Diese 182 Menschen starben seit der deutschen Einheit durch rechtsextreme Gewalt. Ein ZEIT-Dossier über die Frage, warum der rechte Terror nicht aufhört
Diese 182 Menschen starben seit der deutschen Einheit durch rechtsextreme Gewalt. Ein ZEIT-Dossier über die Frage, warum der rechte Terror nicht aufhört
Fünf Tage nach den Morden steht Ferhat Unvars Mutter auf dem Hauptfriedhof von Hanau. Es ist ein kühler Nachmittag im Nieselregen. Hunderte Menschen drängen sich zwischen den Mauern. Die Mutter umfasst ein Mikrofon. Sie trägt einen schwarzen Schleier. Vor ihr steht der Sarg ihres Sohnes.
Ihr Sohn, sagt sie auf Kurdisch, sei in Hanau geboren worden, er sei hier aufgewachsen und zur Schule gegangen. Er habe sich in Hanau zu Hause gefühlt. »Aber sein Zuhause wurde ihm durch eine feige rechtsradikale Tat genommen.« Ihre Stimme ist leise, aber klar.
Sie sagt: »Ich habe Angst.« Es müsse endlich etwas getan werden gegen den Rassismus in Deutschland.
Sie sagt: »Ich möchte nicht, dass andere Mütter das erleiden, was ich gerade durchmachen muss.«
Ferhat Unvar ist das zweite Opfer des Anschlags, das am Montag dieser Woche zu Grabe getragen wird. Wenige Stunden zuvor haben sie im elf Kilometer entfernten Offenbach die zweifache Mutter Mercedes Kierpacz beerdigt. Ferhat, 23, und Mercedes, 35, kannten sich, sie gehörten zum selben Freundeskreis. Sie starben kurz hintereinander in der Arena Bar.
Claus Kaminsky, der Oberbürgermeister von Hanau, war schon bei der Beerdigung von Mercedes Kierpacz dabei, nun steht er hier, auf dem Friedhof seiner Stadt. Auch er spricht über Ferhat, er erzählt, dass der erst letzte Woche seine Ausbildung zum Anlagenmechaniker erfolgreich beendet hatte. Dass er gern Techno und Hip-Hop hörte. Dass er unter den jungen Leuten der Stadt »bekannt war wie ein bunter Hund«. Kaminsky sagt: »Ferhat war wahrlich ein Hanauer Bub.«
Nach etwa einer Stunde stellen sich Familienmitglieder um Ferhats Sarg, sie heben ihn hoch und tragen ihn zum muslimischen Teil des Friedhofs. Auf einem grünen Stück Wiese halten sie an. Der Sarg wird in den Boden hinabgelassen. Angehörige und Freunde schaufeln Erde auf den Sarg. Und dann, schon nach kurzer Zeit, bedeckt ein Meer aus Blumen das Grab von Ferhat Unvar.
Man hätte diesen Artikel auch anders beginnen können. Statt von Ferhat Unvar und Mercedes Kierpacz hätte man von Gökhan Gültekin schreiben können, der 37 Jahre alt war, als er starb, oder von Sedat Gürbüz, der 30 Jahre alt wurde, oder von einem weiteren dieser neun Menschen, die eines gemeinsam haben: dass sie am späten Abend des 19. Februar 2020 in Hanau einem rechtsextremen Mörder zum Opfer fielen.
So wie Jana L. und Kevin S. vier Monate zuvor, am 9. Oktober 2019 in Halle.
So wie der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke acht Monate zuvor, am 2. Juni 2019, in Wolfhagen.
Nach dem Mord an Lübcke sprach Bundesinnenminister Horst Seehofer von einem Alarmsignal. Nach dem Anschlag auf die Synagoge in Halle benutzte die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer dasselbe Wort.
Ein Alarm ertönt, wenn ein Feuer ausbricht. Und tatsächlich könnte man denken, es habe in diesen vergangenen Monaten in der Bundesrepublik zu brennen begonnen, der Rechtsextremismus sei in seiner mörderischen Form nach Deutschland zurückgekehrt. Aber dieser Eindruck ist falsch.
In Wahrheit war er nie weg.
Die Opfer von Hanau, Halle und Wolfhagen sind Teil einer bedrückenden Statistik, in der sie die Nummern 171 bis 182 tragen. 182 – so viele Menschen haben in der Bundesrepublik Deutschland seit 1990 durch rechtsextreme Gewalt ihr Leben verloren. Das haben Recherchen von ZEIT ONLINE und dem Berliner Tagesspiegel ergeben.
Zum Vergleich: Linksextremistischen Gewalttaten sind in den vergangenen drei Jahrzehnten drei Menschen zum Opfer gefallen. Bei Anschlägen von islamistischen Terroristen wurden 14 Menschen getötet.
Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland ist zweifellos die Geschichte einer funktionierenden Demokratie. Dieser Artikel aber wird argumentieren, dass es 75 Jahre nach Kriegsende höchste Zeit ist, sich einzugestehen, dass die Geschichte der Bundesrepublik auch eine Geschichte der rechten Gewalt ist.
Am 13. Februar, eine Woche vor den Schüssen von Hanau, kommen in Potsdam 140 meist jüngere Historiker und Sozialwissenschaftler im Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung zusammen. Sie hatten für ihre Tagung mit weniger Teilnehmern gerechnet, aber der Andrang ist so groß, dass sie in die Bibliothek ausgewichen sind. Sie haben ein kleines Podium aufgebaut und bei einem Veranstaltungszentrum in der Nähe Stühle ausgeliehen, die nun in engen Reihen zwischen Stahlträgern stehen.
Das Thema des zweitägigen Treffens: »Kontinuitäten rechter Gewalt«. Die Tagungsteilnehmer sind sich einig: Da gibt es viel Verdrängtes und Vergessenes ans Licht zu holen. »Wenn man anfängt zu graben, läuft es einem kalt den Rücken runter«, sagt Dominik Rigoll, einer der Organisatoren. »Rechte und rassistische Gewalt scheint ein integraler Bestandteil der politischen Kultur in der Bundesrepublik zu sein.«
Es wollte nur lange kaum jemand wissen.
Liest man in dicken, von namhaften Historikern der älteren Generation verfassten Büchern über die Bundesrepublik Deutschland, lernt man ein Land kennen, das seit 1949 liberaler, friedfertiger und vielfältiger geworden ist. Man kann sich in solchen Büchern umfangreich über Terrorismus informieren, aber es geht dann immer um Terrorismus von links, es geht um die Stadtguerilla und den Deutschen Herbst, um Mogadischu und die Schleyer-Entführung, es geht um den letztlich erfolgreichen Kampf gegen die RAF. Über den Terror von rechts steht da so gut wie nichts. Offenbar passt es nicht zur großen deutschen Wie-wir-wurden-was-wir-sind-Erzählung, dass in diesem Land seit Jahrzehnten rechtsextreme Attentäter morden, bomben, einschüchtern.
