Nach dem Schock

Der Streit um das Buch von Dirk Oschmann hat gezeigt, dass der Ost-West-Diskurs auf der großen Bühne gelandet ist. Aber auch, dass die Debatte nicht von der Stelle kommt. Woran liegt das?  Von Jana Hensel

Nein, vor ein paar Wochen wusste wirklich noch kaum jemand, wer Dirk Oschmann ist. Der Mann ist zwar seit dem Jahr 2011 Germanistikprofessor an der Leipziger Universität, aber wer nicht gerade seine Seminare besucht oder sich sonst irgendwie wissenschaftlich mit Goethe, Kleist oder Kafka beschäftigt, dürfte von dem 55-jährigen gebürtigen Gothaer noch nie etwas gehört haben.

Das ist nun anders. Ende Februar erschien nämlich Oschmanns Buch Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung. Darin behauptet er, den Osten gebe es im deutsch-deutschen Miteinander nur dergestalt als Fiktion und Schimäre, indem er die Sehnsucht des Westens nach einer negativen Folie oder einem Schwarz-Weiß-Kontrast bediene. Die Medien stürzten sich sofort auf diese, nun ja, reichlich grobe wie auch etwas fragwürdige These, auch die ZEIT berichtete mehrfach.

Oschmanns Buch jedenfalls stürmte die Bestsellerliste, in dieser Woche steht er nun unter den Sachbüchern sogar auf Platz eins. Das muss man mit einem Buch über den Osten erst einmal schaffen! Insofern: Chapeau.

Quasi über Nacht ist Oschmann also berühmt geworden, ist talk of the town – obwohl er sogar in der Einleitung seines Buches schreibt: »Im Grunde sage ich also nichts Neues.« Dass er sich selbst fast am meisten über seinen Erfolg wundert, ist Teil einer höchst eigenartigen Erfolgsgeschichte. Gegenüber der Berliner Zeitung erzählt er etwa: »Was mit mir passiert, beobachte ich ein bisschen neben mir stehend.«

Ein wenig überspitzt könnte man sagen: Es sind gerade die ziemlich offensichtlichen Widersprüche, die sein Buch zu einem solchen Erfolg machen. Oschmann hat sich selbst nie als Ostdeutschen betrachtet oder auch nur laut gesagt, einer zu sein – weil er glaubte, das hätte seiner Karriere geschadet. Er hat sich am öffentlichen Nachdenken über den Osten weder beteiligt noch bisher dafür sonderlich interessiert. Auch das gibt er mittlerweile fast auffallend freimütig zu.

Sein Buch weist zwar eine erfrischende, geradezu kindliche und auch bisweilen sarkastische Wut auf, es offenbart aber mindestens ebenso beträchtliche Wissenslücken: Ihm fehlt eine genauere Kenntnis über den Ost-Diskurs, das ist zumindest der Eindruck, den man während der Lektüre seines Buchs bekommt. Oschmann lässt einerseits weg, was nicht in seine Argumentation passt – unter anderem die Tatsache, dass viele Ostdeutsche es nicht als Makel empfinden, ostdeutsch zu sein. Und andererseits erhebt er zigfach geäußerte Forderungen wie die nach der Abschaffung des Ostbeauftragten ganz so, als wäre er der Erste. So waren sich die Rezensenten auch weitestgehend einig: Da stehen alte Thesen in einem neuen Buch.

Auf jeden Fall hat das Werk und sein Erfolg einen regelrechten Schock ausgelöst. Einen Schock, der jene erfasst, die sich mit dem Thema Ostdeutschland schon länger befassen. Also Journalisten, Wissenschaftler, Publizisten, Politiker und natürlich viele andere interessierte Zeitgenossen auch.

Und so sollte man einmal fragen: Was genau ist da passiert? Was sagt das eigentlich über den Ost-Diskurs aus? Zeigt sich, dass der in einer Sackgasse gelandet ist? Dass er sich verkapselt und verschlossen hat, allzu insiderisch geworden ist und nun einen Befreiungsschlag à la Oschmann irgendwie nötig hatte?

