Wie gut ist Dänemarks Migrationspolitik?

In keinem anderen Land verfolgen Sozialdemokraten einen so restriktiven Kurs in Zuwanderungsfragen. Damit schütze seine Partei die Arbeiter, sagt der dänische Innenminister Kaare Dybvad. Sein niedersächsischer Amtskollege Boris Pistorius entgegnet: Für die SPD könne diese Haltung kein Vorbild sein

DIE ZEIT: Minister Dybvad, skandinavische Sozialdemokraten wie Sie galten lange als die Speerspitze liberaler Einwanderungspolitik. Seit einiger Zeit aber gehört Ihre Regierung im Umgang mit Migration zu den härtesten des Westens. Was ist passiert?

Kaare Dybvad: Sozialdemokraten in Dänemark, Norwegen oder Schweden haben auch früher schon einmal eine restriktivere Migrationspolitik vertreten. In den Sechziger- und Siebzigerjahren wollte die Industrie für ihr Lohndumping billige Arbeitskräfte aus dem Ausland. Ausgerechnet rechte Regierungen gaben dem Druck nach und öffneten das Land für diese Form der Zuwanderung. Auch damals waren wir dagegen. Nun hat die Welle von Flüchtlingen die Debatte völlig verändert. Die arbeitende Mittelschicht trägt die Kosten der Integration. Deren Vertreter sind es, die zusammen mit den Flüchtlingen in den Betrieben arbeiten, die mit ihnen um Jobs konkurrieren. Auf sie wirken sich die sinkenden Löhne aus – und sie leben neben den Migranten in heruntergekommenen Wohnvierteln. Nirgendwo in Europa zahlen die Reichen die Kosten, die durch Einwanderung verursacht werden. Darum geht es doch.

Boris Pistorius: Ich definiere Solidarität anders. Wir sollten nicht deutsche Arbeitnehmer und Flüchtlinge gegeneinander ausspielen, mir gefällt dieser Ton nicht. Wir haben ein riesiges demografisches Problem in Europa, überall mangelt es an Fachkräften. Die Bundesrepublik hat in den Sechziger- und Siebzigerjahren viele Menschen aus der Türkei, aus Griechenland und Italien als Gastarbeiter angeworben. Die meisten von ihnen – wenn auch nicht alle – sind integriert. Es hilft uns nicht, Donald Trump zu kopieren und zu sagen: Dänische, deutsche oder französische Arbeiter first. Wir brauchen die ausländischen Arbeitskräfte und sollten uns deshalb als offene Gesellschaft präsentieren.

Dybvad: Wir sollten vor allem die Kategorien nicht vermengen. Nach 2015 haben wir bei den Flüchtlingen aus Syrien gesehen, dass nur wenige ein gutes Bildungsniveau haben. Entsprechend gibt es kaum Verwendung für sie auf dem dänischen Arbeitsmarkt. Besonders die geflüchteten Frauen sind noch zu großen Anteilen arbeitslos. Wir haben Probleme, diese Menschen ins Bildungssystem einzugliedern, obwohl es keine Schul- oder Studiengebühren gibt. Ich sehe nicht, dass die Flüchtlinge ein großer Gewinn für die Wirtschaft wären. Vielleicht sind sie es auf einer persönlichen Ebene, das mag richtig sein, deshalb verdienen sie Solidarität. Aber ich bin dagegen, dass Menschen, die niedrige Löhne bekommen, wegen dieser Art Migration noch weniger verdienen. Ich bin großer Fan der SPD, Eduard Bernstein und Friedrich Ebert haben eine globale Bewegung gegründet, die die Welt verändert hat. Aber sozialdemokratische Regierungen haben auch harte soziale Einschnitte beschlossen. Wenn das mit sehr offener Einwanderungspolitik einhergeht, entstehen riesige Probleme.

ZEIT: Gibt es nur das eine oder das andere: offene Grenzen oder einen funktionierenden Sozialstaat?

Dybvad: Ja, beides geht nicht. Wenn jeder nach Dänemark kommen kann, funktioniert unser System irgendwann nicht mehr. Das heißt nicht, dass es keine Migration geben kann oder dass wir keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. Aber es bedarf einer strengen Politik. Und die richtet sich vor allem an Menschen, die keinen anerkannten Flüchtlingsstatus haben.