April 1968: In der Bundesrepublik regiert eine große Koalition aus Union und SPD, das Land ist gespalten, die radikalen Ränder werden stark, und es wird unversöhnlich gestritten. Linke Studenten revoltieren gegen das Schweigen ihrer Eltern über die Nazi-Zeit. Eine rechtsextreme Partei, die NPD, ist in mehrere Landesparlamente eingezogen, ihre Anhänger sehen die Bundesrepublik auf dem Weg in den Sozialismus, auch wegen der Politik der Aussöhnung mit dem Ostblock.
In Berlin fährt am 11. April 1968 der Anführer der Studenten auf dem Fahrrad durch die Stadt. Ein vorbestrafter Hilfsarbeiter spricht ihn an: »Sind Sie Rudi Dutschke?« Als Dutschke Ja sagt, zieht der Mann eine Pistole, brüllt: »Du dreckiges Kommunistenschwein!«, und schießt ihm in den Kopf. Rudi Dutschke wird Jahre später an den Folgen dieses ersten rechtsterroristischen Attentats der Bundesrepublik sterben.
Zwei Jahre später, Mai 1970: Die NPD hat knapp den Einzug in den Bundestag verpasst. Die Partei verfügt über einen »Ordnungsdienst«, der im Wahlkampf mit Saalschlachten und Prügeleien Gegner einschüchterte. Einige seiner Mitglieder in Nordrhein-Westfalen sind es nun leid, den parlamentarischen Erfolg zu suchen. Sie haben die erste rechte Terrorgruppe gegründet.
Die »Europäische Befreiungsfront« verfügt über Sprengstoff und Gewehre und einen »Militärischen Aufbauplan«, sie will überall im Land terroristische Zellen gründen. Als Erstes plant sie einen Anschlag auf das Gipfeltreffen von Bundeskanzler Willy Brandt mit Willi Stoph, dem Ministerpräsidenten der DDR. Ob als Einzeltäter oder in der Gruppe, die Rechtsterroristen der ersten Generation richten ihre Gewalt gegen Persönlichkeiten der Linken. Sie sehen sich als Antikommunisten, die sich gegen den politischen Feind zur Wehr setzen.
Einen Tag vor dem Gipfeltreffen nehmen Polizisten die 14 wichtigsten Mitglieder der Gruppe fest, der Anschlag wird vereitelt. Danach scheint es wieder ruhig zu werden um den Rechtsterrorismus.
Tatsächlich, so wird sich zeigen, gehört es zu den Wesenszügen rechten Terrors, vorübergehend unsichtbar zu werden. In diesen Phasen ist er aber nicht verschwunden. Er ändert nur seine Gestalt, organisiert sich neu, sucht sich neue Ziele. Es ist auch diese Wandlungsfähigkeit, die es schwer macht, seine Dimensionen zu überschauen.
September 1980: Ein Rechtsextremist deponiert auf dem Münchner Oktoberfest in einem Mülleimer eine Bombe. Zwölf Besucher sterben. Mehrere Wochen später klingelt in Erlangen ein Mann bei dem Verleger und Rabbiner Shlomo Lewin, er tötet Lewin und dessen Lebensgefährtin mit einer Maschinenpistole. Beide Täter, der von München und der von Erlangen, stammen aus dem Umfeld der paramilitärischen Vereinigung Wehrsportgruppe Hoffmann.
Die späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre sind die Zeit der Kriegsspieler und Möchtegern-Hitlers. Karl-Heinz Hoffmann ist ein Porzellanmaler aus Nürnberg, der die Nazi-Zeit als Kind miterlebte und in seinem Garten einen Schützenpanzer stehen hat. In der bayerischen Provinz veranstaltet er Manöver, dort üben dann Hunderte junge Männer – bis 1980 völlig legal – Nahkampf, Fußmarsch, Überleben in der Wildnis. Mit alten Militärfahrzeugen, Uniformen, SS-Totenkopfzeichen. Mit echten Waffen und falschen Orden. Und natürlich mit Führerprinzip.
Hepp-Kexel-Gruppe. Deutsche Aktionsgruppen. Werwolfgruppe. Lauter Terrororganisationen jener Jahre, die heute keiner mehr kennt. Waffendepots. Raubüberfälle. Angriffe gegen Polizisten. Sprengstoffanschläge auf US-Soldaten. Morde an Asylbewerbern. Die Mittel des Terrors und seine Ziele variieren, aber immer sind es damals klar voneinander abgegrenzte Einheiten, nach dem Modell der Wehrsportgruppe Hoffmann streng hierarchisch organisiert. Die gesamte Szene der Neonazis umfasst in den Achtzigerjahren wenige Tausend Menschen. Es scheint undenkbar, dass sich ein größerer Teil der Bevölkerung mit den Gewalttätern von rechts identifizieren könnte.
Das ändert sich nach der Wiedervereinigung.
Mai 1993: In Solingen sterben fünf Frauen und Mädchen der Familie Genç bei einem Brandanschlag. Das jüngste Opfer ist vier Jahre alt. Die Mörder sind Neonazis aus der Umgebung, sie haben erst kurz vorher angetrunken den Entschluss zur Tat gefasst.
Es ist weniger Terrorismus mit klaren Strukturen als eine spontane Gewalt der Straße gegen Asylbewerber und »Zecken«, die in den Neunzigerjahren das Land erfasst. An manchen Orten im Osten gibt es jetzt eine rechtsextreme Jugendbewegung, sie erhält regionalen Rückhalt und profitiert davon, dass Polizisten, Richter und Lokalpolitiker noch unsicher sind, was eine Gesellschaft tolerieren darf – und was nicht. Als aufgepeitschte Neonazis in Rostock-Lichtenhagen ein Wohnheim von Vietnamesen mit Brandsätzen attackieren, applaudieren manche Anwohner, und eine Hundertschaft der Polizei steht regungslos daneben.
Wieder vollzieht sich ein Wandel. Aus dem Nazi-Milieu der Neunziger erwächst in den Nullerjahren neuer Terror, der sich an Konzepten wie dem des »führerlosen Widerstands« orientiert. Gruppen wie das Freikorps Havelland in Brandenburg planen Angriffe auf anscheinend zufällig ausgewählte Angehörige von Minderheiten, in diesem Fall Brandanschläge auf Imbissstände von Migranten. Jeder Nichtdeutsche, so der Gedanke, soll Angst haben, dass es ihn als Nächsten trifft. Mit zehn Morden zwischen 2000 und 2007 perfektioniert der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) diese Methode.
