Durch die Nacht

Wladimir Putin wollte die Ukraine vernichten und hat sie dadurch erst wahrhaft erschaffen. Eine Reise in den Krieg. Von Navid Kermani

Nachts ist es nirgends in Kiew so dunkel wie am Bahnhof. Das heißt, dunkel ist es in der ganzen Stadt, aber während die Straßen wegen der Ausgangssperre wie verlassen wirken, herrscht vor den Zügen dichtes Gedränge, und spätestens wenn man über ein Gepäckstück stolpert, sticht das fehlende Licht ins Auge, fast wie ein Blitz. Von den Menschen sind nur die Konturen zu erkennen und allenfalls noch die Gesichter, die vom Bildschirm der Smartphones aufschimmern. Warum sprechen sie so leise? Kann man aus der Ferne, wo die Raketen gezündet werden, nicht nur Lichter ausmachen, sondern auch Stimmen hören, oder trübt die Finsternis die Gemüter mit ein? Die Taschenlampe abwechselnd auf den Zug und auf den Bahnsteig gerichtet, suche ich meinen Waggon.

Am Tag wirkt Kiew fast schon wieder wie eine normale Stadt – in der freilich jeden Tag Sonntag ist. Nur einzelne Geschäfte haben geöffnet, gleichwohl sind erstaunlich viele Autos und sogar die ersten Jogger unterwegs. Die Sirenen, die an manchen Tagen gar nicht, dann wieder in kurzen Abständen wimmern, scheinen kaum noch beachtet zu werden, jedenfalls beschleunigt niemand seinen Schritt. Selbst ich habe mich verblüffend schnell an den Luftalarm gewöhnt. Eilte ich in der ersten Nacht noch mit den anderen Gästen in die Lobby meines Hotels in Lemberg, beruhige ich mich seither mit der Unwahrscheinlichkeit, dass die Rakete ausgerechnet neben mir einschlägt. In der Mitte und im Westen des Landes ist das inzwischen so unwahrscheinlich, dass von Tag zu Tag mehr Normalität einkehrt. Am Bahnhof indes wird mir bewusst, dass es der Krieg ist, der in der Ukraine zur Gewohnheit zu werden droht. Es dauert endlos, bis der Zug abfährt, wie überhaupt alle Züge verspätet zu sein scheinen, zwei, drei oder sieben Stunden, ohne dass sich jemand beschwert, Hauptsache, man kommt weg. Wo die Stadt aufhört, wann das flache Land beginnt, ist hinterm Fenster des Schlafwagens nur zu erraten, weil in der Schwärze alles gleich aussieht.

Vorgestern erst liefen wir, meine Begleiterin Katya Lachina und ich, durch Butscha, wo die Zeit für immer in ein Davor und ein Danach geteilt bleiben wird, und das Erste, was überraschte, war, wie schnell man dort ist, dreißig, vierzig Minuten nur, so nah war der Horror an Kiew gerückt. Seit die Massengräber ausgehoben und die Übertragungswagen abgezogen sind, ist selbst in den Trümmern so etwas wie Alltag eingekehrt – der Alltag der Essensausgaben, der Alltag der Aufräumarbeiten, der Alltag, immer weitere Leichen zu begraben. Nicht alle sind durch Kugeln, Geschosse oder Bomben gestorben. Viele Bewohner haben die Besatzung nicht überlebt, weil sie krank wurden, bei Minusgraden Woche um Woche ohne Elektrizität, ohne Heizung, ohne sauberes Wasser, nur mit den eigenen Nahrungsvorräten und der immerwährenden Angst. Andere, besonders Ältere, haben gleich zu Beginn einen Schock erlitten oder einen Herzinfarkt. Und dann waren auch schon vor dem Krieg Menschen gestorben, die in der Leichenhalle lagen, als der Strom ausfiel – was tun? Als es noch möglich war, wurden sie in andere Orte gefahren, wo die Kühlung noch funktionierte, aber welche Leiche wohin, das ließ sich in der Eile kaum ordentlich registrieren. Nun, da die Massengräber wieder zugeschüttet worden sind, werden jeden Tag Leichen nach Butscha zurückgebracht, um sie zu identifizieren. Ein Zettel an der Windschutzscheibe, auf dem »Cargo 200« steht, weist auf die Ladung hin. Es ist das Codewort für den Transport Gefallener, noch aus dem sowjetischen Afghanistan-Krieg.