ZEIT: Die dänischen Sozialdemokraten sind mit diesem Kurs extrem erfolgreich, die SPD ist auf einem historischen Tiefpunkt. Herr Pistorius, könnte es Ihrer Partei helfen, wenn sie dänischer würde?

Pistorius: Ich möchte mich auf dieses Gedankenspiel gar nicht erst einlassen. Ich gebe doch nicht die DNA der deutschen Sozialdemokraten für einen Wahlerfolg her. Die SPD ist stolz auf ihre Tradition, sich eben auch um die Schwachen zu kümmern. Gleichzeitig habe ich in den vergangenen Jahren immer wieder gesagt, dass wir Probleme bei der Migration auch ansprechen müssen. Es bringt nichts, so zu tun, als wäre alles prima. Natürlich ist nicht jeder Syrer, der herkommt, Chirurg oder Physiker. Wir brauchen ein funktionierendes europäisches Asylsystem für Menschen, die unseren Schutz benötigen – und gleichzeitig benötigen wir ein Einwanderungssystem für all jene, deren Qualifikationen uns helfen. Es ist nicht dasselbe, wenn jemand aus Syrien vor Assad flieht oder aus Mazedonien kommt, um hier zu arbeiten.

ZEIT: Herr Dybvad, im Rahmen Ihrer »Null-Flüchtlinge-Politik« wollen Sie Flüchtlinge dazu bringen, den Asylantrag außerhalb Dänemarks zu stellen, etwa in einem afrikanischen Drittstaat. Es gibt enorme Kritik an der Idee, sie verstößt möglicherweise gegen europäisches Recht. Wie soll das funktionieren?

Dybvad: Es soll ein ähnliches Modell werden wie in Australien oder Kanada, die beide ihre Asylverfahren auch außerhalb ihrer Grenzen bearbeiten. Wir wollen jene herausfiltern, die besonders schutzbedürftig sind.

Pistorius: In meinen Augen stigmatisiert die dänische Regierung hier ganze Gruppen und übersieht, welches Potenzial diese Menschen für unsere Gesellschaften haben. Sie geht zu weit. Man muss sich nur die Gründer von BioNTech anschauen, die türkische Wurzeln haben: Migranten leisten wertvolle Arbeit für unser Land. Wir sollten uns nicht immer auf die Probleme konzentrieren. Das Leiden auf der Welt wird nicht geringer, es wird also mehr Menschen geben, die in Europa Hilfe suchen. Wir brauchen endlich eine europäische Einigung in diesen Fragen.

ZEIT: Vor allem die osteuropäischen Länder wollen sich an einer solchen Lösung aber gar nicht beteiligen.

Pistorius: Und das sind ausgerechnet Länder, die besonders von europäischem Geld profitieren. Wenn es um die Übernahme von Verantwortung geht, schlagen sie sich in die Büsche. Darum müssen wir diese destruktive und unsolidarische Haltung insbesondere der Visegrád-Staaten gegenüber den anderen EU-Ländern konsequent sanktionieren und sie zur Finanzierung eines neuen Ansatzes für unser Einwanderungssystem heranziehen: Wir sollten überlegen, insbesondere an den Einwanderungs-Hotspots innerhalb der EU, also etwa auf Lampedusa und auf den griechischen Ägäis-Inseln, schnell, zuverlässig und unabhängig arbeitende EU-Behörden einzurichten.

ZEIT: Was würde in diesen Behörden geschehen?

Pistorius: Dort könnte innerhalb zumutbarer Fristen ein vorgetragener Asylanspruch oder die Darlegung anderer Fluchtgründe geprüft werden. Alternativ könnte man prüfen, ob jemand in der EU arbeiten und für seinen Lebensunterhalt aufkommen könnte. Voraussetzung einer solchen Prüfung wäre, dass sich jede und jeder auf irgendeine Art identifizieren kann. Auch wenn ein solches vorgeschaltetes System rechtsstaatliche Verfahren nicht komplett ersetzen kann, würde es uns helfen. Bei denen, die keinen Asylgrund vortragen können, aber als Arbeitskraft gebraucht werden, müssen wir die Voraussetzungen absenken. Wir werden immer mehr Handwerker, Pflege- und Servicekräfte in der EU benötigen.