Der Terrorismusexperte Daniel Köhler hat alle Informationen zum rechtsextremen Terror der vergangenen fünf Jahrzehnte zusammengetragen, die er finden konnte. Seine Bilanz: 110 terroristische Gruppen und Einzelpersonen. 2459 Brandanschläge. 348 Morde und Mordversuche. 238 Raubüberfälle. 19 Entführungen.
Fragt man, woran es liegt, dass rechtsextreme Gewalt in all den Jahren so wenig Beachtung gefunden hat, heißt es häufig, meist von linker Seite, die Bundesrepublik, die Politik, die Polizei, die Justiz seien auf dem rechten Auge blind.
Eine abwegige These?
Nachdem Josef Bachmann den Studentenführer Rudi Dutschke auf dem Berliner Kurfürstendamm niedergeschossen hatte, fanden die Ermittler heraus: Bachmann hatte in seinem alten Kinderzimmer ein selbst gemaltes Hitler-Porträt aufgehängt, im Regal stand Mein Kampf. Die Ermittler gaben sich mit dem Bild des Einzelgängers zufrieden, der mit seinem Leben nicht klarkommt und sich darüber selbst radikalisiert hat. Anderen Spuren gingen sie nicht nach. »Der Mann ist ein armes Würstchen«, sagte ein Sprecher der Justiz. Erst Jahrzehnte später wurde bekannt: Bachmann hatte sich regelmäßig mit Neonazis getroffen, gemeinsam ballerten sie mit Schusswaffen herum.
Nachdem 1980 die Wehrsportgruppe Hoffmann verboten worden war, machte sich der damalige bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß über diese Maßnahme lustig: »Mein Gott, wenn ein Mann sich vergnügen will, indem er am Sonntag auf dem Land mit einem Rucksack und mit einem mit Koppel geschlossenen ›Battle Dress‹ spazieren geht, dann soll man ihn in Ruhe lassen.« Ein halbes Jahr später explodierte die Bombe auf dem Oktoberfest. Der Täter, so viel weiß man heute, wollte kurz vor den Bundestagswahlen offenbar linken Terror vortäuschen, um rechten Parteien zu helfen. Die Wehrsportgruppe Hoffmann hatte ihn als »aktiven Anhänger« registriert – ihre genaue Rolle bei diesem bis heute blutigsten Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik ist noch immer ungeklärt.
Nachdem 1993 die fünf Frauen und Mädchen der Familie Genç in Solingen gestorben waren, reiste der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl nicht zur Trauerfeier. Sein Regierungssprecher sagte, der Kanzler habe »weiß Gott andere wichtige Termine«, man wolle nicht »in Beileidstourismus ausbrechen«.
Nachdem der NSU begonnen hatte zu morden, gründeten Beamte die »Besondere Aufbauorganisation Bosporus«, in den Zeitungen war von »Döner-Morden« zu lesen. 13 Jahre lang konnte die Terrortruppe im Verborgenen bleiben, weil die Beamten glaubten, die Mordopfer selbst seien in organisierte Kriminalität verstrickt gewesen. Verschiedene parlamentarische Untersuchungsausschüsse konnten bis heute nicht eindeutig klären, wie es zu dem eklatanten Behördenversagen kam.
Man sah nichts, weil man nichts sehen wollte. Und weil man abgelenkt war.
Die rechtsextremen Täter bewegten sich über viele Jahre gewissermaßen im toten Winkel der Aufmerksamkeit. Das Bild, das Politiker, Öffentlichkeit und Ermittler von Terroristen hatten, war geprägt von der Roten Armee Fraktion. »Es gab beim Terrorismus eine RAF-Fixierung«, sagt der Extremismus- und Terrorismusforscher Armin Pfahl-Traughber: Ein Terrorist, das war demnach per Definition ein Systemgegner, der seine Verbrechen in kruden, intellektuell anmutenden Bekennerschreiben überhöht. Eine terroristische Vereinigung, das war eine Verbindung von mehr als zwei Personen, die zusammenarbeiten, um terroristische Straftaten zu verüben und die Bevölkerung zu verängstigen.
Die Terroristen von rechts aber waren nicht selten Einzeltäter, die nur lose in Strukturen eingebunden waren. Manche sahen sich selbst als Nachfolger der »Werwölfe«, jener Kämpfer, die der SS-Führer Heinrich Himmler in den letzten Kriegsmonaten in bereits verlorene Gebiete entsandt hatte, um dort, oft auf sich allein gestellt, Anschläge zu verüben.
Die rechten Terroristen verzichteten auch meist darauf, sich öffentlich zu ihren Taten zu bekennen – manchmal fiel gar nicht auf, dass es sich überhaupt um Anschläge handelte. Zumal sie sich zunehmend kleinere, wenig geschützte Ziele suchten.
Die RAF ermordete den Generalbundesanwalt Siegfried Buback, den Chef der Dresdner Bank Jürgen Ponto, den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, den Chef der Deutschen Bank Alfred Herrhausen und den Präsidenten der Treuhandanstalt Detlev Rohwedder. Menschen mit Macht, Menschen mit Gesichtern, die jeden Tag im Fernsehen waren. Als sie starben, hielt ganz Deutschland inne.
Die Rechtsterroristen töteten den Arbeitslosen Nguyen Van Tu, den Asylbewerber Kolong Jamba, den Zimmermann Nuno Lourenço, den Obst- und Gemüsehändler Süleyman Taşköprü, den Schüler Thomas K., die Apothekerin Marwa el-Sherbini. Menschen, die nicht jeder in Deutschland kannte. Dass sie zu Opfern wurden, weil sie auf eine andere Art ebenfalls Repräsentanten dieses Landes waren – Vertreter einer offenen Gesellschaft –, wurde erst im Nachhinein auf schmerzhafte Weise klar.
Im Laufe der Neunzigerjahre trocknete die RAF zunehmend aus. Ihre Mitglieder saßen im Gefängnis, waren tot, hatten sich vom Terror losgesagt oder waren verschwunden. Es wäre für die deutsche Politik, für die Ermittler und Behörden eine Gelegenheit gewesen, sich neu zu orientieren, endlich den Blick freizubekommen für die Gefahr von rechts. Und vielleicht, man kann nur spekulieren, wäre dies auch geschehen.