Oder aber zeigt dessen plötzlicher Erfolg so deutlich wie nie, dass das Nachdenken über den Osten eben nicht nur das Marginalisierte zum Gegenstand hat, sondern gleichsam selbst marginal, also randständig, bleiben muss? Unsortiert, richtungslos, ohne Ort und Zentrum, ohne Geschichte und Genese, sondern eigentlich stets eruptiv, emotional, zufällig und natürlich auch eine Spur idiosynkratisch?

Die Diskussion hat sich ebenso wenig verändert wie die Realität

Einen guten Eindruck dieses Oschmann-Schocks konnte man auf einer Tagung gewinnen, die vor gut zwei Wochen an der Magdeburger Universität stattfand. Eingeladen hatten die dortigen Linguisten (der Ausrichter war Kersten Roth, siehe Text auf der rechten Seite). Der Titel der Tagung lautete: »Ost-West-Konflikte. Interdisziplinäre Perspektiven auf den Diskurs über Deutschland und die Welt«.

Um Oschmanns Buch sollte es eigentlich gar nicht gehen, das Programm der Tagung war lange vor seinem Erscheinen entstanden, aber: Oschmann war dann doch dauernd Thema. Nicht nur auf den Fluren oder in den Kaffeepausen. Auch in manchen Vorträgen, denn zumindest die prominenteren Teilnehmer nahmen immer wieder auf ihn Bezug.

Zum Beispiel die schwedische Germanistin Charlotta Seiler Brylla, die wegen Oschmann spontan das Thema ihres Vortrages änderte und ihn seinem Buch widmete, einem »exemplarischen Schlüsseltext«, wie sie sagte. Brylla sprach von einem »Pamphlet« und setzte es in eine ziemlich imposante Traditionslinie. In seinem anklagenden Ton erinnere es nicht nur an Émile Zolas »J’accuse«, also den berühmten, auf dem Höhepunkt der Dreyfus-Affäre veröffentlichten Brief an den damaligen französischen Präsidenten, sondern sogar an Martin Luthers wohl historischsten Satz, mit dem er sich geweigert haben soll, seine 95 Thesen zu widerrufen: »Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.«

Für Thomas Ahbe wiederum, den Leipziger Sozialwissenschaftler und gewissermaßen Pionier des Ost-Diskurses, ist Oschmanns Buch ein Beleg dafür, dass das gesamtdeutsche Miteinander immer mehr einer »gescheiterten Ehe« ähnele. Nun sei eben eine Zeit der »raueren Töne« angebrochen, die Jahre eines beständig ruhigen und sachlichen Ost-Erklärens seien mithin vorbei. In seinem Vortrag stellte Ahbe überdies die Frage, »wie es dazu kommt, dass sich die Ost-West-Diskurse in den letzten 33 Jahren doch so wenig gewandelt haben«. Er attestierte ihnen Persistenz. Also Erstarrtsein, wenn man so will.

Und nicht zuletzt der ebenfalls vortragende Raj Kollmorgen zeigte sich verärgert. Der in Görlitz lehrende Soziologe warf Oschmann vor, das Buch sei »eine populistische Empörungsschrift vom Feinsten«.

Sinngemäß sagt Oschmann selbst immer wieder, er habe jahrelang Verdrängtes und Verschwiegenes wie in einem Rausch niedergeschrieben. Ein solcher Vorgang ist aber auch, zumal dann, wenn er von Erfolg gekrönt ist, ein etwas ärgerlicher Vorgang für all jene, die sich seit vielen Jahren wissenschaftlich mit Ostdeutschland auseinandersetzen.

Tatsächlich kann man mit einigem Recht sagen, dass sich die Themen des Ost-West-Diskurses in der Vergangenheit ebenso wenig verändert haben wie die ost- oder gesamtdeutsche Realität, die sie zu beschreiben versuchen.

Im Zentrum der Debatten stehen schon seit gefühlten Ewigkeiten die Fragen nach unterschiedlichen gesellschaftlichen Prägungen und historischen Erfahrungen genauso wie daraus resultierende abweichende Werteanschauungen. Zudem wird die ostdeutsche Gesellschaft immer noch als eine »andere«, als die abweichende Gesellschaft betrachtet. Sie wird durchaus durch die westdeutsche Mehrheitsperspektive konstruiert, sie konstruiert sich auf diese Weise aber auch selbst. In diesen Punkten ist wirklich kaum Bewegung zu konstatieren.