Die Angehörigen blickten stumm auf zwei Lieferwagen, die Heck an Heck parkten, während die schwarzen, länglichen Plastiksäcke von einer Ladefläche auf die andere gehoben wurden. Weil es regnete, hielten zwei Helfer ihnen Schirme hin, und ein dritter stritt sich mit den ausländischen Fotografen, die sich partout nicht abdrängen ließen. So schwer, bei so vielen Toten noch irgendwie deren Würde zu wahren, und dann kommen auch noch diese Aasgeier hinzu, die meinem eigenen Berufsstand angehören. Nachdem die Säcke für die Identifikation kurz geöffnet worden waren, folgte die Obduktion, die, wie anscheinend alles in diesen Wochen, von Freiwilligen übernommen wird, freiwilligen Ärzten in diesem Fall. In ihren weißen, knittrigen Ganzkörperanzügen rauchten sie vor der Leichenhalle eine Zigarette, bevor sie wieder das Atemschutzgerät übers Gesicht zogen. An der Rückseite des Gebäudes warteten die bereits obduzierten Toten nebeneinander auf eisernen Liegen darauf, endlich begraben zu werden.

Das erste Feld mit 117 anonym verscharrten Leichen wurde hinter der Sankt-Andreas-Kirche gefunden, und so sprachen wir dort den Pater an, der gerade Hilfsgüter in einen Bulli trug. Er heiße Andreas, stellte er sich vor, richtig, genau wie seine Kirche; dem Ausdruck seines Gesichts nach zu schließen, hatten vor mir schon andere die Namensgleichheit bemerkt. Höchstens anderthalb Minuten Zeit habe er, betonte er und legte dennoch den Karton ab, als ich fragte, was der schwerste Moment für seine Gemeinde gewesen sei. Das Schwerste sei nicht der Anblick der Körper gewesen. Das Schwerste für die Angehörigen sei jedes Mal der Anblick des Gesichts gewesen, selbst wenn ihnen lediglich ein Foto gezeigt wurde.

»Und was haben die Angehörigen Sie gefragt?«, wollte ich wissen.

»Sie haben mich gefragt, warum Gott das zugelassen hat.«

»Und was haben Sie geantwortet?«

»Ich habe geantwortet, dass wir nicht Gott verantwortlich machen sollen für das, wofür Menschen verantwortlich sind. Nicht Gott hat getötet, Menschen haben getötet. Nicht Gott hat den Krieg gesegnet, Kyrill hat den Krieg gesegnet.«

»Aber ist Kyrill für die meisten Christen in der Ukraine nicht immer noch ihr Patriarch?«

»Die Ukrainer können nicht mehr anders, als sich von der Russisch-Orthodoxen Kirche zu lösen. Und damit meine ich nicht nur meine, ich meine alle Gemeinden. Es ist ein schmerzlicher Prozess, aber er ist unvermeidlich geworden mit diesem Krieg. Wir müssen an einen Gott glauben, der liebt.«

Pater Andreas harrte während der gesamten Zeit der Besatzung in Butscha aus, wagte sich allerdings selten aus der Kirche. Auch die anderen Bewohner seien in ihren Kellern geblieben und hätten sich von Vorräten ernährt. Den russischen Soldaten seien sie daher zunächst kaum begegnet. Nicht einmal in der Kirche? Nach Gebeten habe den Russen wohl nicht der Sinn gestanden, antwortete der Pater: Wie könne auch jemand beten, der mordet, foltert oder vergewaltigt? Ob denn die Soldaten von Anfang an so brutal gewesen seien, wollte ich wissen. Nein, die eigentlichen Gräuel hätten sich in den letzten ein, zwei Wochen vor dem Abzug zugetragen. Über die Gründe kann der Pater nur mutmaßen: der Frust, so nah vor Kiew wieder umkehren zu müssen, der Alkohol, die Langeweile oder vielleicht doch ein Befehl. Aber ein Brudervolk seien die Russen seither für niemanden hier mehr.