Wären nicht, am 11. September 2001, zwei Flugzeuge in die Türme des World Trade Center in New York geflogen. Die Anschläge einer bis dahin wenig bekannten Terrorgruppe names Al-Kaida änderten vieles. Für die Sicherheitsbehörden änderten sie alles.
Der Bundesnachrichtendienst, der Verfassungsschutz und die Polizei richteten sich neu aus. Sie gründeten eigene Abteilungen, die sich mit Islamismus befassten, stellten Arabisten und Islamwissenschaftler ein und schulten altgediente Staatsschützer zu Al-Kaida-Experten um. Die Bundesregierung zog die besten Leute von Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt und Bundesnachrichtendienst in Berlin zusammen. Im Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrum koordinierten die Experten die Jagd auf die deutschen Anhänger des Al-Kaida-Anführers Osama bin Laden.
Die für den Rechtsextremismus zuständigen Ermittler des Verfassungsschutzes dagegen blieben in der Dienststelle in Köln-Chorweiler. Sie standen am Rand – also dort, wo sie schon all die Jahre gewesen waren.
Ähnlich wie zuvor den Linksextremen galt die Aufmerksamkeit nun den Islamisten. Währenddessen konnten die rechten Gewalttäter weiter ihre Verbrechen begehen.
Erst seit zwei, drei Jahren haben sich die Gewichte wieder verschoben, hat in den Behörden ein erneutes Umdenken eingesetzt. Sowohl der Verfassungsschutz als auch das Bundeskriminalamt haben Hunderte neuer Mitarbeiter eingestellt, die sich mit dem Rechtsextremismus befassen. Schon seit Langem versucht das BKA, mit einem Frühwarnsystem militante Islamisten auf den Schirm zu bekommen, um sie dann überwachen zu können. Auf diese Weise wurden 688 in Deutschland lebende islamistische »Gefährder« identifiziert, also Extremisten, denen die Behörden jederzeit zutrauen, einen Anschlag zu verüben.
Ein ähnliches System wird nun für rechte Gefährder eingeführt. Von ihnen haben die Ermittler bundesweit bisher nur rund 60 registriert, die tatsächliche Zahl liegt vermutlich weit höher.
Nach den Morden von Hanau trat in Berlin Bundesinnenminister Horst Seehofer vor die Presse. Vom Rechtsextremismus gehe »derzeit die höchste Bedrohung für die Sicherheit in unserem Lande« aus, sagte er.
Diese Erkenntnis kommt spät, vielleicht zu spät. Denn wie erst jetzt, nach den Ereignissen der vergangenen Monate, deutlich wird, hat sich der rechte Terror in der Zeit des Desinteresses und der Ignoranz, in den Jahren des Wegsehens und Übersehens wieder verändert. Er hat neue, bisher unbekannte Formen angenommen, die viel schwerer zu bekämpfen sind als zuvor.
Tobias R., der Mörder von Hanau, war 43 Jahre alt, gelernter Bankkaufmann und diplomierter Betriebswirt. Nach Jahren der Berufstätigkeit bei einem Finanzdienstleister in Trier und einer Internetfirma in München war er in seine Heimatstadt Hanau zurückgekehrt, hatte wieder bei seinen Eltern gelebt, in deren bescheidenem Häuschen im Hanauer Westen, zwei Stockwerke, flacher Giebel, schmaler Garten. Tobias R. war arbeitslos, bezog Hartz IV, im Jobcenter tauchte er mehrfach gemeinsam mit seinem Vater auf, um sich zu beschweren.
Zu den offenen Fragen, denen die Ermittler derzeit mit Hochdruck nachgehen, zählt eine zehntägige Reise in die USA Ende 2018. Am 4. November 2018 flog Tobias R. nach Denver, bei der Einreise gab er als Reiseziel »Grand Encampment« ein, ein kleines Örtchen im Süden Wyomings mit 2000 Einwohnern. US-Ermittler sowie das BKA prüfen, ob R. dort Kontakt zu einer sektenähnlichen Vereinigung selbst ernannter Tempelritter aufnahm oder zu Mitgliedern einer örtlichen Miliz.
Tobias R. hatte einen zutiefst rassistischen Blick auf die Menschheit, die er in produktive und destruktive Völker unterteilte, in Völker mit Lebensberechtigung und solche, die es zu eliminieren gelte. Er war vermutlich psychisch krank, litt unter Wahnvorstellungen, machte sich wirre Verschwörungstheorien zu eigen, war sozial isoliert. Tobias R., so sieht es derzeit aus, war nicht nur als Täter allein, sondern auch als Mensch.
Rassist, psychisch krank, Einzeltäter – diese Charakterisierung passt auch auf frühere rechtsextreme Attentäter. Das eigentlich Gefährliche an Tobias R. war etwas anderes.
Frühere rechtsextreme Einzeltäter hatten fast immer irgendwann vor ihrer Tat Kontakt zu anderen Rechtsextremen. Sie radikalisierten sich in den Hinterzimmern von Dorfgaststätten, in Gesprächen mit Gleichgesinnten. Sie waren, auch wenn sie am Ende oft allein und auf sich selbst gestellt losschlugen, Mitglied in Wehrsportgruppen und Kameradschaften.
Anders gesagt: Man hätte sie, zumindest theoretisch, entdecken können, durch das Abhören von Telefonen, das Überwachen von Komplizen, das Befragen von Zeugen. Durch all die Methoden, die Ermittler bei der Verhinderung von Terroranschlägen zur Verfügung haben.
Tobias R. aber saß in keinen Hinterzimmern, und wenn doch, dann hat er dort nach allem, was man bisher weiß, keine Gesinnungsgenossen getroffen. Mitglied war er nur im Schützenverein. Selbst wenn die deutschen Sicherheitsbehörden zehnmal so viele Leute und zwanzigmal so viel Geld zur Verfügung gehabt hätten, Tobias R. wäre wohl nie auf der Gefährderliste aufgetaucht.
Er entspricht damit derselben Art von Täter wie auch Stephan B., der Terrorist von Halle. Täter, denen kaum auf die Spur zu kommen ist, weil sie kaum Spuren hinterlassen.
Am letzten Samstag im September vergangenen Jahres findet an einer alten Sägemühle im Schwäbischen Wald, östlich von Stuttgart, ein kleiner Grillabend statt. »Hummelgautsche« nennen die Leute in der Region die Mühle liebevoll, und sie scheint wie gemacht für ein konspiratives Treffen: Rundherum freies Feld, wer sich dem Gebäude nähert, ist schon in der Ferne zu sehen, der nächste Handysendemast ist weit weg, das macht die Überwachung schwierig.
Die Menschen, die sich hier an diesem Tag versammeln, sind Rechtsextremisten.
