Ein Umbau der weltbesten Demokratie
Andreas Spillmann lacht, als man ihn danach fragt, wie die Politikerinnen und Politiker auf seine Idee reagiert hätten. »Auf die schweizerische Art«, sagt er. Das heißt? »Mit der Bemerkung: ›Damit habt ihr sowieso keine Chance‹.« Spillmann, promovierter Volkswirt, war bis vor einigen Jahren Direktor des Schweizerischen Nationalmuseums. Heute arbeitet der 64-Jährige als selbstständiger Kulturmanager. Zusammen mit einem ehemaligen SP-Regierungsrat, einer renommierten Klimaforscherin der ETH Zürich und einer liberalen Politikaktivistin fordert er: Die Schweiz braucht eine dritte Parlamentskammer. Neben dem National- und dem Ständerat, der großen und der kleinen Kammer, soll künftig ein ausgeloster Zukunftsrat mit 100 Personen über die Geschicke des Landes entscheiden. »Wir brauchen ein Korrektiv wider die Zukunftsvergessenheit und Gegenwartsbesessenheit der immer stärker polarisierten Parteienlandschaft«, sagt Spillmann. »Weniger Dauer-Kampagnenmodus, mehr gesunder Menschenverstand.«
An diesem Sonntag wählt die Schweiz ein neues Parlament. Seit Wochen lächeln die Kandidatinnen und Kandidaten von Plakaten, Inseraten und Flyern. Und sie tun (fast) alles, um im Gespräch zu bleiben oder ins Gespräch zu kommen: Sie kochen vor laufender Fernsehkamera, bezirzen die Trash-TV-Bachelorette mit ihren politischen Stanzen, machen sich in Musikclips zu Disco-Clowns und hauen ein Instagram-Reel ums andere raus. »Ein Politiker ist vor den Wahlen in einem existenziellen Stress«, sagt Spillmann. Er wolle wiedergewählt werden. Nicht nur aus Überzeugung oder aus Eitelkeit, sondern auch, weil in der Schweiz das Amt für viele National- und Ständeräte längst keine nebenberufliche Tätigkeit mehr ist, sondern ihr Job. Hier setzt die Idee der dritten Parlamentskammer an. Sie soll die politischen Debatten entstressen – und gleichzeitig einen Demokratie-Turbo zünden.
In einem kürzlichen erschienenen Buch haben Spillmann und seine Mitstreiter das Ganze durchargumentiert. Mit einem Zukunftsrat gegen die Klimakrise liest sich wie eine Generalabrechnung mit dem politischen System der Schweiz. Ein System, das von den Schweizerinnen und Schweizern gern als beste Demokratie der Welt gesehen wird, das aber, wenn es nach den Autorinnen und Autoren geht, völlig dysfunktional ist – wenn nicht schon heute, dann spätestens übermorgen. »Gesundheitspolitik, Altersvorsorge, Europapolitik: Ich habe null Überzeugung, dass das neue Parlament die Probleme wirklich angehen wird«, sagt Spillmann.
Mit dieser Meinung ist er nicht allein. Der Demokratiemonitor der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft zeigte kürzlich: 46 Prozent der befragten Schweizerinnen und Schweizer sehen die Politik nicht in der Lage, auf künftige Herausforderungen richtig zu reagieren. Zwei Drittel orten die Ursache dafür im politischen System.
Auch für Spillmann, den spätberufenen Systemsprenger, der von sich und seinen Kompagnons sagt, sie seien eigentlich »Brävlinge«, sind die politischen Parteien das größte Problem: »Sie setzen die Themen immer seltener wegen ihrer Relevanz oder Dringlichkeit auf die Agenda, sondern lediglich im Hinblick auf ihr parteipolitisches Bewirtschaftungspotenzial.« Was empört, das zieht.