ZEIT: Was wäre mit denen, die weder Asylgründe vorbringen noch als Arbeitskräfte einreisen dürfen?

Pistorius: Sie müssen umgehend in ihre Heimatländer zurückkehren. Dafür benötigen wir zuverlässige Abkommen. Diese klaren Vorgaben, verbunden mit einem starken, rechtsstaatlichen Grenzschutz, würden viele lebensgefährliche Reisen mit Schleppern über das Mittelmeer und oft langfristige und schwierige Asylprozesse verhindern. Wir müssen auch die Möglichkeit schaffen, Arbeitsvisa bereits im Heimatland zu beantragen. Wir müssen hier zeitnah und entschlossen handeln und unsere Souveränität als Europäer zurückgewinnen. Was 2015 geschehen ist, darf sich nicht wiederholen.

Dybvad: Darin sind wir uns einig.

Pistorius: Was ich dagegen auch völkerrechtlich für nicht umsetzbar halte, Herr Dybvad, ist Ihr Vorschlag, Asylanträge künftig ausschließlich außerhalb der EU bearbeiten zu lassen. Das könnte höchstens für ein Programm zur Arbeitsmigration gelten, meinetwegen nach kanadischem Vorbild. Das hat dann aber nichts mehr mit Asyl zu tun. Da kann es ausschließlich um Einwanderung gehen.

ZEIT: Herr Dybvad, der US-Außenminister, NGOs und sogar der UNHCR kritisieren Ihre Pläne. Schütteln Sie das als liberale Regierung einfach ab?

Dybvad: Nein, wir nehmen diese Kritik sehr ernst. Aber das europäische Asylsystem ist kaputt. Es kommen zwar derzeit relativ wenige Menschen nach Europa – doch das liegt auch am EU-Türkei-Abkommen. Und das finden die NGOs, die Sie ansprechen, auch nicht gerade gut. Das Asylsystem leistet einfach nicht mehr das, was wir uns von ihm nach dem Zweiten Weltkrieg versprochen haben. Die Menschen beantragen nicht Asyl im ersten Land, das sie betreten, sondern reisen zuerst durch sieben oder acht andere Staaten. Und es kommen nicht unbedingt die, die besonders schutzbedürftig wären. In Asien und Afrika leben Millionen Menschen unter furchtbaren Bedingungen. Es ist nicht fair, dass wir uns in Europa nur auf die konzentrieren, die es hierher geschafft haben.

Pistorius: Wenn ein System Fehler hat, zerstört man es doch nicht gleich.

Dybvad: Ich finde, jeder sollte die Möglichkeit haben, sich im Quotensystem des UNHCR zu bewerben, das dann nach größter Bedürftigkeit auswählt. Die dänischen Sozialdemokraten sind doch keineswegs die einzigen, die in diese Richtung denken: Auch die österreichischen, niederländischen und norwegischen Parteifreunde haben diese Diskussion.

Pistorius: Vielleicht ist es nicht eure Absicht, das Asylsystem zu zerstören, aber darauf läuft es hinaus. Denn die syrischen Flüchtlinge, die in Dänemark nicht mehr unterkommen, versuchen es jetzt eben in Deutschland oder Österreich. Durch eure Entscheidungen steigt also der Druck auf andere Länder, und das ist unsolidarisch. Deshalb brauchen wir gemeinsame Lösungen und keine nationalen.

Dybvad: Aber die Länder in Zentraleuropa, wie Polen, Tschechien, Slowenien oder Estland – das sind Demokratien. Glaubst du, du kannst sie zwingen, Flüchtlinge aufzunehmen, die sie nicht wollen? Und solange wir in Europa Bewegungsfreiheit haben, kann einer Flüchtlingsfamilie doch auch niemand verwehren, nach Deutschland weiterzugehen!

Pistorius: Bewegungsfreiheit gilt nur für denjenigen, der als Asylsuchender anerkannt ist, also einen Aufenthaltstitel hat. Für alle anderen brauchen wir ein System, das nicht nur den ersten Schritt regelt, sondern auch die Verteilung innerhalb Europas. Wenn jemand nach Europa kommt, um ein sichereres Leben zu führen, als er es vorher hatte, dann muss er akzeptieren, dass wir entscheiden, wo er lebt.