Ein paar Kilometer weiter in Borodjanka blickten wir in einen Krater, der sich zwischen zwei Hochhäusern auftat. Dort hatte ebenfalls ein Hochhaus gestanden, erfuhren wir. Fünfundvierzig Menschen soll es unter sich begraben haben, als eine Rakete einschlug. Der Schutt war bereits abgetragen, dennoch gruben einige Männer weiter in der Erde. Wonach sie suchen, fragten wir. Nach dem Internetkabel, antworteten sie. Es gibt noch keinen Strom, kein fließend Wasser, keine Heizung, aber die Verbindung zur Welt wird bereits wieder gesucht.

Einer der Männer bot uns an, das Gebäude zu zeigen, das den Besatzern als Zentrale gedient habe. Seine eigene Wohnung sei praktisch nebenan. Quer über ein Fußballfeld führte er uns zu einem Spielplatz, dessen Geräte ebenso aus sowjetischer Zeit zu stammen schienen wie die Plattenbauten ringsum. Dort wies er auf einen Schuppen, in dem die männlichen Bewohner verhört worden seien. Ja, auch er habe sich hinknien müssen und sei mit einem Gewehr vor der Stirn gefragt worden, wer von den Nachbarn zu den Banderisten gehöre. Nach dem nationalistischen Politiker Stepan Bandera nennen russische Medien die vermeintlichen Nazis so, von denen die Ukraine befreit werden müsse. Viele Männer seien auch misshandelt worden, er zum Glück nicht. Er kenne keine Banderisten, habe er beteuert. Den Erschossenen haben die Soldaten offenbar nicht geglaubt.

»Was denken Sie heute über die Russen«, fragte ich: »Glauben Sie, Sie können irgendwann wieder in Frieden mit ihnen leben?«

»Ich selbst bin doch praktisch ein Russe«, antwortete der Mann: »Meine Vorfahren kommen fast alle daher, ich spreche die gleiche Sprache, das waren Leute wie wir.«

Zurück in Kiew, fragte ich den Religionswissenschaftler Ihor Koslowski, ob die Nähe von Russen und Ukrainern gar eine Ursache des Konflikts sei, wie in so vielen Kriegen auf der Welt. Koslowski, einer der angesehensten Gelehrten des Landes, stammt aus Donezk und wurde dort zwei Jahre von prorussischen Separatisten festgehalten und misshandelt, bevor er Ende 2017 bei einem Gefangenenaustausch freikam. Nähe sei relativ, antwortete Koslowski: Je näher man trete, desto mehr Unterschiede fielen einem auf. Dann setzte er zu einer halbstündigen Vorlesung über das verwickelte und spannungsreiche Beziehungsgeflecht der beiden Völker an.

»Und wird das nun, also der Krieg, der Bruch sein?«

»Ja, das wird der Bruch sein, ein völliger Abbruch. Selbst Familien brechen derzeit in großer Zahl auseinander.«

Davon haben mir viele Ukrainer berichtet: von dem Entsetzen, wenn sie während der Bombenangriffe mit Verwandten in Russland telefonierten. Es gebe keine Raketen, hätten sie zu hören bekommen, oder wenn es Raketen gebe, dann seien es ukrainische, oder wenn es doch russische Raketen seien, dann nur, um die Ukrainer von den Nazis zu befreien. Und so weiter. Man rufe danach nicht mehr gern in Russland an, und wenn, rede man nur oberflächliches Zeug.

