Wenn Hitze tötet

Tausende Menschen sterben jedes Jahr an heißen Tagen – doch die Behörden ignorieren die Katastrophe. Von Kai Biermann, Astrid Geisler, Karsten Polke-Majewski und Sascha Venohr

Der Tod kommt an den schönsten Tagen des Jahres, wenn die Sonne vom wolkenlosen Himmel strahlt und sich Schlangen vor den Freibädern bilden. Jahr um Jahr bricht dann eine Katastrophe über das Land herein. Sie ist tödlicher als Starkregen, Überschwemmungen und Waldbrände. Hunderte, oft sogar Tausende Menschen sterben, vor allem Alte, chronisch Kranke, kleine Kinder, aber auch junge Sportler. Sie fallen den Hitzewellen zum Opfer, die wegen des Klimawandels stetig zunehmen – nicht nur, wie am vergangenen Wochenende, in Las Vegas, Sevilla und Bordeaux, sondern auch in Freiburg, Mannheim und Cottbus.

Doch obwohl Klimaforscher schon seit Jahren vor dieser wiederkehrenden Katastrophe warnen, obwohl Umwelt- und Altersmedizinerinnen Schutzpläne entwickelt haben und Meteorologen seit Langem präzise Hitzewarnungen für jeden Ort in Deutschland liefern, tun die zuständigen Behörden vielerorts nicht, was sie müssten. Das legt eine Recherche der ZEIT offen. Nur jeder fünfte Landkreis hat ein Konzept entwickelt, wie besonders gefährdete Menschen vor den tödlichen Folgen steigender Temperaturen geschützt werden könnten. Die meisten Landratsämter wissen nicht einmal, wie viele Menschen in ihren Kreisen überhaupt gefährdet sind.

Auch viele Ärztinnen und Ärzte erkennen nicht, wenn sie es mit Hitzetoten zu tun haben. Hitzetod ist keine genormte Diagnose. Offiziell stirbt niemand an Hitze – es ist ähnlich wie bei Rauchern, die nicht an den Zigaretten, sondern an Lungenkrebs sterben. Bei Hitzetoten sehen die Mediziner ein Herz, das versagt hat, Nieren, die nicht mehr arbeiten wollten. Manchmal ist die Hitze auch der letzte Anstoß, der eine vorhandene Krankheit so verschlimmert, dass sie zum Tod führt. Es ist vergleichbar mit der Frage, ob jemand an oder mit Covid starb.

Deswegen bleiben die Toten dieser Katastrophe für die Öffentlichkeit unsichtbar. Kaum jemand erfährt, was sich jedes Jahr zwischen Mai und September abspielt. Selbst dann nicht, wenn ein Rettungshubschrauber kommt und die Staatsanwaltschaft ermittelt, so wie vor drei Jahren im hessischen Landkreis Groß-Gerau.

Als Bodo Mönichs Handy an einem Mittwoch im Juni 2019 klingelt, macht der Landwirt gerade Siesta. Mehr als 200 Saisonkräfte arbeiten für seinen Spargel- und Erdbeerhof im südhessischen Griesheim, aber an diesem Nachmittag hat er ihnen verboten, aufs Feld zu gehen – dort herrscht glühende Hitze. Doch ein Helfer Mönichs meldet ihm am Telefon, auf dem Kürbisacker eines anderen Bauern liege ein bewegungsloser Mann.

Live-Ticker bringen in jenem Juni stündlich Neuigkeiten zum Hoch »Ulla«: steigende Nachfrage nach Mineralwasser, Asphaltschäden auf Autobahnen. Die Deutsche Presse-Agentur (dpa) meldet, Hessen stehe der wärmste jemals gemessene Junitag bevor. Für die Landkreise Groß-Gerau und Darmstadt-Dieburg, über die sich ein großes Gemüseanbaugebiet erstreckt, ruft der Deutsche Wetterdienst (DWD) die höchste Hitzewarnstufe aus, Extremwetter in Südhessen.

