Ist der Rassismus etwa unüberwindbar?

Laut der Theorie des Postkolonialismus ist der Westen moralisch nicht zu retten: Denn zwangsläufig grenze er Menschen aus. Diese Idee hat jedoch unheilvolle Konsequenzen  VON THOMAS E. SCHMIDT

Eine neue Linke geht um in der Welt. Die alte Linke möchte sie gern an die Hand nehmen, aber dieses Angebot wird ausgeschlagen. Die neue Linke schweift gedanklich im Weltmaßstab, sie kämpft nicht länger für die Proletarier der Länder und auch nicht zuvörderst für mehr materielle Gleichheit. Der Abgrund, vor dem sie sich aufgestellt hat, reicht in ihren Augen tiefer als die Kluft zwischen Kapital und Arbeit. Jener Abgrund ist noch ursprünglicher, und deswegen teilt er bis heute unser globales Zusammenleben stärker als alle anderen Differenzen.

Im 17. und 18. Jahrhundert erfanden weiße Männer in Europa diese fundamentale Unterscheidung und wandten sie sofort an: Sie erklärten sich als schlechthin überlegen gegenüber allen, die anders als sie waren, allen gegenüber, deren Haut dunkler, also »schwarz« war. Nur die Berufenen, die Weißen, sollten die Dinge ordnen – und die Dinge sollten ihnen auch gehören. Gläubig und gierig, ehrgeizig und reich, vor allem vernünftig, im Besitz von hochseetauglichen Seglern und Kanonen, leiteten die weißen Europäer aus ihrem Überlegenheitsbewusstsein die Mission ab, den Erdball zu erobern. Das taten sie.

»Whiteness« sei seither die schwärende weltgeschichtliche Wunde, so die neue Linke. Es sei eine Idee, die sich in der Welt verbreitet habe, allseitig geltende Norm von Geschichte und also des ausgrenzenden sozialen Lebens überhaupt. »Weiß« in diesem Sinn ist die Lebensform des sozialen Unterschiedes, des Eigentums, des Verschlingens natürlicher Ressourcen und der männlichen Gewalt. Es ist die Lizenz zur Unterwerfung, zur Verwandlung der Welt in Kolonien.

Nichts habe sich daran geändert. Whiteness korrumpiere die Länder bis heute, inzwischen sogar den weißen Westen selbst. Demgegenüber wirke nur sie, die neue Linke, als einzige Kraft wirklich dekolonisierend. Ihr Kampf sei radikal und mehr als Widerstand gegen die alltäglichen Pöbeleien. Linke Parteien und Sozialdemokratien? Bloß Organisationen, die im kleineren Maßstab für die Vorrechte der Weißen tätig sind. Die ökologische Bewegung? Ein Spielplatz für weiße Mittelklasse-Kids. Das Weltbild der neuen Linken unterscheidet scharf zwischen Gut und Böse, es ist manichäisch, und wenn man es ernst nimmt, ist es die weltgeschichtliche Gegenmission.

So global sein Anspruch sein mag, so entschieden muss dieses Denken sich gegen eine Vorstellung von der Menschheit als einer in sich gleichen Gemeinschaft wenden. Der Gedanke, alle seien im Prinzip gleichartig, ist nach postkolonialistischer Auffassung ein weißer Gedanke, weil er darüber entscheidet, wer »alle« sind – und die auch noch seiner Regel unterwirft. Das Universale ist abstrakt, weil die Wirklichkeit stets von weißen Interessen dominiert bleibt. So ist auch der Menschenrechtskatalog eine Strategie der Beherrschung, weil er als Rechte definiert, was allen zukommen soll, und damit das Universale der Obhut des Staates unterstellt.

Und dieser Staat wiederum verdankt sich schon im Entstehen einer Aufteilung und Ausgrenzung von Menschen, versucht das aber zu kaschieren. Ethik bleibt so gesehen immer Ideologie, sie verändert am allgegenwärtigen Rassismus nichts, genauso wenig wie kritische Praktiken daran etwas verändern, die sich auf universale Normen berufen. Für den wohlmeinenden Liberalismus des kulturellen Westens stellt das eine Kränkung dar. Er dachte, er wisse und könne es besser.