Sie kommen aus ganz Deutschland: aus Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Bayern. Alles Männer, alles deutsche Staatsbürger, der jüngste 31 Jahre, der älteste 60 Jahre alt.
Jener 28. September 2019 gilt heute als Gründungsdatum der »Gruppe S.«, wie die Behörden sie bald bezeichnen, benannt nach Werner S., einem 53-jährigen Restaurator, der in einem heruntergekommenen Bauernhaus in einem kleinen Ort bei Augsburg lebt. Werner S. trägt gern einen auffälligen Filzhut, in der Szene ist er als »Teutonico« bekannt.
Im Jahr 2007 stand Werner S. noch auf einer Interessentenliste der NPD. Zehn Jahre später bekundete er mit einer E-Mail an die AfD seine Neugier auf die neue rechte Partei. Die Behörden haben Werner S. schon länger als rechten »Gefährder« eingestuft. Er ist eine jener rund 60 rechtsextremen Personen in Deutschland, von denen die Beamten befürchten, dass sie einen terroristischen Anschlag verüben könnten.
Vier Männer, so die heutige Erkenntnis der Ermittler, bilden den Kern der Gruppe S., neun weitere sollen bereit gewesen sein, Waffen und Geld zu besorgen, und zugesichert haben, sich an Attentaten zu beteiligen. Ihr mutmaßlicher Plan: auf mehrere Moscheen in Deutschland gleichzeitig Anschläge verüben, außerdem »weiche« und »harte Ziele« attackieren; »weich«, das sind zum Beispiel Schwarzafrikaner, über die einer der Beschuldigten nach Erkenntnissen der Ermittler äußert: »Ich kann auch nicht jeden nigger killen den ich seh! Würde es gern aber das kommt noch.«
»Hart«, das sind deutsche Politiker. Nach Informationen der ZEIT erwähnen die Gruppenmitglieder dabei als mögliche Anschlagsziele die beiden Grünen-Politiker Robert Habeck und Anton Hofreiter.
Die Zeiten von Bürgerwehren seien vorbei, sie seien viel weiter, sagt einer aus der Gruppe in einem abgehörten Gespräch. Er sei bereit, sein »Leben liegen zu lassen«. Und Werner S. prahlt: »Zehn Männer, zehn Bundesländer, fertig. Oder meinetwegen nur fünf, wenn’s Zweiergruppen sind.«
Die Absicht: »bürgerkriegsähnliche Zustände« in Deutschland auszulösen. Die Hoffnung: Am Ende werde die politische Ordnung zusammenbrechen.
Was die Terroristen nicht wissen: Spezialisten des baden-württembergischen Landeskriminalamtes observieren das Treffen an der Sägemühle. Schon seit Mitte September weiß die Polizei von dem Abend, einer der Männer aus dem inneren Zirkel der Gruppe hat den Ermittlern einen Tipp gegeben.
Drei Tage nach der Zusammenkunft an der Sägemühle erfährt die Polizei durch ihren Informanten von einem für Januar geplanten konspirativen Treffen in Italien, auf einem Landsitz, der Werner S. gehört. Dort, so erzählt der Informant, würden Mitglieder mehrerer anderer rechtsextremer Gruppen erwartet. Er nennt das Freikorps Niedersachsen, das Freikorps Bayern sowie Wodans Erben. Die Männer halten untereinander über verschlüsselte Handy-Chats Kontakt. Eine der Chatgruppen heißt »Last Man Standing«, eine andere »Besprechungszimmer«.
Das Treffen wird verschoben. Am 14. Februar lässt die Bundesanwaltschaft zwölf Männer aus der Gruppe S. festnehmen. Bei Werner S. finden die Polizisten eine schussbereite 9-mm-Pistole. Bis heute sitzen alle zwölf in Untersuchungshaft.
Ein Dutzend mutmaßlicher Rechtsterroristen, die sich zusammentun, das hat es auch früher schon gegeben, genau wie den gewaltbereiten Einzeltäter. Doch so wie Tobias R. bei genauerem Hinsehen einen neuen Typ von Terrorist verkörpert, so steht auch die Gruppe S. für ein neues, gefährliches Phänomen. Das wird deutlich, wenn man sich ihre Mitglieder genauer ansieht.
Da ist zum Beispiel Michael B., der zusammen mit einem Partner eine Zwei-Mann-Firma für Laserschweißarbeiten betreibt: 47 Jahre alt, zwei Kinder, wohnt in Kirchheim unter Teck, nur eine Autostunde von der alten Sägemühle entfernt. Früher hat er Wasserball beim VfL Kirchheim gespielt, politisch ist er nie auffällig geworden. Betrachtet man sein Leben von außen, könnte man in ihm einen typischen Vertreter der Mitte dieser Gesellschaft sehen.
Was treibt einen Unternehmer wie Michael B. dazu, sich samstagabends mit rechtsradikalen Aufstandsszenarios zu beschäftigen?
»Wenn ich das wüsste«, sagt einer seiner Bekannten gegenüber der ZEIT. »Wir fragen uns das alle. Niemand hat etwas mitbekommen, niemand hat sich das vorstellen können.« B. galt als Outdoor-Freak, als Überlebenskünstler. In der Gruppe S. soll er für einen Teil der Technik zuständig gewesen sein. Er ist einer der vier Hauptbeschuldigten.
Auch ein Fliesenleger zählte zu der Gruppe, ein Installateur, ein Lagerist, außerdem ein Online-Händler und ein Polizist im Innendienst aus Hamm in Westfalen, er heißt Thorsten W. und ist 50 Jahre alt.
Thorsten W. präsentiert sich im Internet als Fan von Fußballabenden in der Kneipe und einem historischen Schiff auf der Insel Langeoog. In seiner Freizeit aber kleidete er sich wie ein germanischer Krieger, mit Schwert und Schild, sein Profil in den sozialen Medien zeigt Hakenkreuze und SS-Symbole. Nach Informationen der ZEIT soll W. auch Kunde im Shop der NPD-Zeitung Deutsche Stimme gewesen sein. Seine Vorgesetzten bei der Polizei räumen inzwischen ein, die offenkundig rechtsextreme Gesinnung ihres Kollegen sei ihnen durchgerutscht.
Das ist das Neue und Gefährliche an der Gruppe S.: wer hier alles zusammenkam.
Das Milieu der Rechtsextremisten hat sich in den vergangenen Jahren enorm erweitert, es sind Kooperationen entstanden, die für die Polizei kaum zu überblicken sind. Offensichtlich hat sich in Deutschland eine Art Wutbürger-Terrorismus formiert, bei dem sich militante Ideologen mit bislang unbescholtenen Bürgern verbünden. Seine Basis ist eine Parallelgesellschaft, aus der heraus diese neue, vielgestaltige Form rechtsextremer Gewalt erwachsen kann.
