»Der Tod hat jedes Haus erreicht«

Israel hat die Hamas-Spitze ausgeschaltet. Glauben die Bewohner von Gaza, dass es nun ein Ende der Gewalt geben kann?  VON LEA FREHSE

»Der Tod hat jedes Haus erreicht«

Israel hat die Hamas-Spitze ausgeschaltet. Glauben die Bewohner von Gaza, dass es nun ein Ende der Gewalt geben kann?  VON LEA FREHSE

Er bleibt. Das Nachbarhaus ist getroffen worden, und da haben sie gesessen in den Scherben und dem Staub, die in ihre Wohnung geschleudert wurden, aber Sami Mohamad sagt, er gehe hier nicht mehr weg. Da könne ihm die israelische Armee so viele neue Evakuierungen anordnen, wie sie wolle, er sei in diesem Jahr Krieg achtmal geflohen, bevor er vor Kurzem in seine Wohnung in Zentralgaza zurückkehrte. »Du fühlst dich nicht als Mensch, wenn du hierher und dorthin getrieben wirst.«

Ausländische Reporter lässt die israelische Armee nicht unabhängig aus Gaza berichten, doch Journalisten aus Gaza arbeiten weiter, in großer Gefahr. Unter ihnen ist Mohamad, 59 Jahre alt, mit dem die ZEIT bei Besuchen in Gaza vor dem Krieg zusammenarbeitete, der Kontakte vermittelte und übersetzte. Wir telefonieren, einige Tage nachdem Hamas-Chef Jahia Sinwar, der Drahtzieher des Massakers in Israel am 7. Oktober 2023, von der israelischen Armee getötet wurde. Welche Reaktionen darauf nimmt er in Gaza wahr?

Er schickt ein Foto, es zeigt den jungen Sinwar im Kreis von Kameraden, alle mit Zuversicht im Blick. Solche Bilder machten jetzt die Runde, die zeigten eine gewisse Wehmut. Sinwar gilt als Held des Widerstands. Doch größer sei der Zorn.

So viel Leid hat Sinwar, hat die Hamas auch über Gaza gebracht. Tod, Zerstörung, Hungersnot. Größer als der Zorn auf die Hamas sei nur jener auf Israel. Man könne sich hier, so Mohamad, nicht mehr vorstellen, wie man noch »mit denen« auf einem Grund zusammenleben sollte, die so »kaltherzig« vorgingen. Die man in Gaza, so beschreibt er es, erlebe, als bekämpften sie nicht Feinde, sondern niedere Wesen. Es habe in Gaza immer Haushalte gegeben, die sich von der Politik fernhielten, die sich mit Israel als Nachbar – nicht als Besatzungsmacht – arrangiert hätten. »Aber der Tod hat jedes Haus erreicht.«

Die Tötung Sinwars ist eine Woche her. Im Westen, auch bei der deutschen Bundesregierung, ist die Erwartung aufgekeimt, dass damit endlich eine Waffenruhe möglich werde – und damit auch die Freilassung der verbleibenden israelischen Geiseln. Das sind die Nachrichten seit Sinwars Tod:

Bei einem israelischen Luftangriff auf Beit Lahia, Nord-Gaza, sterben 87 Menschen.

Im Flüchtlingslager Dschabalia sind mehrere Zehntausend Menschen eingeschlossen unter schwerem Beschuss, die UN warnen vor der »Vernichtung der Bevölkerung in Nord-Gaza«.

Im Libanon treffen neue israelische Luftschläge Beirut. Die Hisbollah-Miliz greift das Wohnhaus von Israels Premierminister Benjamin Netanjahu mit einer Drohne an und trifft. Das Haus, nicht den Premier. Und der Nahe Osten erwartet weiter Israels Gegenschlag auf Irans Angriff von Anfang Oktober – und damit den möglicherweise noch größeren Krieg. Vor Ort ist Waffenruhe nicht in Sicht. Und in Israel wird sie auch nicht erwartet.

Die Regierung Netanjahu hat längst klargemacht, dass sie mehr will als Sinwars Tod, als die Zerstörung der Hamas und auch derer Verbündeten im Libanon, der Hisbollah. Sie spricht davon, die ganze Achse von Irans Alliierten auszuschalten, und womöglich das iranische Regime gleich mit. Von einer Neuordnung in Nahost ist die Rede und von einem Krieg auf Dauer. Den Tod Sinwars kommentierte Netanjahu mit den Worten, der Krieg in Gaza sei »nicht zu Ende«, und Israels Soldaten würden »auf Jahre« dort operieren. Wovon auch seine Gegner ausgehen: Die Hisbollah hat ihre Angriffe hochgefahren, die Hamas lässt verlauten, sie kämpfe »bis zum letzten Mann«. Was will, was kann Israel in Gaza erreichen?

