Die Chance des Konkreten

Wie hältst du’s mit der Sterbehilfe? Die neue Debatte darum sollten Theologen nicht unter sich führen. Die Facetten erfassen wir besser gemeinsam mit Ärztinnen, Psychologen und Pflegekräften VON PETRA BAHR UND HANS MICHAEL HEINIG

Der lange Sommer blieb ungenutzt. Das trifft nicht nur auf die Pandemiebekämpfung zu, sondern auch auf den gesellschaftlichen Umgang mit dem assistierten Suizid. Als Karlsruhe zu dem Thema vor einem Jahr ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Urteil sprach, verhallte der Paukenschlag fast ohne Resonanz. Dabei hob das Gericht nicht nur das 2015 vom Gesetzgeber nach intensiver Debatte und ohne Bindung an die Fraktionsdisziplin verabschiedete strafrechtliche Verbot »geschäftsmäßiger Sterbehilfe« auf. Es eröffnete in der Urteilsbegründung unter Rückgriff auf das in der Menschenwürde wurzelnde Selbstbestimmungsrecht des Individuums gegen den erklärten Willen des Bundestages auch einen weiten Möglichkeitsraum, wie in Zukunft professionell assistiertes Sterben aussehen könnte.

Vergleicht man die Entscheidungsgründe mit anderen Urteilen zum Lebensschutz, etwa zum Schwangerschaftsabbruch, fällt die veränderte Tonlage ins Auge. Nicht nur wird die Selbsttötung als freie Entfaltung der Persönlichkeit begriffen, sondern auch ein so bislang nicht benanntes Grundrecht postuliert, in allen Lebenslagen für den Suizid effektiv Hilfe Dritter in Anspruch nehmen zu können. Dieses Recht dürfe, so das Gericht, durch staatliche Schutzmaßnahmen nicht entleert werden. Dem Staat stünde keine Bewertung von selbstbestimmt getroffenen Sterbewünschen zu. Das Recht auf Nutzung professioneller Suizidhilfe sei deshalb nicht auf Sonderfälle begrenzt, in denen lang anhaltende Qualen drohen oder Palliativmedizin keine Linderung verschaffen kann. Allenfalls dürfe der Gesetzgeber ein Schutzkonzept entwickeln, um das selbstbestimmte Entscheiden über den Suizid sicherzustellen.

Zunächst blieb es in Reaktion auf die spektakuläre Karlsruher Entscheidung bei ein paar Zeitungsartikeln und schmalen Pressemitteilungen, weil der heraufziehende Schrecken der Pandemie alsbald die öffentliche Aufmerksamkeit beanspruchte. Dieser Akt der Verdrängung war wohl einer kollektiven Resilienz geschuldet, die vor Überforderung schützt. Bilder von gestapelten Särgen aus Bergamo und der Einzug des Virus in Einrichtungen der Langzeitpflege rückten den Tod und das Sterben sowieso schon in die Mitte der Gesellschaft.

Mit Vehemenz drängt das Thema assistierter Suizid jetzt zurück auf die Tagesordnung. Die innerevangelische Selbstverständigung zur professionellen Suizidhilfe wird seit zwei Wochen durch zwei gut platzierte Leitartikel in einer großen Tageszeitung markiert. Die Beiträge sind von prominenten Autorenkollektiven formuliert. Urteilsbegründungen des Bundesverfassungsgerichts, als kultureller Text gelesen, changieren zwischen der Explikation einer längst vollzogenen gesellschaftlichen Veränderung, der affirmativen Beschleunigung einer solchen Veränderung und dem Kontrafaktischen des Rechts. Dies spiegeln auch die konkurrierenden theologischen Lesarten der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die im Wesentlichen um den Ostentativbegriff »autonome Selbstbestimmung« kreisen.

Was bislang aber fehlt, ist eine gründliche innerkirchliche Debatte mit Perspektiven, die über die theologische im engen Sinne hinausgeht und gut protestantisch andere einbezieht: Medizinerinnen und Einrichtungsleitungen, Juristen, Pflegekräfte und Psychologinnen, Fachvertreter aus der Gerontopsychiatrie und Traumaforschung.

Nach diesen Expertisen müsste man innerkirchlich nicht lange suchen. Nur in dieser breiten Aufstellung lassen sich die drängenden Fragen im Gefolge der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts angemessen bearbeiten: Wie kann man den anspruchsvollen Begriff der Autonomie lebenspraktisch durchbuchstabieren, ohne ihn preiszugeben? Mit welchen allgemein verbindlichen Verfahren, Interventionen und Prüfposten lässt sich verhindern, dass sozialer Druck den Sterbewunsch prägt? Wie lässt sich vermeiden, dass der Suizid eine Standardmaßnahme im Gesundheitssystem wird? Was wäre seitens des Staates zu unternehmen, wenn dem Gesetzgeber der effektive Zugang zu suizidvermeidenden Hilfen mindestens so wichtig ist wie der zu professioneller Suizidassistenz? Welche Rolle kommt der Ärzteschaft zu, deren Ethos auf Heilung zielt? Welcher Spielraum soll für das Geschäftsmodell der sogenannten Sterbehilfevereine bleiben?

Erst wenn solche Voraussetzungen geklärt sind, kann man ernsthaft den kirchlichen Blick nach innen richten und fragen, welcher Raum für professionell assistierten Suizid in den vielfältigen diakonischen Einrichtungen besteht und wie gar eine Kasualpraxis der Sterbebegleitung in solchen Fällen aussehen könnte.