Es ist ähnlich wie beim Terror der RAF in den Siebzigerjahren. Auch damals gab es eine Parallelgesellschaft. Eine unüberschaubare Zahl von Sympathisanten und Unterstützern, die zwar nicht selbst zur Waffe griffen, aber den Tätern das Gefühl vermittelten: Du bist einer von uns.
So geschieht es heute erneut, nur diesmal von rechts und im Internet, an jedem Tag. Da wird nicht einfach nur gehetzt. Längst ist eine neue Sprache entstanden, mit Wörtern, die bei den vielen Eingeweihten die immer gleichen Gedankenketten in Gang setzen.
»Umvolkung«: staatlich gelenkter Austausch der eigenen Bevölkerung durch Einwanderer aus muslimischen Ländern.
»Geburten-Dschihad«: Strategie der Migranten, mittels hoher Fruchtbarkeit bald die Mehrheit der Bevölkerung zu stellen.
»Schuldkult«: zwanghafte Beschäftigung des politischen Gegners mit Holocaust und Nazi-Vergangenheit.
Diese Begriffe finden sich tausendfach in rechtspopulistischen Blogs, in YouTube-Videos und in Facebook-Kommentaren von AfD-Anhängern, man hört sie bei Wahlkampfveranstaltungen in Bürgersälen ebenso wie auf Marktplätzen. Und manchmal auch im Bundestag.
Der Anschlag von Hanau ist drei Tage her, als Candan Özer-Yılmaz in der hessischen Stadt durch den Bahnhof läuft. Sie ist aus ihrer Heimatstadt Hamburg mit dem ICE angereist. In der Halle ist es laut und voll, Menschen in Ninja- und in Clownskostümen schieben sich auf dem Weg zu Faschingsumzügen an ihr vorbei. Candan Özer-Yılmaz, 40 Jahre alt, eine schlanke Frau mit festem Blick, ignoriert die Feierfreudigen. Sie eilt aus dem Bahnhof, steigt in ein Taxi und bittet den Fahrer, zum Freiheitsplatz zu fahren.
Gestern Abend kam der Anruf: ob sie auf der Gedenkveranstaltung für die Toten sprechen könne? Sie wisse ja, was es bedeute, einen geliebten Menschen durch rechten Terror zu verlieren.
Es mag Leute geben, die immer noch gern verdrängen, dass die Geschichte der Bundesrepublik eine Geschichte des rechtsextremen Terrors ist. Candan Özer-Yılmaz kann sich diesen Luxus nicht leisten. Ihr Mann Atilla Özer, damals noch ein guter Freund, ließ sich am 9. Juni 2004 in einem Friseursalon in der Kölner Keupstraße die Haare schneiden. Draußen vor der Fensterscheibe stand ein Fahrrad. Auf dem Gepäckträger lag ein Motorradkoffer.
Von den tausend Zimmermannsnägeln, mit Schwarzpulver in tausend Geschosse verwandelt, trafen zahlreiche Atilla Özers Körper. Er wurde schwer verletzt. In den Jahren danach wurden Candan und Atilla ein Paar, sie heirateten, bekamen einen gemeinsamen Sohn. Doch Atilla gelang es nicht, die Vergangenheit aus dem Kopf zu kriegen. Er bekam Angstzustände und Depressionen, trank zu viel Alkohol und schluckte zu viele Tabletten. Vor zweieinhalb Jahren starb Atilla Özer, er wurde keine 40. Für Candan Özer-Yılmaz ist auch er ein Mordopfer des NSU.
Gleich wird sie in der Hanauer Innenstadt aus dem Taxi steigen, der Freiheitsplatz wird voller Menschen sein. Hinter der Bühne wird Candan Özer-Yılmaz zuhören, wie eine Frau der Menge Namen vorliest.
Ferhat Unvar.
Mercedes Kierpacz.
Gökhan Gültekin.
Hamza Kurtović.
Sedat Gürbüz.
Kalojan Welkow.
Vili Viorel Păun.
Fatih Saraçoglu.
Said Nessar El Hashemi.
Candan Özer-Yılmaz wird als letzte Rednerin die Bühne betreten. Sie wird über ihren Mann sprechen, der jahrelang mit einem Nagel im Kopf lebte, über ihren Sohn, der seinen Vater viel zu früh beerdigen musste, über die Trauer, die nicht vergeht.
Jetzt, auf der Fahrt zur Gedenkveranstaltung, erzählt sie, sie habe für diesen Samstag eigentlich andere Pläne gehabt: Kisten packen. Zu Hause in Hamburg gehört ihr ein Kosmetikstudio, »nächste Woche muss ich umziehen, zwei Straßen weiter«. Doch als das Telefon klingelte, zögerte Candan Özer-Yılmaz nicht lange. Sie sagt, sie habe nach schrecklichen Taten wie dieser den Impuls, allein zu sein. »Aber dann denke ich wieder: Wenn wir nicht sprechen – wie soll sich dann etwas ändern?«
MORITZ AISSLINGER, CHRISTIAN FUCHS, ASTRID GEISLER, MALTE HENK, PAUL MIDDELHOFF, DANIEL MÜLLER, YASSIN MUSHARBASH, KARSTEN POLKE-MAJEWSKI, HOLGER STARK, TANJA STELZER, WOLFGANG UCHATIUS
Andrzej Fratczak, 36, 7. Oktober 1990, Lübbenau
Eberhard Arnold, 23, 21. Oktober 1990, Ludwigsburg
Amadeu Antonio Kiowa, 28, 25. November 1990, Eberswalde
Nihad Yusufoglu, 37, 28. Dezember 1990, Hachenburg
Alexander Selchow, 21, 31. Dezember 1990, Rosdorf
Unbekannt, 31, 31. Dezember 1990, Flensburg
Jorge Gomondai, 28, 31. März 1991, Dresden
Matthias Knabe, 23, 8. Mai 1991, Gifhorn
Helmut Leja, 39, 4. Juni 1991, Kästorf
Agostinho Comboio, 35, 16. Juni 1991, Friedrichshafen