Gleichzeitig entscheiden die Parteien darüber, wer überhaupt eine politische Karriere einschlagen kann. Auch wenn auf kommunaler Ebene die Parteilosen die statistisch gesehen stärkste Macht sind: Wer nach Bern ins nationale Parlament will, braucht einen Apparat, der ihn unterstützt. Ideell und finanziell. Für die Parteien am erfolgversprechendsten sind dabei die jovialen, die vernetzten und die redegewandten Mitglieder. Telegen zu sein ist auch nie falsch. Sie werden von den Parteien gefördert und auf die vorderen Plätze auf den Wahllisten gehievt. »Das führt dazu, dass zahlreiche Bevölkerungsgruppen im Parlament unzureichend repräsentiert sind«, sagt Spillmann. Deshalb sitzen heute, so zeigt es die Statistik, im National- und Ständerat zu wenige Junge, zu wenige Frauen, zu wenige Berufslehrabgänger, zu wenige Menschen mit Migrationshintergrund. Dafür viel zu viele Akademiker und zu viele Städter.
In der dritten Kammer sollen diese Zukurzgekommenen zu Wort kommen. In einem zweistufigen Losverfahren werden die 100 Sitze verteilt. Alle zwei Jahre wird ein Drittel der Mitglieder ersetzt. Es gilt eine maximale Amtszeit von sechs Jahren. Das soll genügen, um sich in die Themen einzuarbeiten und gleichzeitig Sesselkleber zu verhindern. Bei Fragen zu den diskutierten Geschäften können die Ratsmitglieder auf Expertinnen und Experten zurückgreifen. Wie die Zukunftsräte würden auch die Wissenschaftsweisen so ausgewählt, dass möglichst viele unterschiedliche Perspektiven in die Debatte einfließen.
Diskutiert werden soll im neuen Zukunftsrat »auf Augenhöhe und in Ruhe«. Deliberieren heißt das in der Theorie. Was nach politikwissenschaftlichem Proseminar-Kitsch klingt, hat zum Beispiel in Irland schon mehrmals recht gut funktioniert. Die Bürgerversammlung hat dort erreicht, dass das Verbot gleichgeschlechtlicher Ehen aufgehoben wurde. In Ostbelgien gehört die Bürgerversammlung seit 2019 fix zur Regionalpolitik.
In der Schweiz soll der neue Zukunftsrat über »die Nachhaltigkeit der Geschäfte der Bundesversammlung« wachen und dabei »besonders die Interessen künftiger Generationen« berücksichtigen. Er kann dafür eigene Initiativen ausarbeiten und dem Volk und den Kantonen zur Abstimmung vorlegen oder das Veto gegen Beschlüsse der Bundesversammlung einlegen; wobei National- und Ständerat dieses wieder überstimmen können. Es bräuchte künftig also nicht mehr 100.000 Unterschriften und ein Kampagnenbudget von mehreren Hunderttausend Franken, um ein Anliegen vors Volk zu bringen. Sondern lediglich einen Input, eine Debatte und einen Beschluss im neuen Rat – sowie einen neuen Vollbrems-Mechanismus, der die Umsetzung von allzu kurzfristig gedachten Parlamentsentscheiden zumindest verzögern könnte. »Das bringt Politiker dazu, anders zu politisieren«, sagt Spillmann. Sie müssen stets das Veto der dritten Kammer, ihres Wächterrats, im Hinterkopf behalten. »Und weil sie nicht zulassen werden, dass allein der Zukunftsrat mehrheitsfähige Lösungen möglich macht, werden sie ihre Blockadestrategie überdenken.«