An dieser Stelle kommt die kleine, große Bundesrepublik ins postkoloniale Spiel hinein, denn von Deutschland ging der Holocaust aus, der auf minutiös geplante Auslöschung einer Minderheit abzielende Exzess des Rassismus. Nach dem Krieg brach die Bundesrepublik auf den langen Weg nach Westen auf, und als sie dort angekommen war, erzählte sie stolz von dieser Art der Selbstaufklärung. Der Menschenrechtsuniversalismus hatte die deutsche Gesellschaft erreicht und inspirierte sogar das Staatshandeln.

Doch was, wenn »der Westen« nichts weiter als eine Etappe des Rassismus ist? In den vergangenen Wochen übte der australische Historiker A. Dirk Moses an der viel gerühmten deutschen Erinnerungskultur nachdrückliche Kritik: Sie habe zwar das Land verändert und viel zur Aufklärung der Taten beigetragen, doch mittlerweile habe sie sich in eine staatlich überwachte Doktrin fortentwickelt. Die legitimiere heute einen Rassismus woanders, aber auch im kulturellen Raum des Westens: Sie stütze die israelische Politik gegenüber den Palästinensern.

Eine solche Kritik wirkt auf viele Deutsche irritierend. Die meisten sind für Israel, aber gegen die dortige Behandlung der Palästinenser. Andererseits: Israel deswegen zu verdammen, ist das antirassistisch, antizionistisch, antijüdisch oder sogar antisemitisch? Es ist ohnehin fraglich geworden, ob der in Deutschland gebräuchliche Begriff von Antisemitismus, der immer die ethnische Herabsetzung meint, noch tauglich ist, auf die Konfliktlage in Israel zu reagieren. Wenn die deutsche Erinnerungskultur allerdings insgesamt Murks sein sollte, sind solche Rücksichtnahmen und Unterscheidungen hinfällig. Dann kennt die Feindseligkeit gegenüber Israel keine von der historischen Erinnerung gezogenen Grenzen mehr. In Deutschland fordern bis jetzt nur Rechtsextreme, dass Israel von der Landkarte verschwinden solle.

Die von Moses und anderen Historiker-Aktivisten angestoßene Debatte steuert genau auf diesen beunruhigenden, ja geradezu unerwähnbaren Punkt zu. Folglich hat sie sich erst einmal einen Ausweichort gesucht, spielt sich quasi am akademisch verschobenen Schauplatz ab: Sie kreist derzeit noch um die Frage nach der Singularität des Holocausts. Die deutsche Historikerzunft hält daran fest, der Judenmord sei singulär gewesen, während Moses zu Recht darauf hinweist, dass eine humanistische Kritik an Kolonialregimen in der Vergangenheit einen jeden Genozid als einzigartig brandmarkte, Singularität sei ein Topos. Entsprechend verfahre ja auch die historische Forschung seit je vergleichend und ordne die Schoah in die Geschichte der Menschheitsverbrechen ein.

Die wirkliche Frage hinter dieser Kontroverse ist aber nicht, ob der Holocaust im Kern historisch unvergleichlich ist, sondern ob er als Geschichtszeichen eine soziale Funktion behält. Ob aus dem Andenken an ihn weiter praktische Normen hervorgehen sollen oder nicht. Die dekolonisierende Kritik spaltet ein bundesrepublikanisches Modul auf: dass die geschichtliche Tatsache der Schoah fest mit einer Praxis, das heißt mit der gesellschaftlichen und staatlichen Verantwortung gegenüber dem jüdischen Staat liiert ist. Die Lostrennung ist eine politische, und die Kritik an ihr kann kein Gelehrtendiskurs mehr sein.