»Es geht bei diesem Krieg nicht um Herkunft«, sagte Koslowski: »Es geht auch nicht um Territorium, um Sprache. Es geht um Werte. Wir wollen nicht so leben wie sie. Wir wollen keinen Präsidenten, der immer der Gleiche ist. Die Ukraine ist ein europäisches Land, das immer auch nach Westen orientiert war, viel stärker als Russland. Wir wollen wieder zu Europa gehören.«

Ich fragte, ob die Ukraine nicht einen wichtigen Teil der eigenen Geschichte, der eigenen Identität verleugne, wenn sie sich von Russland abwende, die Beziehungen zur russischen Geisteswelt abbreche und die russische Zivilisation ausschließlich als etwas Fremdes und Hegemoniales behandele. Schließlich führe jedweder Nationalismus letztendlich zu Ignoranz gegenüber der eigenen Kultur, die niemals rein sei, unvermischt. Das stimme, antwortete Koslowski, aber jetzt sei eben die Zeit, sich des Eigenen bewusst zu werden, die Zeit der Unterscheidung und Abgrenzung. Immer mehr Menschen begönnen, im Alltag Ukrainisch zu sprechen statt Russisch, und selbst die Russisch-Orthodoxe Kirche in der Ukraine schließe den Moskauer Patriarchen nach über tausend Jahren nicht mehr ins Gebet ein. Wladimir Putin habe die Ukraine auslöschen wollen; stattdessen habe er, überspitzt gesagt, die Ukraine erst erschaffen. Kein anderes Ereignis habe so sehr zur Nationsbildung beigetragen wie dieser Krieg.

Anderntags fuhren wir nach Tschernihiw, der Großstadt nördlich von Kiew, die fünf Wochen lang belagert wurde. Weil die meisten Brücken vor dem Einmarsch der Russen gesprengt worden sind und man außerdem zahlreiche Checkpoints passieren muss, braucht man für die 150 Kilometer vier bis fünf Stunden. Dabei kommt man durch die Dörfer, die unter russischer Besatzung standen, durch Ruinenlandschaften und an verlassenen Höfen vorbei. Auch wenn wir nichts von Gewaltexzessen wie in Butscha hörten, steckten die 45 Tage, die sie größtenteils im Keller verbracht hatten, noch allen in den Knochen, die wir entlang des Weges ansprachen.

Manche berichteten von Plünderungen, und eine Greisin schimpfte, die Russen seien schlimmer als die Deutschen, die nach Lebensmitteln immerhin gefragt hätten. Ob es noch Bewohner gibt, die hier, so nah an der Grenze zu Russland und Belarus, sich weiterhin der russischen Hemisphäre zugehörig fühlen? Bestimmt gebe es die, sagte ein Priester, der für den Moskauer Patriarchen nur Verachtung übrighatte: Aber selbst sie merkten, dass gerade kein günstiger Moment sei, Verbundenheit mit Russland zu bekunden. Wie viele in seiner Gemeinde sich selbst jetzt noch gegen den Anschluss an die Orthodoxe Kirche der Ukraine sperrten, könne er daher schwer einschätzen, vielleicht 20 Prozent, vielleicht 30.

»Gar nicht so wenige«, sagte ich.

»Ja, aber die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche ist auch erst 30 Jahre alt. Das ist so gut wie nichts.«

Beinahe in allen Dörfern trafen wir auf Kombis, Transporter oder Lastwagen, vor denen Lebensmittel, Kleidung und andere Dinge des täglichen Bedarfs verteilt wurden. Soweit ich es in Erfahrung brachte, waren sie sämtlich von privaten Initiativen bestückt und entsandt worden, hier ein Nachbarschaftstreff, dort ein Biathlonverein oder die Pfadfinder. Als ich 2016 erstmals die Ukraine bereiste, hatte ich keineswegs den Eindruck, dass der Krieg im Donbass sonderlich interessierte. Viele der ukrainischen Kämpfer dort fühlten sich nicht nur vom eigenen Staat verraten, sondern auch von der Gesellschaft vergessen. Die miserable Ausstattung, die maroden Waffen, die dürftige Bezahlung – es bedurfte schon eines gewaltigen Patriotismus, dennoch sein Leben in den Schützengräben zu riskieren. Nun haben sich nicht nur Hunderttausende Männer freiwillig für den Krieg gemeldet, nein, das gesamte Land scheint in die Verteilung der Hilfsgüter involviert zu sein, und das deutet vielleicht auf den eigentlichen Grund, warum Russland so mühsam vorankommt in diesem Krieg: Auf der einen Seite kämpft eine Armee, auf der anderen ein Volk.

