter gestaltet, die Impfung für eine zunehmende Immunisierung der Bevölkerung sorgen, und durch mehr Aufklärung, Information und Erklärung auch für Laien wird ein besseres Verständnis erreicht.

Was bedeutet dies nun für die bevorstehenden Feiertage? Bislang wird die Weihnachtszeit als pandemisches Horrorszenario beschrieben, gilt sie doch als großes Risiko. Eigentlich aber ist sie eine Chance, eine Möglichkeit, die Infektionszahlen auf ein niedriges Niveau zu bringen. Unternehmen haben Betriebsferien, Schulen und Kitas sind geschlossen, derzeit auch Restaurants, Freizeit- und Kultureinrichtungen.

Das Risiko heißt Nähe: Wir rücken in unseren vier Wänden zusammen, womöglich mit Menschen aus den unterschiedlichsten Teilen der Republik. Dabei müssen wir genau dort besonders wachsam sein – schon bevor wir uns treffen, vor allem aber beim gemeinsamen Zusammensein.

Wenn wir unsere Liebsten schützen, die Ausbreitung der Infektion verlangsamen und unser Gesundheitssystem entlasten, können wir die Weihnachtszeit und die mit ihr verbundene Entschleunigung nutzen. Wir können uns selbst bescheren: Dann nämlich, wenn es uns gelingt, die Fallzahlen jetzt zu senken, können wir leichter durch die bevorstehenden Wintermonate gehen, dann können wir Restaurants besuchen, Freunde treffen und unsere so vielfältigen Kulturangebote genießen. All das ist möglich, wenn die Infektionszahlen auf einem niedrigen und stabilen Niveau gehalten werden.

Wir wollen nichts beschönigen: Es wird auch dann anstrengend bleiben. Aber nur, wenn wir das Virus in seine Schranken weisen, können wir wieder ein weitgehend normales Leben führen.

Foto: Katrin Binner für DIE ZEIT Foto: Hartmut Müller-Stauffenberg/action press Foto: ullstein bild

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Mehr Wissen:

Der Stand in Sachen Corona-Bekämpfung ist hochdynamisch. Deshalb finden sich auf ZEIT ONLINE fortlaufend aktualisierte Informationen, Daten und Grafiken wie etwa eine Karte, die täglich alle neu hinzukommenden Standorte der Impfzentren aufführt

Links zu den Quellen unserer Corona-Berichterstattung in dieser Ausgabe finden Sie unter zeit.de/wq/2020-52

Sandra Ciesek (oben) ist Ärztin und Direktorin des Instituts für Medizinische Virologie am Uni-Klinikum Frankfurt; Viola Priesemann (rechts) ist Physikerin und leitet am Göttinger Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation eine Forschungsgruppe; Melanie Brinkmann (unten) ist Biologin, Professorin am Institut für Genetik der TU Braunschweig und leitet am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung eine Forschungsgruppe