Um den hier an deutschen Belangen sich festbeißenden Aktivismus besser zu verstehen, hilft vielleicht ein Rückblick auf eine Tagung, die vorvergangene Woche im Haus der Kulturen der Welt in Berlin unter dem Titel »The White West« stattfand. Bestritten wurde sie von Avantgardisten der Postcolonial Studies und der Critical Race Theory, die nun fragten: »Whose Universal?«, also voraussetzten, dass der Universalismus jemandem gehöre, der mit ihm seine Ziele verfolgt. Norman Ajari und Nikhil Pal Singh aus den USA, Françoise Vergès aus Paris sowie A. Dirk Moses stimmten in einer historischen Modernetheorie überein, welche westliche Institutionen auf rassistische Gründungsakte zurückführte, ausgehend vom rationalen, autonomen Besitzbürger, den John Locke idealisierte und dessen kolonialer Impuls von Immanuel Kant ethisch veredelt wurde.

Danach erfolgte die ursprüngliche Einschreibung von whiteness in den Weltenlauf mit schicksalhafter Notwendigkeit, und alle aufgeklärten Universalisierungsideen dienen bis zum heutigen Tag nicht etwa der Revision erkannter Begrenztheiten im westlichen Selbstverständnis – das können sie gar nicht –, sondern der fortgesetzten Begründung und Verallgemeinerung weißer Herrschaft. Françoise Vergès meinte: »Der postuniversale Moment wäre jener der Humanität«, was heißt, die westliche Kultur bleibt notgedrungen inhuman, und sie kann sich nicht substanziell korrigieren. Was weiter heißt: Nichts ist vergangen und darf mit historischer Milde betrachtet werden. Whiteness ist immer es selbst und immer gegenwärtig. Und dieser Kampf gegen die Moderne stellt eine jede woke Kämpferin und einen jeden woken Kämpfer heute in die akute Entscheidungssituation, in eine zugespitzte Gegenwart, die ein sofortiges Handeln erforderlich macht.

In den Augen der neuen Linken ruft das die westliche Staatlichkeit auf den Plan. Der Staat macht dagegen mobil, denn die dekolonisierende Aktivität gefährdet seine Geschichtserzählung. Gerade weil er sich als liberal verstand, wurde er zum Gehäuse, in dem humane und rassistische Diskurse gleichermaßen zirkulieren. Er kann sich in jede Richtung bewegen. Der Faschismus ist dann nur eine extreme Form staatlicher Herrschaft, eine Gradbestimmung, aber keine Ausnahme, und der Holocaust erscheint als Exempel in einer Abfolge kolonialer Genozide, deren Zeit keineswegs vorüber ist, sondern weiterhin Schrecknisse produziert, und sei es in milderer Form. So gesehen ereignet sich der aktuelle Ernstfall von whiteness in Israel.

Selbstverständlich wurde das in Berlin mit keinem Wort erwähnt. Doch geht es immer um Israel und die antiisraelische Bewegung Boycott, Divestment and Sanctions. BDS ist der weiße Elefant in diesem Diskursraum. BDS ist die Lizenz, sich ideenpolitisch mit der Sache der Palästinenser zu solidarisieren, und zwar in einem Rahmen, den die palästinensischen Kampforganisationen gezogen haben. Dieser Rahmen eröffnet die Möglichkeit, die Kritik an der israelischen Politik mit einer Infragestellung des Staates Israel zu verschleifen, sie vielleicht auch nur in Kauf zu nehmen. Und dies ist nur im Zusammenhang mit einer postkolonialistischen Argumentation möglich: Die jüdische Landnahme stellt dann den letzten großen Fall in der modernen Geschichte der Kolonisierung dar, Israel die derzeit skandalöseste Gestalt westlicher Nationalstaatlichkeit im »rassistischen Jahrhundert« (Moses). Originär ist dann nicht die Schoah, sondern die Gründung des Judenstaates.