Bezeichnenderweise höre ich über Wolodymyr Selenskyj, den ukrainischen Präsidenten, der im Westen als Held gefeiert wird, in meinen Gesprächen so gut wie nichts. Nicht dass er sonderlich kritisiert würde; eher wirkt es so, als verstehe sich die Statur von selbst, die er seit Ausbruch des Krieges gewonnen hat, schließlich wächst gerade die Gesellschaft als Ganzes über sich hinaus. Nicht einmal Selenskyjs russisch-jüdische Herkunft scheint irgendwen positiv oder negativ zu interessieren.

»Ich gebe Ihnen nicht die Auskunft, die Sie hören wollen«, sagte mir in Kiew ein ums andere Mal der Psychiater Semen Hlusman, den ich nach Selenskyjs Judentum fragte. Natürlich war ihm bewusst, warum sich die Frage für einen Besucher aus Deutschland stellt. Hlusman ist selbst Jude, hat als Dissident in der Sowjetunion erst sieben Jahre im Arbeitslager, dann drei in der sibirischen Verbannung verbracht und sich in der Ukraine bisher noch gegen jede Regierung gewandt. Ja, Selenskyj habe er gewählt, gesteht er ein, aber eigentlich nur, um dessen Vorgänger abzuwählen, und er habe es bereut, als er sah, mit welchen Leuten sich der neue Präsident umgibt; nein, wiederwählen werde er ihn bestimmt nicht.

»Aber ist es 77 Jahre nach der Schoah nicht doch von irgendeiner Bedeutung, dass das Land, das heute wie kein anderes um Europa kämpft, von einem Juden angeführt wird?«

»Ich gebe Ihnen nicht die Auskunft, die Sie hören wollen«, wiederholte Hlusman.

Vielleicht ist ebendies die Auskunft in einem europäischen Land: dass die Religion des Präsidenten keine Rolle spielt.

Nahe Tschernihiw erreichten wir eine Straße, in der sich die ukrainischen und die russischen Streitkräfte Auge in Auge gegenübergestanden hatten. Die Frontlinie war an einer Erdaufschüttung zu erkennen, über die man nur zu Fuß steigen konnte. Aber auch wenn die Straße wieder frei ist, wird noch lange sichtbar sein, bis wohin die Russen vorgedrungen waren, denn dort sind die Häuser unversehrt. Wen hat es wohl ärger getroffen? Diesseits der Linie waren die Geschosse auf die Bewohner herabgeregnet, jenseits hatten die Besatzer geherrscht. Ich fragte herum, aber niemand mochte entscheiden, ob Frieden wichtiger ist oder Freiheit, um es ebenfalls einmal überspitzt zu formulieren. Vor einem Gemeindezentrum sah ich ein Beet, in dem etwas spross. Ich nahm an, dass es Kartoffeln oder etwas Ähnliches seien, weil die Äcker wegen der Minen brachliegen und noch auf lange Zeit kein Laden öffnen wird. Nein, das sind Blumen, sagte eine Frau, die neben mir stand.

