»Die Hitze verschlimmert alles«

Handwerker, die in Eiswesten arbeiten. Gerichtsmediziner, die Hitzetote zählen. Meteorologen, die aus dem Warnen nicht mehr herauskommen. Wie Phoenix, die heißeste Großstadt der USA, mit den extremen Temperaturen kämpft VON KATHARINA MEYER ZU EPPENDORF

Sie nahmen jeden Tag ein kaltes Bad, verdunkelten die Fenster mit schwarzen Vorhängen und waren tagsüber meist nicht zu Hause. Mehr konnten Tiana Burris, 44, und ihre Tochter Arhen, 26, im vergangenen Sommer nicht gegen die Hitze tun. Ihre Klimaanlage war noch immer kaputt, und das Geld für eine neue fehlte. Tiana Burris erholte sich von einer Lungenembolie, die sie ihre 1.000 Dollar Erspartes gekostet hatte. Und ihre Tochter Arhen kümmerte sich um ihren damals dreijährigen Sohn. »Er sagte immer wieder: Es ist so heiß, Mummy. Aber ich konnte nur antworten: Ich weiß, und es tut mir leid.« So erzählt es Arhen an einem Tag im August 2024 im Wohnzimmer ihres Hauses in Avondale, einem Vorort von Phoenix.

Heiß ist es wieder. In diesem Juli stiegen die Temperaturen in Phoenix an fast jedem Tag auf über 43 Grad Celsius. Nachts fielen sie meist nicht unter 32 Grad. Und am vergangenen Mittwoch verzeichnete die Stadt den 80. Tag in Folge Temperaturen von etwa 38 Grad oder höher. Der längste Zeitraum in der aufgezeichneten Geschichte des Bundesstaates Arizona. Wie überlebt man diese Hitze in der heißesten Großstadt der USA als Mensch, Stadt und Gesellschaft?

Hitze heizt den Körper auf, bringt ihn erst zum Schwitzen, dann den Blutdruck zum Sinken und die Muskeln zum Krampfen. Die Symptome: Zittern, Schwäche, Übelkeit und Verwirrung. Am Ende steht im schlimmsten Fall das Versagen der Organe. Der Tod.

Jeffrey Johnston, 50, ist der oberste Gerichtsmediziner des Maricopa County, dessen Verwaltungssitz Phoenix ist. »Gerade kommen bei uns bis zu 200 Leichen pro Woche rein«, erklärt er in einem Video-Call. »Etwa die Hälfte davon könnte auf die Hitze zurückzuführen sein.« Könnte, Konjunktiv, weil er und sein Team aus 16 Pathologen erst noch herausfinden müssen, ob ein Mensch nun »an« oder »auch an« der Hitze gestorben sei. Das gehe durch die klassische Autopsie, erklärt Johnston, aber auch durch Recherche der sogenannten Medicolegal Death Investigators. Sie fahren nach einem möglichen Hitzetod an den »Tatort«, befragen die Familie und Freunde der Toten zur medizinischen Vorgeschichte oder überprüfen, ob es eine funktionierende Klimaanlage gab. Die Untersuchung eines Falls dauert meist drei Monate.

»Etwa 20 Prozent der Betroffenen kommen im Haus zu Tode, 80 Prozent draußen«, sagt Johnston. Drinnen würden die Menschen meist sterben, weil die Klimaanlage ausgestellt ist, entweder weil sie kaputtgegangen ist oder aber weil sie absichtlich nicht läuft, um Strom zu sparen. Draußen seien es meist Menschen, die der extremen Hitze nicht entfliehen konnten: Obdachlose oder Wanderer, die ihre Fähigkeiten überschätzten. Die zu wenig tranken, dehydrierten. »Im Maricopa County sterben pro Jahr rund 40.000 Menschen. 645 davon sind Hitzetote. Das ist nicht viel, aber die meisten sind vermeidbar.« Deswegen mache er diesen Job, sagt Johnson. »Mit dem Wissen, wie diese Tode zustande kommen, können wir in der Zukunft versuchen, weitere zu verhindern.«

Denn dass es hier künftig wieder kühler wird, ist nicht zu erwarten. Hitze im Valley, wie die Gegend hier auch genannt wird, sei normal, sagt Tom Frieders. Phoenix sei eben eine Stadt in der Wüste. Aber schon wieder ein »Rekordsommer«? Frieders, 55, ist ein Mann, der den Eindruck einesall-American dadmacht. Eine Vaterfigur. Jemand, der nicht nur für seine Familie, sondern auch für seine Mitbürger sorgt. Seit 32 Jahren arbeitet er als Meteorologe beim NWS, dem National Weather Serviceder USA, und seit drei Jahren in dessen Büro in Phoenix. Dort ist es zu seinem Hauptjob geworden, die Menschen vor extremem Wetter zu warnen. Das Problem sei, erklärt Frieders, was unter Wissenschaftlern als der urban heat island effect bekannt ist: Gebäude und Straßen führen dazu, dass Städte wie Phoenix ihre Wärme nicht mehr abgeben und so immer weiter aufheizen. »Eigentlich haben wir aber das ganze Jahr über mit der Hitzekoordination zu tun«, sagt Frieders.