Dazu passt, wenn Moses zur Überzeugung gelangt, die deutsche Debatte werde autoritär geführt, die deutsche Erinnerungskultur sei nichts anderes als eine »Staatsideologie« – wofür er allerdings nur den Bundestagsbeschluss zu BDS anführt und die relative Kühle, mit der seine Thesen derzeit aufgenommen werden. Es macht den Eindruck, als suche Moses nach Indizien, dass sich dahinter das Versprechen auf »permanente Sicherheit« verbirgt, das er in seinem Buch The Problems o f Genocide (2021) als charakteristisch für die Politik westlicher Nationen anführte: Die Politik der permanenten Sicherheit rechtfertige jede Form des Ausschlusses und der rassistischen Marginalisierung. So wird auch er seiner Wahrnehmung nach ausgeschlossen und marginalisiert, und sein Kontrahent muss der deutsche Staat sein. (Der währenddessen ganz freundlich zu ihm ist, wurde die Berliner Tagung immerhin aus den Etats des Bundeskanzleramtes und des Auswärtigen Amtes finanziert.)

Es kann aber sein, dass die deutsche Erinnerungskultur gar kein gouvernementales, sondern ein gesellschaftliches Phänomen darstellt. Das macht einen Unterschied. Das Erinnern wird von der Bevölkerung getragen und ist keineswegs indoktriniert, auch wenn die deutsche Rechte gleichfalls von »Staatsideologie« spricht. Mag es als eine nationale Erzählung begrenzt sein, mag es sich auf Menschlichkeit und »westliche« Menschenrechte berufen, so lässt sich eine politische Verpflichtung gegenüber dem israelischen Staat sehr wohl aus ihm ableiten, insofern ein solcher das Leben von Juden garantiert.

Für diese Ableitung bildet das unzweifelhafte historische Ereignis der Schoah die Voraussetzung, nicht eine in der wissenschaftlichen Community bestehende Übereinkunft über deren Singularität. Für die politische und gesellschaftliche Verpflichtung gegenüber Israel ist entscheidend, dass sie sich kognitiv und normativ begründen und rechtfertigen lässt. Eine spezifische Begründungsfigur oder eine exklusive Theorie setzt das nicht voraus. Die postkoloniale Theoriebildung kann den faktischen gesellschaftlichen Konsens nicht delegitimieren, denn ein solcher hat mit geltenden kollektiven Überzeugungen und langfristigem Regierungshandeln zu tun.

Eine ehrgeizige Theorie wird nicht schon durch Selbstzuschreibung politisch. Es liegt an den inneren Zwängen der postkolonialen Konstruktion der Moderne, dass nationalstaatliche Narrative per se für skandalös erklärt werden müssen, ungeachtet der zivilisatorischen Standards, die in ihnen erreicht sind. Um überall denselben Rassismus zu diagnostizieren, muss man allerdings einen über- oder antipolitischen Standpunkt einnehmen. Und mag der deutsche Konsens nur faktisch sein, so ist er deswegen nicht willkürlich oder zweitrangig, sondern vermag sich mit Gründen auszuweisen, sogar per Geschichtsschreibung.

Die Dringlichkeit, mit welcher die dekolonisierende Theorie fordert, den Diskurs auszuwechseln, wirkt nicht sonderlich überzeugend. Ihr post- oder transpolitischer Charakter will zu ihrem politischen Furor nicht passen. Es bleibt auch unbestimmt, welche Kräfte im Weltmaßstab tatsächlich dekolonisierend wirken sollten, wenn es die Staaten nicht können und angeblich nicht wollen. Keine globale Massenbewegung ist in Sicht, keine Parteien, die sich vorbehaltlos der neuen Linken verschreiben und ihr Geschichtsbild übernehmen.

Bis dahin müssen die Auswechslungen von Denkmälern und Straßennamen als große Siege gefeiert werden und als Zeichen eines Aufbruchs. Doch wohin genau aufbrechen? So verurteilt sich die Critical Race Theory selbst dazu, symbolisch zu bleiben, das Fanal im Stadtbild und auf Twitter.

Foto: imago

Kampf um Symbole: Schon 2008 gab es in Brüssel eine Aktion am Denkmal des belgischen Königs Leopold II. gegen dessen koloniale Verbrechen