Wolfgang Auch, 28, 16. September 1991, Schwedt
Samuel Kofi Yeboah, 27, 19. September 1991, Saarlouis
Gerd Himmstädt, 30, 1. Dezember 1991, Hohenselchow
Timo Kählke, 29, 12. Dezember 1991, Meuro
Unbekanntes Opfer aus Sri Lanka, 31. Januar 1992, Lampertheim
Unbekanntes Opfer aus Sri Lanka, 31. Januar 1992, Lampertheim
Unbekanntes Opfer aus Sri Lanka, 31. Januar 1992, Lampertheim
Dragomir Christinel, 18, 15. März 1992, Saal
Gustav Schneeclaus, 53, 18. März 1992, Buxtehude
Ingo Finnern, 31, 19. März 1992, Flensburg
Erich Bosse, 4. April 1992, Hörstel
Nguyen Van Tu, 29, 24. April 1992, Berlin-Marzahn
Torsten Lamprecht, 23, 9. Mai 1992, Magdeburg
Emil Wendland, 50, 1. Juli 1992, Neuruppin
Sadri Berisha, 56, 8. Juli 1992, Ostfildern-Kemnat
Dieter Klaus Klein, 49, 1. August 1992, Bad Breisig
Ireneusz Szyderski, 24, 3. August 1992, Stotternheim
Frank Bönisch, 35, 24. August 1992, Koblenz
Günter Schwannecke, 58, 29. August 1992, Berlin-Charlottenburg
Waltraud Scheffler, 44, 11. Oktober 1992, Geierswalde
Rolf Schulze, 52, 7. November 1992, Lehnin
Karl-Hans Rohn, 53, 13. November 1992, Wuppertal
Silvio Meier, 27, 21. November 1992, Berlin-Friedrichshain
Bahide Arslan, 51, 22. November 1992, Mölln
Ayse Yilmaz, 14, 22. November 1992, Mölln
Yeliz Arslan, 10, 22. November 1992, Mölln
Sahin Calisir, 20, 27. Dezember 1992, Meerbusch
Karl Sidon, 45, 15. Januar 1993, Arnstadt
Mike Zerna, 22, 19. Februar 1993, Hoyerswerda
Mustafa Demiral, 56, 9. März 1993, Mülheim an der Ruhr
Hans-Peter Zarse, 18, 12. März 1993, Uelzen
Matthias Lüders, 23, 24. April 1993, Obhausen
Belaid Baylal, 42, 8. Mai 1993, Belzig
Jeff Dominiak, 25, 26. Mai 1993, Waldeck
Gürcün Ince, 27, 29. Mai 1993, Solingen
Hatice Genç, 18, 29. Mai 1993, Solingen
Gülüstan Öztürk, 12, 29. Mai 1993, Solingen
Hülya Genç, 9, 29. Mai 1993, Solingen
Saime Genç, 4, 29. Mai 1993, Solingen
Horst Hennersdorf, 37, 5. Juni 1993, Fürstenwalde
Unbekannt, 33, 16. Juli 1993, Marl
Hans-Georg Jakobson, 35, 28. Juli 1993, Strausberg
Kolong Jamba, 19, 7. Dezember 1993, Buchholz
Eberhart Tennstedt, 43, 5. April 1994, Quedlinburg
Klaus R., 43, 28. Mai 1994, Leipzig
Beate Fischer, 32, 23. Juli 1994, Berlin-Reinickendorf
Jan Wnenczak, 45, 26. Juli 1994, Berlin-Friedrichshain
Horst Pulter, 65, 5. Februar 1995, Velbert
Peter T., 24, 25. Mai 1995, Hohenstein-Ernstthal
Dagmar Kohlmann, 25, 16. Juli 1995, Gladbeck
Klaus-Peter Beer, 48, 7. September 1995, Amberg
Patricia Wright, 23, 3. Februar 1996, Bergisch Gladbach
Sven Beuter, 23, 15. Februar 1996, Brandenburg an der Havel
Martin Kemming, 26, 15. März 1996, Dorsten-Rhade
Bernd Grigol, 43, 8. Mai 1996, Leipzig
Boris Morawek, 26, 11. Juli 1996, Wolgast
Werner Weickum, 44, 19. Juli 1996, Eppingen
Andreas Götz, 34, 1. August 1996, Eisenhüttenstadt
Achmed Bachir, 30, 23. Oktober 1996, Leipzig
Phan Van Toau, 42, 31. Januar 1997, Fredersdorf
Frank Böttcher, 17, 8. Februar 1997, Magdeburg
Antonio Melis, 37, 13. Februar 1997, Caputh
Stefan Grage, 23. Februar 1997, Roseburg
Chris Danneil, 31, 17. April 1997, Berlin-Treptow
Olaf Schmidke, 26, 17. April 1997, Berlin-Treptow
Horst Gens, 50, 22. April 1997, Sassnitz
Augustin Blotzki, 59, 8. Mai 1997, Königs Wusterhausen
Mathias Scheydt, 39, 23. September 1997, Cottbus
Erich Fisk, 59, 23. September 1997, Angermünde
Josef Anton Gera, 59, 14. Oktober 1997, Bochum
Jana G., 14, 26. März 1998, Saalfeld
Nuno Lourenço, 49, 4. Juli 1998, Leipzig
Farid Gouendoul, 28, 13. Februar 1999, Guben
Egon Effertz, 58, 17. März 1999, Duisburg
Peter Deutschmann, 44, 9. August 1999, Eschede
Carlos Fernando, 35, 15. August 1999, Kolbermoor
Patrick Thürmer, 17, 3. Oktober 1999, Oberlungwitz
Kurt Schneider, 38, 6. Oktober 1999, Berlin-Lichtenberg
Hans-Werner Gärtner, 37, 8. Oktober 1999, Löbejün
Daniela Peyerl, 18, 1. November 1999, Bad Reichenhall
Karl-Heinz Lietz, 54, 1. November 1999, Bad Reichenhall
Horst Zillenbiller, 60, 1. November 1999, Bad Reichenhall
Ruth Zillenbiller, 59, 1. November 1999, Bad Reichenhall
Jörg Danek, 38, 29. Dezember 1999, Halle-Neustadt
Bernd Schmidt, 52, 31. Januar 2000, Weißwasser
Helmut Sackers, 60, 29. April 2000, Halberstadt
Dieter Eich, 60, 25. Mai 2000, Berlin-Buch
Falko Lüdtke, 22, 31. Mai 2000, Eberswalde
Alberto Adriano, 39, 10. Juni 2000, Dessau
Thomas Goretzky, 35, 14. Juni 2000, Dortmund
Yvonne Hachtkemper, 34, 14. Juni 2000, Dortmund
Matthias Larisch von Woitowitz, 35, 14. Juni 2000, Dortmund
Klaus-Dieter Gerecke, 24. Juni 2000, Greifswald
Jürgen Seyfert, 52, 9. Juli 2000, Wismar