In Tschernihiw selbst waren wir überrascht, dass das Zentrum weitgehend intakt geblieben ist und sogar gepflegt wirkt. Vielfach hatte ich gehört, dass die Stadt zu 70 Prozent zerstört sei, so wurde es mir in Kiew und Lemberg erzählt. Tatsächlich sind nur einzelne Gebäude beschädigt, hier ein Hotel, dort eine Behörde. Darauf angesprochen, sagte mir in Kiew der Philosoph Anton Drobowitsch, dass das Land sich keinen Gefallen damit tue, die Schäden zu übertreiben, obschon das in der alles andere als stillen Post der sozialen Medien wahrscheinlich unvermeidbar ist. Die realen Zerstörungen seien verheerend genug. Drobowitsch ist Leiter des staatlichen Instituts für Nationale Erinnerung und traf sich mit mir nicht in seinem Büro, sondern auf einer Parkbank in der Nähe seiner Kaserne. Auch er hatte sich als Freiwilliger gemeldet und trug eine einfache Soldatenuniform, was ein bisschen kurios aussah, weil er in seinen Worten, Blicken und Gesten der stille, behutsam abwägende Büchermensch geblieben war. Gerade würden sie Gräben rund um Kiew ausheben für den Fall, dass die Russen noch einmal auf die Hauptstadt vorrückten.

»Genozid« etwa, so fuhr Drobowitsch fort, sei ein klar umrissener juristischer Begriff, den man nicht vorschnell verwenden dürfe, sonst entwerte man ihn. Es gebe zahlreiche Kriegsverbrechen, die bereits jetzt ausreichend dokumentiert seien, aber ob Russland tatsächlich einen Völkermord an den Ukrainern begehe, dafür brauche man Beweise, die von einer unabhängigen Instanz geprüft werden müssten, und man brauche Sorgfalt und Zeit, sonst tue man es Putin nach, der wahllos mit dem Begriff um sich werfe. Gleich wie groß das Leid sei und wie verständlich der Zorn – eben dafür kämpften die Ukrainer doch, dass Recht herrsche und keine Willkür. Also müssten sie gerade auch in der Anklage präzise sein.

Während ich im Nachtzug Richtung Westen fahre, mehren sich die Anzeichen und Ankündigungen, dass im Osten eine russische Großoffensive bevorsteht. Werden die feindlichen Truppen zurückgeschlagen, oder setzen sie sich im gesamten Donbass, entlang des Schwarzen Meeres, gar bis nach Moldawien fest? Davon, so heißt es in den Analysen, hänge der weitere Verlauf des Konflikts entscheidend ab. So oder so deutet vieles auf einen langen Stellungskrieg hin, der einen Teil des Landes vom anderen abtrennen wird. Wird der Zusammenhalt dann bestehen bleiben, der hohe Grad an Mobilisierung, die beeindruckende Solidarität? Der Mensch sehnt sich so sehr nach Normalität.

Mit den üblichen paar Stunden Verspätung in Lemberg eingetroffen, staune ich, wie viel Leben in diese wunderschöne Stadt zurückgekehrt ist. Waren vor ein paar Tagen noch viele Geschäfte geschlossen, ist die Fußgängerzone nun voller Menschen, und es konkurrieren bereits die Gaukler und Musikanten wieder um Aufmerksamkeit und Geld. Das endlich etwas wärmere Wetter und ein paar Sonnenstrahlen tun ihr Übriges, damit der Krieg noch ein bisschen weiter in die Ferne rückt.

In einem Café treffe ich Olga Pikula, 39 Jahre alt, aus Mariupol. »Ich bin jetzt überhaupt nicht der Bergsteigertyp oder so«, erklärt sie, und das nimmt man ihr sofort ab, so elegant, wie sie gekleidet ist – und so zierlich ihre Statur. Während der Belagerung lernte sie, Holz zu sammeln und auf offenem Feuer zu kochen; sie lernte, Eis zu hacken, um es zu schmelzen; sie lernte, im Garten etwas Essbares zu finden und die Bettdecke bei minus acht Grad zu wärmen, damit sie während des Schlafes nicht erfriert. Sie lernte, ihre Angst zu überwinden, wenn sie Wasser holte, wegen der dauernden Geschosse im Sprint von Hauseingang zu Hauseingang. Sie lernte, durchzuhalten, wenn sie die zwei Sechs-Liter-Kanister drei Kilometer weit nach Hause trug, ihrem Bizeps sehe man es immer noch an. Sie lernte, sich zu überraschen, als sie während einer kurzen Feuerpause am 15. März ihren Mann überzeugte, sofort mit dem Auto zu fliehen. Auf der Landstraße traf ein Geschoss das Auto, das direkt vor ihnen fuhr, auf der Rückbank ein Kind.