Wir: Damit meint er nicht nur sich und den NWS. Er meint die vielen Einrichtungen, die in Phoenix daran arbeiten, dass die Hitze für die rund fünf Millionen Menschen hier keine Gefahr darstellt. Er meint die Stadt, die Bäume pflanzt und Überdachungen baut, damit es mehr Schatten gibt. Er meint das Parks and Recreation Department, das Wanderwege schließt, damit Menschen nicht in der Hitze kollabieren. Er meint die Ärzte, die Kollabierte neuerdings in mit Eiswürfel gefüllte Säcke stecken, um ihre Körpertemperatur zu senken. Und er meint jene, die in Phoenix das sogenannte Heat Relief Network betreiben: ein Netzwerk aus Stadt, NGOs und Kirchen, das mit kostenlosen Wasserstationen und Cooling Centers, öffentlichen Gebäuden mit Klimaanlagen, alle vor der Hitze schützen will – vor allem aber Obdachlose, deren Zahl sich im Großraum Phoenix in den vergangenen sechs Jahren fast verdoppelt hat.

Das Leben im Sommer in Phoenix findet hauptsächlich drinnen statt. Die Menschen versuchen vor allem, die klimatisierte Kühlkette aus Zuhause-Auto-Büro-Supermarkt-Gym-Bar-Zuhause nicht zu unterbrechen. Hitze ist hier nicht nur eine zweiwöchige Welle. Sie ist ein Marathon, den man sich leisten können muss. Und sie ist eine Klassenfrage.

In Phoenix erkennt man reiche Menschen daran, dass sie lange Hosen und Jacken tragen, weil die Klimaanlage manchmal ein bisschen zu frisch eingestellt ist. Oder daran, dass ihre Hunde Schuhe tragen, damit ihre Pfoten nicht auf dem heißen Asphalt verbrennen. Ärmere Menschen hingegen fahren Bus und Tram oder besuchen Bibliotheken, Schulen und Kirchen, um sich überhaupt mal abkühlen zu können.

Arene Rushdan, 61, ist ausgebildete Krankenschwester und arbeitet seit vier Jahren beim Arizona Faith Network, einem interreligiösen Netzwerk, das zum Heat Relief Network von Phoenix gehört und unter anderem in Kirchen Erholungszentren betreibt, sogenannte Respite Centers. Das erzählt sie in einer Aula, in der sonst das Kirchenorchester probt und in der es wie in einer Turnhalle riecht. Auf einer kleinen Bühne stehen ein Karton mit Yogamatten und gespendeten Thermobechern und ein Tisch, auf dem Infoflyer ausliegen, wie man der Hitze trotzt. Rund 80 Menschen kommen an diesem 42 Grad heißen Tag im August zwischen 11 und 19 Uhr an. Sie alle bekommen Wasser und Snacks und von Rushdans Team die gleichen Fragen gestellt:

1. Wie stark schätzt du deinen Hitzestress ein?

2. Wie weit bist du angereist?

3. Wie bist du hier hingekommen?

4. Welche Orte nutzt du, um dich abzukühlen?

5. Bist du ein Veteran?

»Diese Daten brauchen wir, damit wir denen, die zu uns kommen, noch besser helfen können«, sagt Rushdan. Die meisten litten unter exzessivem Schwitzen, dem könne man vor allem mit Wasser und Ruhe schnell entgegenwirken. Und wer Veteran sei, könne zum Beispiel auch auf das militärische Hilfsnetzwerk zurückgreifen.

Auf dem Boden vor dem Tisch haben sich um zwölf Uhr elf Menschen und ein Hund auf den Yogamatten neben gestapelten Stühlen zum Schlafen hingelegt. Der durchschnittliche Besucher sei männlich, um die 40 Jahre alt und meist obdachlos, schätzt Rushdan. »Draußen kann man bei der Hitze nicht schlafen, die meisten haben also die Nacht durchgemacht und kommen hier zum ersten Mal zur Ruhe.« Unter den Obdachlosen seien welche, die Vergewaltigungen oder eine schlimme Kindheit erlebt hätten, viele mit psychischen Problemen oder einer Abhängigkeit, etwa von Crystal Meth oder Fentanyl. »Die Hitze verschlimmert alles. Das habe ich inzwischen gelernt«, sagt Rushdan. Die Schwächsten der Gesellschaft seien die noch Schwächeren in der Hitze. »Im Grunde machen wir hier jeden Tag eine Triage. Bevor ich mich um irgendetwas anderes kümmern kann, muss ich immer erst die Folgen der Hitze behandeln.«

Mit einem Pflaster auf einem undichten Damm hat ein Arzt die Hilfe für Obdachlose Menschen in der Hitze einmal verglichen. Weil man sie nach der Behandlung wieder in die Bedingungen schicke, die sie doch erst ins Krankenhaus gebracht haben. Arene Rushdan hat in ihren vier Jahren, soweit sie weiß, noch niemanden an die Hitze verloren. Aber auch sie kennt, wie fast jeder, der in Arizona in der Hitze-Abwehr arbeitet, die beiden Zahlen, die die Folgen der hohen Temperaturen zeigen: 2.297 Menschen starben 2023 in den USA an der Hitze, fast ein Viertel von ihnen im Maricopa County.

