RECHTSPOPULISMUS

Nichts ist verloren

Bei den Wahlen im Herbst 2024 steht die Demokratie auf dem Spiel. Es wäre aber keine gute Idee, die erste Hälfte des Jahres damit zu verbringen, sich vor der zweiten zu fürchten. Von Bernd Ulrich

Reden wir über das kleine Heldentum, über jenen Moment, da die meisten von uns sich vorgenommen haben: Wenn es ernst wird, dann werde ich für die Demokratie kämpfen. Das mag im Geschichtsunterricht passiert sein, als Weimar dran war, bei der Lektüre von Als Hitler das rosa Kaninchen stahl oder auch erst, als die AfD in den Bundestag einzog. Vielleicht war es ein flüchtiger Gedanke, vielleicht ein Schwur. Jedenfalls war es ein Heldentum im Konjunktiv, dessen Anwendungsfall nie zu kommen schien.

Bis jetzt.

Spätestens in diesem Jahr steht die Frage im Raum, ob der Ernstfall der Demokratie nicht längst da ist. Dabei geht es um den Angriff von außen, um die andauernde russische Aggression, die den Zusammenhalt westlicher Demokratien austesten soll. Aber nicht nur. Nein, diese Demokratien wackeln auch von innen her, was sich 2024 in vielen Wahlen manifestieren wird: Es geht los mit der Europawahl Anfang Juni, gefolgt von den heiklen September-Wahlen in drei ostdeutschen Ländern, um in den schicksalhaften US-Wahlen Anfang November zu kulminieren.

Wobei: Kann es denn wirklich sein, dass hier das Große Ganze bedroht ist, wenn man selbst so liberal ist wie immer und man quasi umzingelt ist von lieben Freunden und netten Kollegen, die niemals AfD wählen würden?

Ja, doch. Denn bei all den kommenden Wahlen ist, Stand heute, mit Zugewinnen der Rechtspopulisten zu rechnen. Und die drohen – anders als es im Drehbuch für besorgte Demokraten steht – keineswegs, weil sich Donald Trump oder Björn Höcke der politischen Mitte angenähert hätten, ganz im Gegenteil: Die Wahlchancen der US-Republikaner und der AfD steigen, während oder weil sie sich weiter radikalisieren. Dazu gehört, dass sie ihre Macht nutzen wollen, um den demokratischen Rechtsstaat so umzubauen, dass sie ihren politischen Gegnern den Garaus machen können. Zwischen Juni und November stehen nicht nur Parteien und Präsidentschaftskandidaten zur Abstimmung, sondern ein wenig auch die Demokratie selbst. Ist der Ernstfall also gekommen, und damit auch der Ausnahmezustand der eigenen Biografie? Wird der einst im Schutz des Konjunktivs abgelegte Schwur fällig?

Zumindest kann man die Tücken dieses Schwurs jetzt genauer erkennen. Denn erstens sagt einem niemand, ob die Gefahr wirklich da ist, zweitens sieht sie anders aus – rothaariger, clownesker, irgendwie weniger böse –, als man sich das seinerzeit vorgestellt hat, und drittens: Was heißt überhaupt kämpfen?

»Nie wieder ist jetzt!« – das ist ein gängiger Spruch in diesen Tagen. Klingt gut, ist aber falsch. Das eben ist kein Kämpfen: die AfD immer öfter, immer lauter und immer emotionaler als Wiedergängerin der NSDAP zu beschreien. Wenn man die Rechtspopulisten auf das historisch bereits Bekannte reduziert, dann wird man ihnen schwerlich das Handwerk legen können, die AfD ist mehrheitlich nicht faschistisch, Trump wiederum ist die faschistische Ideologie eh zu anstrengend.

Noch problematischer an der Nie-wieder-Attitüde sind die Rückwirkungen auf alle, die da warnen. Denn wer sagt: »Nie wieder ist jetzt«, der ist moralisch und politisch so dermaßen auf der sicheren Seite, dass alle echte Sorge von politischem Behagen verdrängt zu werden droht. Auf dem SPD-Parteitag beispielsweise gelang es der Führung einer emotional ausgelaugten Sozialdemokratie kaum je, größere Gefühle zu wecken, die aus der eigenen Politik entspringen (außer ein wenig beim Sozialen, aber das ist ja Sozi-Routine), erst als es gegen »die Rechten« ging, kam richtig Stimmung auf.