Israel hat seinen Nimbus der Unbezwingbarkeit wiederhergestellt

Sami Mohamad möchte in diesem Text nicht mit seinem richtigen Namen auftauchen, dieser ist ein Pseudonym. Das internationale Schutzkomitee für Journalisten CPJ gibt die Zahl der getöteten palästinensischen Reporter in Gaza inzwischen mit 123 an, es steht der Verdacht im Raum, manche habe die israelische Armee gezielt getroffen. Mohamad hat Angst. Verrückt eigentlich, denn für die Hamas hegt er keine Sympathie, er steht der säkularen Fatah nahe, deren Feind. Mohamad hat immer mit Überzeugung von einer Zweistaatenlösung gesprochen. Er sei auch jetzt davon überzeugt, sagt er, »aber auf der Straße kann ich das nicht mehr sagen. Die Leute sind richtig radikalisiert.« Sie sagten, die Juden müssten weichen, dorthin, woher sie stammten. Netanjahu zum Beispiel nach Polen, wo sein Vater geboren wurde. Mohamad liest täglich auch israelische Medien, und er lese dort praktisch dasselbe, nur andersherum: dass kein Platz sei für zwei Völker und schon gar nicht zwei Staaten. Dass Palästinenser nur bleiben könnten als Arbeitskräfte für die Juden.

Jahia Sinwar hat die Toten und die Zerstörung in Gaza mit seinem Überfall auf Israel willentlich in Kauf genommen. Im Hamas-Narrativ standen die Palästinenser nach Jahrzehnten der Entrechtung mit dem Rücken zur Wand, und seine Tat war ein Befreiungsschlag. Nur ist nach dieser Tat von den vielen konkurrierenden Widerstandserzählungen, Stützen der palästinensischen Identität, eigentlich nur noch die von der Apokalypse übrig, vom ewigen Krieg oder der endgültigen Vertreibung.

Israel hat ein Jahr nach dem Massaker mit mehr als 1.200 Toten endgültig wiederhergestellt, was am 7. Oktober für einen Moment zerbrochen schien: den Nimbus seiner Unbezwingbarkeit. Die Macht der Abschreckung, und damit einen Kern seines nationalen Selbstverständnisses. Die Idee dahinter ist keine der radikal Rechten, sie ist Konsens über das politische Spektrum Israels hinweg, und sie besagt, dass der jüdische Staat nur so lange überlebt, wie seine Feinde keinerlei Möglichkeit sehen, ihn zu besiegen. So formulierte es 1923 Zeev Jabotinsky, ein Vordenker des Zionismus, in einem Aufsatz mit dem Titel »Die eiserne Mauer«. In Israels Sicherheitsestablishment gilt sie als Doktrin. Es ist auch eine Idee, mit der Benjamin Netanjahu aufgewachsen ist. Sein Vater Benzion Netanjahu war Jabotinskys Sekretär.

Ein Jahr nach Kriegsbeginn sind in Gaza mehr Gebäude zerstört, als noch stehen, 90 Prozent aller Einwohner sind auf der Flucht. 42.000 Menschen sind tot, davon nach Angaben der Hamas-Gesundheitsbehörde zwei Drittel Frauen und Kinder. Aktuell konzentriert sich das militärische Geschehen in Nord-Gaza. Rund um Beit Lahia und Dschabalia rücken die Panzer vor, flankiert von der Luftwaffe, täglich liefern sich israelische Soldaten und Hamas-Trupps Gefechte.

Die Islamisten haben sich in Wohnblocks und Gassen verschanzt, und je aussichtsloser, desto verbiesterter scheinen sie zu kämpfen. Die Gegend ist auch voller Zivilisten, von denen viele aus anderen Teilen Gazas hierher geflohen sind. Viele sagen, sie blieben, weil sie keinen sichereren Ort mehr sähen. Sie haben die Bilder von der brennenden Zeltklinik im südlichen Gaza gesehen, mittendrin ein Mann in Flammen. Sein Name ist inzwischen bekannt, Schaaban al-Dalu, 19 Jahre alt.

Wenn UN-Organisationen und westliche Diplomaten mittlerweile warnen, Israels Militär könnte in Nord-Gaza zivile Opfer nicht nur in Kauf nehmen, sondern beabsichtigen, dann auch, weil einflussreiche israelische Militärs zurzeit öffentlich von einem Plan sprechen, den Norden Gazas zu »leeren« und dauerhaft Israel zuzuschlagen. Die US-Regierung unter Joe Biden hat der israelischen ein Ultimatum gestellt: Israel müsse mindestens mehr Hilfe an die Zivilisten im Norden zulassen, sonst schränke man Waffenlieferungen an Israel ein. Bisher hat sie keine solcher Ankündigungen wahr gemacht. Dass Israels Regierungschef Ansagen seiner wichtigsten Verbündeten ignorieren kann, gehört zur neuen Ordnung in der Region.