Das zu verhindern, ist eine Gemeinschaftsaufgabe. So stellen Versorger im Sommer zum Beispiel den Strom nicht ab, selbst wenn die Rechnung nicht bezahlt wird. Oder es wurde ein neues Gesetz verabschiedet, dass Wohnmobilpark-Betreiber den Menschen nicht mehr verbieten dürfen, eine Klimaanlage an ihren Fenstern anzubringen. Der beste Tipp, um sich vor der Hitze zu schützen, da sind sich Gerichtsmediziner wie Krankenschwestern einig: sie ernst zu nehmen und an den gefährlichsten Tagen zu meiden.

Wie wichtig das ist, zeigt eine Studie, die im Mai 2023 veröffentlicht wurde. Sie prognostizierte, dass ein Stromausfall während einer fünftägigen Hitzewelle etwa 13.000 Einwohner von Phoenix töten und 800.000 in die Notaufnahmen bringen würde. Die Wahrscheinlichkeit, dass das passiert, ist laut Wissenschaftlern zwar sehr gering, mitdenken muss man sie aber. Denn ohne Strom funktionieren die Klimaanlagen, die die amerikanischen Haushalte in den 1950ern eroberten, nicht mehr.

Rund drei Prozent der Haushalte in Phoenix besitzen gar keine Klimaanlage oder ein anderes Kühlsystem, der Rest ist vermutlich Kunde von Jay Kline oder einem seiner Kollegen. Kline, 39, ist seit 13 Jahren Co-Chef von Penguin Air, einer Firma, die hauptsächlich Klimaanlagen repariert oder einbaut. »Eine Klimaanlage entzieht einem Raum die warme Luft, kühlt sie mit einem Mittel und gibt diese kalte Luft wieder ab«, erklärt er. Der häufigste Grund, warum seine Kunden zu ihm kämen, sei ein kaputter Kondensator, eine Art Batterie der Klimaanlage. »Um die zu reparieren, müssen meine Mitarbeiter manchmal auf Dachböden klettern, die bis zu 60 Grad heiß werden können«, sagt Kline. Leider gebe es immer wieder Techniker, die das nicht überlebten. Damit das niemandem bei Penguin Air passiere, müsse einiges beachtet werden: »Wir setzen immer Zweierteams ein, die wir mit zwei Eiswesten und genug Elektrolyten für ihr Wasser ausstatten. Außerdem sollen sie nach maximal 30 Minuten eine Pause machen.«

Klimaanlagen boomen, in Phoenix wie in Deutschland. Für Menschen wie Kline ein gutes Geschäft, für den Planeten ein Dilemma. Sie machen das Leben in der Hitze überhaupt erst möglich, heizen sie aber buchstäblich mit an. Denn für die Erzeugung des Stroms, mit dem sie betrieben werden, braucht man vielerorts noch immer Kohle, Gas und Öl. Fossile Energien also, die die Klimakrise weiter verstärken. Gleichzeitig sind sie es, die in der Hitze Leben retten können: Ein Bericht des medizinischen Fachjournals The Lancetvon 2021 schätzte, dass Klimaanlagen im Jahr 2019 weltweit mindestens 195.000 vorzeitige Todesfälle verhindert haben.

Deshalb spendet Jay Kline einmal im Jahr eine Klimaanlage an Bedürftige. Im vergangenen Jahr war das Tiana Burris. »Ich war geschockt«, sagt die, als sie sich an diesen Moment erinnert. »Sie hat geweint«, sagt ihre Tochter Arhen. Eine durchschnittliche Klimaanlage, wie sie in Tiana Burris’ Haus verbaut ist, kostet umgerechnet rund 12.000 Euro.

Vorbei ist der Kampf gegen die Hitze deswegen allerdings nicht. Er sieht jetzt nur anders aus. Gerade bezahlen Tiana Burris und ihre Tochter 400 Dollar alle zwei Monate, nur für Strom. »Wir leben von Rechnung zu Rechnung«, sagt sie.

ZEIT-Grafik Fotos: Owen Ziliak/USA Today Network/Imago; Justin Sullivan/Getty Images; Brandon Bell/Getty Images www.zeit.de/vorgelesen