Die liberale Mitte hat es in der Hand, mit einer anderen Politik das Blatt zu wenden

Auf der Suche danach, was kämpfen bedeuten könnte, lässt sich vielleicht schon mal eine Regel identifizieren: Der Kampf für die Demokratie kann nicht ausschließlich in der eigenen politisch-moralischen Komfortzone stattfinden. Solange es nicht schmerzt, ist es noch kein Kampf.

Deshalb hier eine schmerzliche Frage: Wie kann es, verdammt noch mal, sein, dass jenen im Westen, in Deutschland zumal, die in Politik, Wirtschaft, Bildung und Medien nach wie vor fast alle Schlüsselpositionen innehaben, ihre Hegemonie so durch die Finger rinnt? Die AfD stellt keinen Minister, keine relevante Chefredakteurin steht ihr nahe, kaum ein CEO möchte mit ihren Leuten gesehen werden, ihre Lösungsvorschläge sind hohl, ihre Expertise ist schwach, ihre Patchwork-Ideologie fadenscheinig. Wie ist es dann möglich, dass der liberale Teil der Gesellschaft dieses Phänomens nicht Herr wird, ja dass die AfD immer stärker wird, je lauter man sie bekämpft? Und mit »liberal« ist alles gemeint zwischen dem vernünftigen Teil der Linkspartei und, sagen wir mal, Friedrich Merz an guten Tagen.

Die Übermacht als Hühnerhaufen. Wieso?

Über die Antworten wird noch viel zu diskutieren sein, eines jedoch kann man jetzt schon sagen: Die Lösung findet sich nicht beim Starren auf die AfD, noch weniger, wenn man sie ständig ins sepiabraune Nie-wieder-Licht rückt. Nein, die Antwort findet sich beim Blick in den Spiegel, der liberale, vernünftige, mächtige Teil der Republik muss einiges gewaltig falsch machen.

Hier mal ein Vorschlag zur liberalen Selbstkritik: Während die Rechten eine emotionale Antwort auf die epochalen Herausforderungen – Machtverlust des Westens, Klimakrise, Migration – haben, finden die vernünftigen Kräfte kaum noch Zugang zu den Gefühlen der Menschen. Rechtspopulisten sagen den Leuten: Euer Leben könnte genauso sein wie immer, wenn nur diese linken Eliten nicht wären, die Probleme erfinden, um euch zu gängeln. Die Liberalen sagen: Wir bringen euch eure alte Normalität zurück, wenn wir diese Krise für euch und ohne euch gelöst haben. Und dann noch diese. Und diese. Wir liefern klimaneutrale Infrastruktur, die freilich zu langsam kommt; wir beschließen eine Zeitenwende, die aber leider keine einsatzfähige Bundeswehr bringt. Und so weiter. Es ist die Sprache der Technokratie im Stadium der Vergeblichkeit. Worin aber besteht das liberale Projekt? Was ist das Gefühlsangebot der Liberalen im Epochenbruch? Welche Gefühle haben sie selbst? Könnten diese Gefühle Spuren von Angst enthalten? Kann man in dieser historischen Lage überhaupt Mut machen, ohne den Menschen etwas zuzumuten?

Die erste gute Nachricht des Jahres wäre dann: Wenn Fehler der Liberalen den Erfolg der Illiberalen erklären, dann haben sie es in der Hand, mit einer anderen Politik und Kommunikation das Blatt zu wenden. Jedenfalls wäre die Diskussion über eine solche Wende sinnvoller, als die erste Hälfte des Jahres damit zu verbringen, sich vor der zweiten Hälfte zu fürchten.

Und, ist nun der Ernstfall der Demokratie gekommen? Sieht so aus, allerdings sollte man dabei nicht vergessen, dass Coolness eine ganz gute Waffe ist – und Resignation ein Luxus sein kann.

Beide Leitartikel finden Sie zum Hören unter www.zeit.de/vorgelesen