Olga ist Geschäftsfrau, besaß in Mariupol mehrere private Bildungszentren, engagierte sich im Kommunalparlament, spricht fließend Englisch und ist weit gereist. Sie wollte mit Freunden in den Karpaten Ski fahren, doch dann verschob sich der Urlaub um eine Woche, und plötzlich fing der Krieg an. Drei Wochen lebte sie auf einem anderen Stern.

»Ich habe noch etwas gelernt«, sagt sie. »Ich habe zu hassen gelernt. Ich wusste vorher überhaupt nicht, was das ist. Das ist das Schrecklichste, dass ich jetzt weiß, was Hass ist. Ich hasse Russland, jeder hasst Russland, der das erlebt hat.«

»Und hast du noch mehr gelernt?«

»Ja, ich habe gelernt, wie sich die Menschen 2015 in Aleppo gefühlt haben müssen. Ehrlich gesagt, hat mich das damals überhaupt nicht interessiert. Ich habe gelernt, wie sich Menschen in Afrika fühlen, die hungern, die Angst haben, die nicht wissen, ob sie den nächsten Morgen sehen. Ich fühle jetzt physisch mit ihnen. Ich glaube, das war die wichtigste Lektion.«

Auf die Frage, ob sie sich eine Rückkehr nach Mariupol vorstellen könne, fragt Olga zurück: »Welches Mariupol?« Dann holt sie ihr Smartphone hervor und zeigt ein Video, das offenbar mit einer Drohne aufgenommen worden ist. Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie man die Zerstörung noch übertreiben könnte, die auf den Bildern zu sehen ist. Nein, vorläufig bleibe sie in Lwiw oder ziehe nach Kiew, das wisse sie noch nicht, sagt Olga. Jedenfalls wolle sie ihre Sprach- und Fortbildungskurse wieder starten, online dann eben, und hoffe auf einen Kredit. Für die Zukunft allerdings habe sie einen sehr konkreten Traum. Vor dem Krieg habe sie einmal Straßburg besucht, und sie wolle eines Tages dorthin zurückkehren, um am World Forum for Democracy zu arbeiten, das am Europarat angesiedelt ist, der gesamteuropäischen Menschenrechtsorganisation. Zu Europa gehört es auch, sich mit Feinden zu versöhnen. Menschen wie Olga Pikula, die physisch mit den Elendsten fühlen, aber auch gelernt haben, was Hass ist, könnten einmal unsere Lehrer sein.

Foto: Robin Hinsch

Der Fotograf Robin Hinsch bereist seit 2010 jedes Jahr die Ukraine. In diesem Jahr war er drei Wochen im Land. Ab dem 24. Mai werden seine Arbeiten im Rahmen der Phototriennale Hamburg zu sehen sein. Das Bild links zeigt den Zug von Lemberg nach Kiew

Foto: Robin Hinsch

Szenen eines Krieges: Im Luftschutzbunker des Bahnhofs von Lemberg (oben links);ein Freiwilliger in Starytschi hebt ein Grab aus (r.);Schrapnell irgendwo in einem Zaun in Kiew (u.)

Foto: Robin Hinsch Foto: Robin Hinsch Foto: Simone Karl

Fortsetzung auf S. 52

Durch die Nacht Fortsetzung von S. 51

Navid Kermani

Der Schriftsteller und ZEIT-Autor Navid Kermani lebt in Köln. Von seinem ersten Ukraine-Aufenthalt hat er erzählt in »Entlang den Gräben. Eine Reise durch das östliche Europa bis nach Isfahan« (C. H. Beck 2018). In diesem Frühjahr ist von ihm im Carl Hanser Verlag »Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott« erschienen

Foto: Imago