Der Spargelbauer alarmiert den Rettungsdienst, dann steigt er selbst in seinen SUV. Er will den Rettungskräften helfen, den Erntehelfer zu finden. Als Mönich und die Sanitäter das Kürbisfeld erreichen, liegt der Bewusstlose noch immer in der Gluthitze. Ein schwerer Mann, Mitte sechzig, aus Kroatien. Seine Körpertemperatur beträgt schon 42,2 Grad, Lebensgefahr. Ein Rettungshubschrauber bringt den Kroaten in die Klinik in Darmstadt, doch er kann nicht mehr gerettet werden. Multiorganversagen. Elf Stunden nach seinem Kollaps ist der Mann tot.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt, aber nur kurz, denn sie findet »keine Verstöße gegen den Arbeitsschutz«. Der Todesfall ist in der Statistik der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau als hitzebedingter tödlicher Arbeitsunfall aufgeführt. Das ist ungewöhnlich, denn sonst werden Hitzetote so gut wie nie statistisch erfasst.

Der Landkreis Groß-Gerau gehört zu den zehn Prozent der deutschen Kreise, in denen es in den vergangenen fünf Jahren die meisten Hitzewarnungen gab. Die Rate der Menschen, die älter als 65 Jahre sind und hitzebedingt ins Krankenhaus eingeliefert werden müssen, liegt dort um 98 Prozent über dem deutschen Durchschnitt.

Dennoch hat der Landkreis drei Jahre nach dem Tod des Kroaten kein Schutzkonzept für Hitzelagen erarbeitet. Es wurde auch keine Person benannt, die für das Krisenmanagement verantwortlich wäre. Als die ZEIT nach bekannten hitzebedingten Todesfällen im Landkreis fragt, schreibt dessen Pressestelle: »Todesfälle durch Hitzeeinwirkung können nie identifiziert werden, es sei denn, es wurde eine Obduktion durchgeführt.« Selbst dann gebe es aber »keine Meldepflicht nach Infektionsschutzgesetz«. Daher könne das Gesundheitsamt keine statistische Auswertung liefern. Weiß die Verwaltung also wirklich nichts von dem Todesfall?

Klar ist nur: Der Landkreis hat Hitze bis heute nicht als überlebenswichtiges politisches Handlungsfeld erkannt. Obwohl Bund und Länder schon seit 2017 empfehlen, den Hitzeschutz so zu organisieren, wie das in anderen Katastrophenfällen vorgesehen ist. Für den Katastrophenschutz sind die Landkreise zuständig.

Groß-Gerau ist keine Ausnahme. Die ZEIT hat im Mai alle 400 Landkreise in Deutschland gefragt, welche Vorkehrungen sie zum Hitzeschutz getroffen haben. Das Ergebnis ist alarmierend. Nur in einem Bruchteil der Behörden scheint überhaupt angekommen zu sein, dass der Schutz gefährdeter Bevölkerungsgruppen vor Hitzewellen zu ihren Aufgaben zählt. Rund 80 Prozent der 299 Landkreise, die auf die Fragen der ZEIT antworteten, haben kein Hitzeschutzkonzept oder einen Hitzeaktionsplan entwickelt – obwohl Bund und Länder ihnen das vor mehr als fünf Jahren nahegelegt hatten. Neunzig Prozent der Verwaltungen, die geantwortet haben, konnten nicht einmal beziffern, wie viele Menschen in ihrer Region an extrem heißen Tagen in Gefahr geraten.

Die Handlungsschwäche zeigt sich nicht nur in den Landkreisen. Auch die Bundesländer selbst halten sich nicht an die eigenen Handlungsempfehlungen. Die ZEIT hat alle Länder dazu befragt. Außer Nordrhein-Westfalen hat kein einziges Land eine zentrale Koordinierungsstelle eingerichtet, wie es 2017 verabredet worden war.

Dabei zeigen Berechnungen des Robert Koch-Instituts (RKI), dass das Problem enorm ist. In den heißen Sommern 2015 und 2018 starben bis zu 2000 Menschen mehr an Hitze als im ganzen Jahr im Straßenverkehr. Während viele Vorschriften die Zahl der Toten auf den Straßen kontinuierlich gesenkt haben, fehlen solche Regeln jedoch im Umgang mit der Hitze. Besonders viele hitzebedingte Sterbefälle sehen die Forscher des RKI in der Altersgruppe über 75 Jahren, insbesondere unter älteren Frauen. Untersuchungen der Weltgesundheitsorganisation bestätigen das.