ZEIT: Herr Dybvad, Ihre Regierung hat die syrische Hauptstadt Damaskus zum sicheren Herkunftsgebiet erklärt. Doch sie ist alles andere als sicher. Die Abschiebung syrischer Flüchtlinge müssten Sie mit Assads Regime verhandeln. Sind Sie dazu bereit?

Dybvad: Nein, das sind wir nicht. Aber unsere Position ist: Der Flüchtlingsstatus ist eine temporäre Angelegenheit. 40 Jahre lang war es in Dänemark so, dass jeder, der den Flüchtlingsstatus bekam, grundsätzlich bleiben durfte. Das kann nicht sein. Wer die Möglichkeit hat, zurückzukehren, sollte das tun. Was Syrien betrifft, sieht die schwedische Regierung es ähnlich wie wir. Viele Syrer sind bereits freiwillig zurückgegangen. Die Lage ist offensichtlich differenzierter, als bloß zu sagen: Damaskus ist nicht sicher.

ZEIT: Nur will kaum jemand freiwillig zurück. Und wenn Sie nicht mit Assad verhandeln wollen, dann ist Ihre Abschiebungsdrohung eben nur das: eine Drohung. Derzeit harren syrische Familien bei Ihnen in Asylzentren aus, in denen es keine Beschulung und keine Arbeitsmöglichkeiten gibt.

Dybvad: Sie haben recht: Nicht jeder möchte freiwillig zurückkehren. Aber wir setzen vor allem auf freiwillige Rückkehr. Seit 2019 sind bereits mehr als 250 Syrer, die legal hier waren, in ihre Heimat zurückgekehrt. Der dänische Staat hat sie dabei im Durchschnitt mit 23.500 Euro pro Person unterstützt. Auch sind die Bedingungen in unseren Asylunterkünften nicht so schlecht, wie Sie sie schildern. Es gibt viele Freizeitangebote. Niemand ist gezwungen, dort zu bleiben. Das Rote Kreuz betreut die Kinder. Diese Familien bekommen den Schutz, den sie suchen.

Pistorius: Ich kenne keinen einzigen syrischen Flüchtling, der freiwillig zurückkehren würde. Also, worüber reden wir hier? Lassen Sie mich klarstellen: Migranten, die keinen Verfolgungsgrund haben, ihren Lebensunterhalt nicht selbst bestreiten können oder hier Verbrechen begehen, müssen zurückgehen.

ZEIT: Herr Dybvad, erklärt Ihre Politik die sinkenden Wahlergebnisse der dänischen Rechtspopulisten?

Dybvad: 2015 ging es ihnen jedenfalls blendend, sie hatten 21 Prozent der Stimmen – 2019 hatten sie noch acht oder neun Prozent. Viele Wähler sind von ihnen zu uns gegangen, andere zu den Mitte-rechts-Parteien. Vor allem sind aber die Arbeiter, die noch in den Neunzigerjahren Sozialdemokraten gewählt und sich dann auch wegen des Migrationsthemas von uns abgewandt haben, zu uns zurückgekommen. Und das ist eine gute Sache, so soll es sein!

Pistorius: In Deutschland macht mir Sorgen, dass die AfD versucht, das Soziale mit ihrem Erfolgsthema, der Migration, zu verbinden. Aber ich glaube nicht, dass der dänische Weg für uns ein Vorbild ist. Wenn plötzlich unklar wird, wofür Sozialdemokraten eigentlich stehen, wer überhaupt Sozialdemokrat und wer ein Rechtspopulist ist, dann bekommen wir ein echtes Problem in unserem demokratischen System.

Moderation: Mariam Lau und Paul Middelhoff

Foto: Tobias Nicolai für DIE ZEIT; kl. Fotos: Imago, Davids (v.o.)

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Kaare Dybvad, 36, gehört den dänischen Sozialdemokraten an. Seit 2021 ist er Innenminister unter Regierungschefin Mette Frederiksen

Boris Pistorius, 61, ist seit 2013 SPD-Innenminister von Niedersachsen. Zuvor war der Jurist Oberbürgermeister von Osnabrück