Norbert Plath, 51, 27. Juli 2000, Ahlbeck
Enver Şimşek, 38, 9. September 2000, Nürnberg
Malte Lerch, 45, 12. September 2000, Schleswig
Eckhard Rütz, 42, 25. November 2000, Greifswald
Willi Worg, 38, 25. März 2001, Milzau
Mohammed Belhadj, 31, 22. April 2001, Jarmen
Abdurrahim Özüdoğru, 49, 13. Juni 2001, Nürnberg
Süleyman Taşköprü, 31, 27. Juni 2001, Hamburg-Bahrenfeld
Dieter Manzke, 61, 9. August 2001, Dahlewitz
Klaus Dieter Harms, 61, 9. August 2001, Wittenberge
Doris Botts, 54, 17. August 2001, Fulda
Habil Kılıç, 38, 29. August 2001, München-Ramersdorf
Ingo Binsch, 36, 5. November 2001, Berlin-Hellersdorf
Kajrat Batesov, 24, 4. Mai 2002, Wittstock
Marinus Schöberl, 17, 12. Juli 2002, Potzlow
Ahmet Sarlak, 19, 9. August 2002, Sulzbach
Hartmut Balzke, 48, 25. Januar 2003, Erfurt
Andreas Oertel, 40, 20. März 2003, Naumburg
Enrico Schreiber, 25, 29. März 2003, Frankfurt (Oder)
Gerhard Fischhöder, 49, 10. Juli 2003, Scharnebeck
Thomas K., 16, 4. Oktober 2003, Leipzig
Hartmut Nickel, 61, 7. Oktober 2003, Overath
Mechthild Bucksteeg, 53, 7. Oktober 2003, Overath
Alia Nickel, 26, 7. Oktober 2003, Overath
Viktor Filimonov, 15, 19. Dezember 2003, Heidenheim
Waldemar Ickert, 16, 19. Dezember 2003, Heidenheim
Aleksander Schleicher, 17, 19. Dezember 2003, Heidenheim
Oleg Valgar, 27, 20. Januar 2004, Gera
Martin Görges, 46, 30. Januar 2004, Burg
Mehmet Turgut, 25, 25. Februar 2004, Rostock
Thomas Schulz, 32, 28. März 2005, Dortmund
İsmail Yaşar, 50, 9. Juni 2005, Nürnberg
Theodoros Boulgarides, 41, 15. Juni 2005, München-Westend
Tim Maier, 20, 26. November 2005, Bad Buchau
Mehmet Kubaşık, 39, 4. April 2006, Dortmund
Halit Yozgat, 21, 6. April 2006, Kassel
Andreas Pietrzak, 41, 6. Mai 2006, Plattling
Michèle Kiesewetter, 22, 25. April 2007, Heilbronn
M. S., 17, 14. Juli 2007, Brinjahe
Peter Siebert, 40, 26. April 2008, Memmingen
Bernd Köhler, 55, 22. Juli 2008, Templin
Karl-Heinz Teichmann, 59, 23. Juli 2008, Leipzig
Hans-Joachim Sbrzesny, 50, 1. August 2008, Dessau
Rick Langenstein, 20, 16. August 2008, Magdeburg
Marcel Wisser, 18, 24. August 2008, Bernburg
Marwa el-Sherbini, 31, 1. Juli 2009, Dresden
Kamal Kilade, 19, 24. Oktober 2010, Leipzig
André Kleinau, 50, 26. Mai 2011, Oschatz
Klaus-Peter Kühn, 59, 17. Juni 2012, Suhl
Karl-Heinz L., 59, 10. September 2012, Butzow
Andrea B., 44, 27. Oktober 2012, Hannover
Konstantin Moljanow, 34, 17. Juli 2013, Kaufbeuren
Charles Werabe, 55, 23. Oktober 2014, Limburg
Dijamant Zabergja, 21, 22. Juni 2016, München
Armela Segashi, 14, 22. Juni 2016, München
Sabina Sulaj, 15, 22. Juni 2016, München
Sevda Dag, 45, 22. Juni 2016, München
Can Layla, 14, 22. Juni 2016, München
Selcuk Kilic, 15, 22. Juni 2016, München
Giuliano Josef Kollmann, 19, 22. Juni 2016, München
Janos Roberto Rafael, 15, 22. Juni 2016, München
Chousein Daitzik, 18, 22. Juni 2016, München
Eugeniu Botnari, 34, 17. September 2016, Berlin-Lichtenberg
Daniel Ernst, 32, 19. Oktober 2016, Georgensmünd
Ruth K., 85, 1. März 2017, Döbeln
Christopher W., 27, 17. April 2018, Aue
Walter Lübcke, 65, 2. Juni 2019, Wolfhagen-Istha
Jana L., 40, 9. Oktober 2019, Halle (Saale)
Kevin S., 20, 9. Oktober 2019, Halle (Saale)
Gökhan Gültekin, 37, 19. Februar 2020, Hanau
Ferhat Unvar, 23, 19. Februar 2020, Hanau
Hamza Kurtović, Anfang 20, 19. Februar 2020, Hanau
Mercedes Kierpacz, 35, 19. Februar 2020, Hanau
Sedat Gürbüz, 30, 19. Februar 2020, Hanau
Kalojan Welkow, 32, 19. Februar 2020, Hanau
Vili Viorel Păun, 23, 19. Februar 2020, Hanau
Fatih Saraçoğlu, 34, 19. Februar 2020, Hanau
Said Nessar El Hashemi, 21, 19. Februar 2020, Hanau
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Die Liste der 182 Opfer: Ein Rechercheteam von ZEIT ONLINE und dem »Tagesspiegel« dokumentiert alle Fälle, in denen Menschen seit 1990 durch rechte Gewalt getötet wurden (www.zeit.de/todesopfer-rechter-gewalt). Es kommt auf doppelt so viele Fälle, wie von den Behörden anerkannt sind. Zeitungsartikel und Gerichtsurteile werden gesichtet, Beratungsstellen und Hinterbliebene, Anwälte und Strafverfolger befragt. Aufgenommen werden nur Fälle, in denen die politische Motivation der Täter als sicher gilt. – Die Rechercheure danken den Angehörigen der Getöteten sowie den Archiven apabiz e. V. in Berlin und a.i.d.a. in München.
Ferhat Unvar, einer der Menschen, die der Attentäter von Hanau ermordet hat
Freunde und Angehörige von Ferhat Unvar bei seiner Beerdigung
Candan Özer-Yılmaz sprach auf der Gedenkveranstaltung für die Toten
In Hanau trauern Tausende um die Opfer des rassistisch motivierten Anschlags