Doch im Gegensatz zu Verkehrsopfern, die amtlich erfasst werden, haben Hitzetote für die Behörden keine Gesichter und keine Namen. So wird Hitze nicht als Ursache der vielen Sterbefälle erkannt. Es entsteht keine Aufmerksamkeit für das Problem. Also bereitet sich niemand darauf vor. Die Folge sind weitere Tote, die vermieden werden könnten. So wie 2016 in Magdeburg.

In einer Parkanlage war ein Firmenstaffellauf angesetzt, 5000 Freizeitsportlerinnen und -sportler traten auf einer weitgehend asphaltierten 3000-Meter-Runde an – ohne Schatten. Gegen 18.30 Uhr herrschten immer noch Temperaturen von 30 Grad Celsius. Der damalige Oberbürgermeister Lutz Trümper sagte noch kurz vor dem Start: »Ich glaube, dass das eine zusätzliche Belastung ist für viele Läufer. Einige fühlen sich bei Hitze wohl, aber die meisten werden große Schwierigkeiten haben, das heute durchzustehen.«

Seine Prophezeiung trat ein. Kurz vor dem Ziel fiel den Sanitätern ein junger Mann in die Arme. Sie kühlten ihn sofort von außen, brachten ihn rasch in die Uni-Klinik, wo er kühle Infusionen bekam. Trotzdem überlebte der 28-Jährige den Hitzeschock nicht. Die Mediziner fanden später keine unerkannte Vorerkrankung. Der Mann rauchte nicht und war nicht übergewichtig. Er hatte weder Alkohol noch Medikamente eingenommen.

Als die ZEIT nachfragte, ob Magdeburg heute für Sportveranstaltungen an erwartbaren Hitzetagen konkrete Empfehlungen ausgibt, ließ die Stadt die Frage unbeantwortet. Sechs Jahre nach dem tödlichen Lauf gibt es dort keinen Hitzeschutzplan oder auch nur eine verantwortliche Person für Hitzelagen.

Erkannt wurde die tödliche Gefahr der Hitze hierzulande schon vor beinahe zwanzig Jahren. Im August 2003 herrschten vielerorts Rekordtemperaturen, deutschlandweit starben in diesem Sommer laut RKI 9600 Menschen. Forscher berechneten später, dass damals in zwölf betroffenen europäischen Ländern insgesamt rund 70.000 Menschen infolge der Hitze ums Leben kamen. Der Sommer 2003 gehört zu den tödlichsten Naturkatastrophen in Europa der vergangenen hundert Jahre.

Seither beobachten Hitzeforscher das Phänomen in jedem Sommer, mal stärker, mal schwächer ausgeprägt. Es trifft vor allem Alte, aber auch Patienten in Krankenhäusern. So bemerkte der Mediziner und Hitzeforscher Christian Witt an der Charité in Berlin im Sommer 2006, wie die Kranken auf seiner Station unter der Hitze litten. Viele von ihnen warteten auf eine Spenderlunge oder hatten eine Transplantation hinter sich, galten aber als »klinisch stabil«, sagt Witt. Plötzlich jedoch hatte sich der Zustand der Patienten, die abends noch in guter Verfassung schienen, am nächsten Morgen sehr verschlechtert.

Die Zimmer von Witts Station lagen im vierten Stock eines Altbaus. Ab nachmittags knallte die Sonne auf die Hauswand, die Zimmer heizten sich auf bis über 33 Grad. Die Patienten brauchten mehr Sauerstoff als gewöhnlich, noch mehr Medikamente, noch mehr Pflege. Damals, sagt Witt, sei ihm bewusst geworden: Es geht bei der Behandlung um mehr als um Tabletten, Injektionen, Infusionen. Auch die Umwelt spielt eine Rolle. In Berlin war das 2006 vor allem: die Sommerhitze.

Seither hat Witt zu den Folgen des Klimawandels für die Gesundheit geforscht. An der Charité ist sogar eine Arbeitsgruppe zur klinischen Klimafolgenforschung nach ihm benannt. Sein Ärzteteam fragte sich: »Wenn Hitze krank macht, müsste das Gegengift dann nicht Kälte sein?« Witt ließ in einigen Patientenzimmern eine Art Kühltapete an der Wand installieren, die ansprang, sobald die Temperatur in den Räumen über 23 Grad kletterte. »Der Effekt war eindeutig«, sagt Witt. Die Kranken in den kühleren Zimmern wurden schneller mobil. Sie hatten weniger Symptome, fühlten sich weniger krank.