Wer aber soll die Idee nun umsetzen? »Wir können das nicht«, sagt Spillmann. Dazu brauche es Typen wie Daniel Graf. Der Angesprochene kramt, als man ihn zum Gespräch trifft, in seinem Rucksack. Er holt ein rotes Büchlein hervor. Jedem, den er momentan trifft, um über sein neues Projekt zu sprechen, drückt er ein Exemplar der Schweizerischen Bundesverfassung in die Hand. »Auf diesen dünnen Seiten beruht unser ganzer Staat«, sagt Graf. Der 50-Jährige ist der vermutlich erfolgreichste Campaigner der Schweiz. Er hat zahlreiche Initiativen und Referenden aufgegleist und einige Abstimmungen gewonnen. Ohne ihn hätte die Schweiz heute eine von privaten Firmen verwaltete E-ID, aber keinen Vaterschaftsurlaub und kein Klimagesetz. Als Nächstes wollte Graf eigentlich einen Demokratie-Artikel in die Verfassung schreiben lassen. Dieser sollte die Regierung und das Parlament dazu verpflichten, die Demokratie zu pflegen und weiterzuentwickeln. »Das hätte Geld für Studien und Projekte lockergemacht, aber irgendwie sprang der Funke nicht über«, sagt Graf. Da stieß er in der Bundesverfassung auf Artikel 138. Dort steht: »100.000 Stimmberechtigte können innert 18 Monaten seit der amtlichen Veröffentlichung ihrer Initiative eine Totalrevision der Bundesverfassung vorschlagen.« Und: Dieses Begehren sei dem Volk zur Abstimmung zu unterbreiten. »Da wusste ich: Das ist es!«, sagt Graf. Er tat sich mit Michel Huissoud zusammen, dem ehemaligen Direktor der Eidgenössischen Finanzkontrolle. Mitte September trafen sie sich erstmals mit Gleichgesinnten. »Die meisten, die bei uns mitmachen, habe ich nicht gekannt«, sagt Graf. Vom Landwirt bis zum Kryptobanker: Alle seien sie dabei. Aber kaum ein Politiker. »Die reagieren mit einem lauten Schweigen auf unsere Idee.« Um konkrete Inhalte geht es bei Grafs Volksinitiative nicht. Sie stößt nur den Prozess an, das Grundgesetz völlig neu zu schreiben. Was dabei herauskommt, und vor allem, ob die totalrevidierte Verfassung schließlich in Kraft tritt, ist völlig offen. Der erarbeitete Entwurf müsste nochmals vor Parlament und Volk und den Kantonen bestehen.
Wozu also das Ganze? Aus purer Lust an der Veränderung? Nein, sagt Graf: «Wir wollen einen Impuls geben.« Auch ihn plagt das Gefühl, die Schweizer Demokratie sei nicht fit genug, um die aktuellen Probleme zu lösen. Geschweige denn jene, die auf sie zukommen: Klimawandel, Digitalisierung, eine Gesellschaft, die immer älter wird. Und weil der Fehler, so sieht das Graf, im System liege, müsse man das System ändern. Nicht mit einem Umsturz, sondern mit einem Update. »Wir haben ein robustes System«, sagt Graf, »aber die Resultate stimmen nicht mehr.« Sein Lieblingsbeispiel, um zu zeigen, wie sehr die Bundesverfassung aus der Zeit gefallen ist, obschon sie 1999 letztmals grundüberholt wurde: »Die Worte ›Internet‹ oder ›Klima‹ kommen darin kein einziges Mal vor.«
Aber was, wenn jene, die an der neuen Verfassung mitschreiben, das Projekt kapern? Wenn aus einem zukunftstauglichen ein rückwärtsgewandter Verfassungsentwurf wird? Dies geschah 1935, als die schweizerische Frontenbewegung, die offen mit den Nazis sympathisierte, die Bundesverfassung neu schreiben und die Schweiz zu einem zentralisierten Führerstaat umbauen wollte. Davor habe er keine Angst, sagt Graf: »Eine reaktionäre Verfassung würde keine Volksabstimmung überstehen.«
So ist das Schlimmste, was dem Update und dem Zukunftsrat passieren kann, woran auch die Fröntler-Initiative damals scheiterte: die schweizerische Urangst vor der großen Veränderung, das Festhalten am Status quo. Oder wie der Tages-Anzeiger 1935 schrieb: Es herrschte in der Öffentlichkeit »beinahe überall [...] Gleichgültigkeit und absolute Uninteressiertheit«.