Israel mag heute international isolierter dastehen. Aus israelischer Regierungssicht ist das nicht von Dauer. Denn die Zukunft gestaltet der Stärkere, also Israel.

Würde der Krieg morgen aufhören, könnte Gaza in 20 Jahren wieder bewohnbar sein

Am Tag, als Jahia Sinwar getötet wurde, wurde auch ein Plan bekannt, den israelische Diplomaten gemeinsam mit Kollegen aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) in Washington vorgestellt haben. Er entwirft die Zukunft Gazas. Er sieht eine Militärverwaltung vor mit einem von Israel und den VAE gestützten Statthalter – Letztere sichern sich so Einfluss in der Region. In diesem Plan wäre Gaza deutlich geschrumpft, weil Israel sich Pufferzonen vorbehält, die Hamas spielte keine Rolle, und politisch würde Gaza endgültig getrennt vom Rest der besetzten palästinensischen Gebiete und deren Regierung im Westjordanland.

Dieser Plan ist unrealistisch. Denn bislang bestehen beinahe alle anderen Staaten darauf, die Zukunft Gazas mit der Aussicht auf einen palästinensischen Staat zu verknüpfen. Aber er zeigt die Richtung, die Israel vorgibt. Im Nahen Osten, ob neu geordnet oder nicht, würden die Palästinenser keinen eigenen Staat bekommen, das hat Netanjahu versprochen.

Diese Vision vom Sieg, in der Gaza nur ein Teilstück darstellt, bedeutet keinen Frieden. Er zöge, schrieb der libanesische Wissenschaftler und UN-Diplomat Ghassan Salamé kürzlich in einem klugen Essay in der Financial Times, immer neue Kriege nach sich, mit wieder erstarkten Milizen, dem Iran oder auch arabischen Staaten. Einen Sieg von Dauer, eine wirkliche Neuordnung, erreiche man nicht mit der Unterwerfung des Gegners, sondern mit Akzeptanz, und solange die Palästina-Frage ungelöst bleibe, sei Ruhe für Israel unmöglich. Auf Ruhe aber zielt die Projektion von Unbesiegbarkeit, die Idee von der eisernen Mauer, die Logik der Abschreckung nicht ab.

Natürlich hat auch Sami Mohamad Tote zu beklagen, seine Tante Mariam liegt nach Wochen immer noch unter den Trümmern ihres Hauses begraben, genauso wie ihre zwei Enkel. Es fehlt an Gerät, die Körper zu bergen. Natürlich höre er die Explosionen, ständig, und die Drohnen, ununterbrochen, und natürlich habe er Angst. Aber er muss ja auch morgens noch irgendwie aufstehen und seine Frau und seine Kinder auch. Deshalb, sagt er, erzähle er jetzt morgens Geschichten, so ganz realistische, über Ehestreit und Eifersucht und mit vielen pikanten Details. »Für die Dauer einer Geschichte sind wir in einer ganz normalen Welt.«

Bei einem der letzten Besuche der ZEIT fuhren wir mit Mohamad ans Ende von Gaza-Stadt, der Grenzzaun zu Israel ist dort zu sehen. Dicker Staub hing in der Luft, und wo er sich lüftete, wurde der Blick frei auf Männer mit großen Vorschlaghämmern. Sie zerschlugen große Steinbrocken zu kleinen, Maschinen machten daraus feinen Kies. Es waren Trümmer vergangener Kriege, die sie hier bearbeiteten, um sie zu neuen Ziegeln zu pressen, für den Wiederaufbau. Der Vorarbeiter sagte, er arbeite seit seinem 15. Lebensjahr dort, seit mittlerweile 14 Jahren. An die Zahl der Kriege seither erinnerte er sich nicht, aber an die Gebäude, die er unter dem Hammer hatte: bestimmte Wohnblocks, dieselbe Moschee zweimal, auch sein eigenes Haus.

Der Vorarbeiter war etwa so alt wie Sami Mohamads Sohn. Das Gespräch bewegte ihn sehr. Auf der Rückfahrt sprach er davon, wie sich das Verhältnis der Generationen in Gaza verdreht habe, wie die Väter noch hatten reisen können, Söhne und Töchter aber nicht weiter als bis zu diesem Zaun. Mohamad beschrieb, wie er Gaza habe immer schwächer werden sehen, so wie die Häuser: die neu gepressten Ziegel sind brüchig. »In Gaza recyceln wir nicht nur Steine, sondern auch Menschen«, hatte der Vorarbeiter gesagt. »Nach jedem Krieg machen wir neue Kinder.«

Ginge der Krieg morgen vorbei und der Wiederaufbau etwa so schnell voran wie nach vorherigen Kriegen, könnte Gaza in 20 Jahren wieder bewohnbar sein, schätzen die UN.

ZEIT-Grafik

Foto: Mahmoud Issa für DIE ZEIT