Ein paar Fortschritte gibt es dennoch: Nach dem großen Krisenjahr 2015 ist der Ost-Diskurs in Wissenschaft und Medien lauter, sichtbarer, vielstimmiger, in sich kontroverser, politischer und jünger geworden. Auch wird er nun eindeutiger und selbstbewusster als zuvor von Ostdeutschen dominiert, er ist also durchaus auch eigenbestimmt. Und er ist nicht zuletzt durch die Rede von Angela Merkel am 3. Oktober 2021 Mainstream geworden. Es gibt eigentlich – zumindest unter Ostdeutschen – keine diskursiven und intellektuellen Mauern mehr, gegen die er erfolglos anrennen muss.

Aber, und an diesem Punkt kommen wir auf Oschmann und den Schock, den er ausgelöst hat, zurück: Der in sich immer erfolgreicher werdende und sich auch entwickelnde Ost-Diskurs hat an der Realität außerhalb von ihm selbst überhaupt nichts ändern können. Nichts an den sozialen, politischen und ökonomischen Voraussetzungen, an den strukturellen Bedingungen einer weiterhin westdeutsch geprägten Öffentlichkeit und auch nichts an der hierarchisierenden Perspektive, die sich zwischen West und Ost einfach zu manifestieren scheint.

So naiv es sicherlich ist, darauf zu hoffen, dass ein Diskurs die Realität verändern könnte – so enttäuschend ist es dennoch, eine derartige Stagnation zu erleben.

Oschmann profitiert nun von seiner ostdeutschen Herkunft. Er sollte es genießen

Diesen Stillstand beklagt Oschmann so laut und wütend wie kaum jemand zuvor, gleichzeitig aber profitiert er so sehr davon wie lange niemand vor ihm. Denn dass er sein Klagelied gegen den Westen im Gestus des Laien vorbringen kann und ihm in genau diesem Westen dennoch eine große Bühne geboten wird, hat ja entscheidend mit der dort seit Jahrzehnten unveränderten hohen individuellen, gesellschaftlichen und auch institutionellen Ignoranz gegenüber allem Ostdeutschen zu tun. Anders gesagt: Nur weil viele Westdeutsche jahrzehntelang nicht richtig zugehört haben und vielleicht immer noch nicht zuhören wollen, erscheint ihnen Oschmanns Buch jetzt als erkenntnisreich.

Eine so unwahrscheinliche und durch Oschmanns plötzlichen Erfolg natürlich auch reichlich wundersame Geschichte kann sich offenbar nur in einem so marginalen, randständigen, unvermachteten und lobbylosen (daran ändert auch der Ostbeauftragte nichts) Raum wie dem des Ost-Diskurses zutragen.

Weil der Osten noch viel zu selten über eine eigene Öffentlichkeit verfügt, in der der ihn selbst betreffende Diskurs gelenkt, geleitet, organisiert oder verwaltet werden könnte.

Weil es im Osten zu wenige mächtige Institutionen und deshalb zu wenige Experten gibt, die ostdeutsches Wissen sammeln, sortieren, historisieren, kanonisieren und dadurch im Zweifelsfall auch verteidigen könnten.

Weil das Nachdenken über den Osten größtenteils immer wieder nur dort stattfindet, wo dieses Geschäft wie nebenbei, wie ein Hobby oder wie eine schnelle Geschäftsidee betrieben wird.

Und nicht zuletzt, weil es tatsächlich noch immer zu wenige Westdeutsche gibt, die sich für den Diskurs nicht nur interessieren, sondern sich auch (selbstkritisch) daran beteiligen.

Dirk Oschmann kann für all das nichts. Es kann sogar sein, dass sein Erfolg tatsächlich weit weniger geplant war, als es vielleicht erscheinen mag. Die Schelte jedenfalls, mit der er nun von manchem Kritiker zurechtgewiesen wird, trifft ihn weitestgehend zu Unrecht. Für einen kurzen Moment seines Lebens kann Oschmann nun wirklich davon profitieren, ein Ostdeutscher zu sein. Er sollte es genießen.

Denn danach wird er wahrscheinlich von demselben Vergessen fortgeweht werden, mit dem er ungesühnt jene strafen konnte, die vor ihm über den Osten gestritten, geweint, gekämpft und geflucht haben.

Illustration: Beck für DIE ZEIT