Jedes Jahr geraten mehr Menschen in Gefahr, der Hitze zum Opfer zu fallen. Nicht nur, weil die Zahl der Hitzetage wegen des Klimawandels zunimmt. Sondern auch, weil die Deutschen immer älter werden. Die Bundesregierung rechnet bis zum Ende des Jahrhunderts mit bis zu 8500 zusätzlichen hitzebedingten Todesfällen – jedes Jahr.

Längst ist bekannt, was zu tun wäre. Schon 2008 hat die WHO für Europa einen Plan vorgelegt. Bund und Länder haben sogar reagiert, wenn auch schwerfällig. 2017, also 14 Jahre nach der großen Hitzewelle von 2003, legten das Bundesumweltministerium und die Länder »Handlungsempfehlungen für die Erstellung von Hitzeaktionsplänen zum Schutz der menschlichen Gesundheit« vor.

Auf 30 Seiten beschreiben die Autoren, wie sich die Behörden auf Hitzewellen vorbereiten sollen: Auf Landesebene sei jeweils eine zentrale Koordinierungsstelle notwendig, die Kommunen und Landkreise beim Erstellen von Hitzeschutzplänen unterstützt. Alle Behörden sollten das Warnsystem des DWD nutzen, ebenso Rettungsdienste, Krankenhäuser und Pflegeheime, mobile Pflegedienste, Schulen und Kindergärten. Es sollten Ablaufpläne erstellt werden, wie die Bevölkerung gewarnt wird. Ebenso brauche es Pläne, wie die Temperatur in Innenräumen reduziert werden kann. Außerdem müsse damit gerechnet werden, dass sich Hitze auf die Infrastruktur auswirken kann: Wasser könne knapp werden, der Strom ausfallen, die Kühlkette in der Lebensmittelversorgung gestört werden. Schließlich geben die Autoren Hinweise für eine langfristige Stadtplanung und fordern, umfassend Daten zu Krankheits- und Todesfällen zu erheben, um sich auf künftige Hitzeereignisse besser vorbereiten zu können.

Doch passiert ist so gut wie nichts, kritisiert der Lancet Countdown Policy Brief 2021 harsch.

Die weltweite Forschungsinitiative, die Wechselwirkungen zwischen Gesundheit und Klimawandel beobachtet, wird von Wissenschaftlern der Charité, des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und des Helmholtz-Zentrums München unterstützt. Sie schreiben: »Obwohl es schon seit Jahren Diskussionen und Empfehlungen zu Hitze in Deutschland gibt, verfügen nur wenige Kommunen über umfassende und integrierte Hitzeaktionspläne oder haben Vorliegende umgesetzt.« Und sie fordern, den gesundheitlichen Hitzeschutz gesetzlich zu verankern.

Doch bislang ist niemand verpflichtet, die Hitzewarnungen des DWD abzurufen. Fast jeder fünfte Kreis bekannte auf die Frage der ZEIT, die Warnungen nicht zu erhalten. Die meisten Bundesländer wissen nicht einmal, wie viele Menschen in ihrer Obhut gefährdet sind. Als die ZEIT die Länder dazu befragte, hatte lediglich Nordrhein-Westfalen für 2018 berechnet, dass »6,9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner einer ungünstigen bis sehr ungünstigen thermischen Belastung (Hitze) ausgesetzt waren«. Alle anderen Länder antworteten, solche Daten würden nicht erhoben oder lägen nicht vor.

In der Schweiz gibt es schon eine Bewegung gegen den Hitzetod. Die 2000 Schweizerinnen, alle über 65 Jahre alt, nennen sich Klimaseniorinnen und haben ihre Regierung vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt. Sie werfen der Regierung in Bern vor, das Leben der älteren Bürgerinnen nicht wirksam zu schützen. Der Staat beeinträchtige ihre Bürgerrechte, weil er die besondere Gefährdung durch Hitzewellen nicht anerkenne. Der Gerichtshof hat die Klage angenommen, die Verhandlung soll noch in diesem Sommer stattfinden. Sollte sie im Sinne der Schweizerinnen ausgehen, hätte das auch Auswirkungen hierzulande. Denn die Urteile des Europäischen Gerichts gelten auch in Deutschland.

Eine ausführlichere Version dieses Textes mit aufbereitetem Datenmaterial finden Sie auch bei ZEIT ONLINE

Foto: Stephanie Pilick/dpa

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