Doch statt unterschiedliche Perspektiven aus Theorie und Praxis sorgsam zusammenzuführen, wird innerprotestantisch nun nach Bekenntnissen gefragt: »Team Lebensschutz« oder »Team Selbstbestimmung«? Auch die wechselseitigen Vorwürfe sind schnell bei der Hand: »Häresie!«, »Klerikale Bevormundung!« Polemik ist die Emotion der Intellektuellen. Vielleicht ist sie auch ein Zeichen der Grenzethik-Verliebtheit, die theologische und ethische Einsichten gerne an äußersten Umständen diskutiert. Manchmal schärft sie die Argumente. Trotzdem wäre eine große Chance vertan, wenn man sich nun in üblicher Manier in den theologischen Gräben des letzten Jahrhunderts verschanzt. Für den Anfang hülfe es, das Gute am Argument des jeweils anderen herauszuarbeiten oder gemeinsam nach den blinden Flecken zu fragen. Noch besser wäre es gewesen, schon über den Sommer in eine gründlichere innerevangelische Debatte einzusteigen. Eine evangelische Kommission kluger Köpfe aus vielen Disziplinen und Berufsfeldern einzusetzen, die mögliche Kernelemente eines Gesetzentwurfes hätte erarbeiten können.

Ganz am Anfang der Arbeit einer solchen Kommission hätte eine gründliche Analyse der Urteilsgründe gestanden, die sich nicht auf pauschale Kritik oder Affirmation beschränkt, sondern die unterschiedlichen, durchaus in Spannung stehenden Argumentationsstränge des Gerichts beleuchtet, rechtsethisch bewertet und verbleibende politische Handlungsspielräume aufzeigt.

Um zu klären, in welchem Bereich die tragenden Gründe des Gerichts überhaupt Anwendung finden, wäre eine solche Analyse mit dem Wissen der Suizidforschung zu kontrastieren. Affektsuizide etwa lassen sich durch professionelle Suizidberatung nicht erfassen. Der Todeswunsch einer Wohnungslosen, des schwer an Parkinson Erkrankten, der Wunsch des hochbetagten Paars, gemeinsam aus dem Leben zu scheiden, der des traumatisierten Geflüchteten, des schwerstbehinderten Jugendlichen oder des Mittvierzigers angesichts einer bedrohlichen medizinischen Diagnose oder eines jahrzehntelangen psychiatrischen Leidens sind nicht die Varianten eines einzigen Problems.

Ohne Betrachtung der facettenreichen Phänomene der Sterbewünsche und Selbsttötungen muss das juristische wie das theologische Räsonieren über Suizid und Selbstbestimmung ein bloßes Glasperlenspiel bleiben. Ohne Bewährung am Konkreten lässt sich nicht ansatzweise der Moment bestimmen, in dem, in der Logik der Urteilsbegründung, die unhintergehbare Einbettung des Menschen in soziale Zusammenhänge umkippt in »heteronome Selbstbestimmung«.

Auch die Pathologisierung von Sterbewünschen stößt schnell an Grenzen. Die diffizile Entscheidung, unter welchen Umständen ein Nichtmehrlebenwollen »wirklich« Ausdruck von Selbstbestimmung und nicht Diktat der medizinischen oder familiären Umstände ist, lässt sich nicht pauschal an die Ärzteschaft delegieren. Mit anderen Worten: Es führt kein direkter Weg von der theologischen Interpretation der Urteilsbegründung zu einer Lebensschutz und Selbstbestimmung achtenden Alltagspraxis. Deshalb ist jetzt zunächst der Gesetzgeber gefordert und eine gute evangelische Ethik darf diesen Zwischenschritt nicht unbeachtet lassen.

In der öffentlichen Begleitdebatte sollte dann deutlich werden: Christinnen und Christen verhalten sich nicht neutral zur Frage, ob Menschen sich töten wollen – Hilfe zu Lebensperspektiven muss immer im Vordergrund stehen, auch wenn das Hilfsangebot am Ende ausgeschlagen wird. Wer, gut evangelisch, von der auch religiös unterstellten Selbstbestimmung aller ausgeht, dabei die Vulnerabilität aber nicht unterschlägt, wird nicht nur das Einzelschicksal, sondern auch Gesellschaftsbilder und mögliche Folgen im Blick behalten müssen. Wenn etwa nicht Krankheit, sondern Einsamkeit und Selbstwirksamkeitsverlust bei Hochbetagten zu Lebensüberdruss führt, liegt die Hilfe gegen diesen Schmerz gerade nicht im gut begleiteten Angebot zum Sterben, nicht mal in einem guten Palliativangebot, sondern in der Möglichkeit, auch im Alter beziehungsreich zu leben.

Folgt man dem Bundesverfassungsgericht, wäre schon das Nichthinnehmenwollen einer persönlichen Niederlage, einer Trennung, einer Behinderung, einer alltäglichen Krankheitsdiagnose jeweils legitimer Anlass für einen assistierten Suizid. Der Staat, so das Gericht, dürfe nicht werten. Diese Öffnung zu einer grundsätzlichen Egalisierung von Leben und Tod kann nicht im Sinne evangelischer Lebensorientierung sein. Eine kirchliche Positionierung kann aber auch nicht bei religiös konnotierten Grundaussagen über Freiheit, Gottesliebe und Würde stehen bleiben. Sie hat sich der ebenso anspruchsvollen wie mühsamen Betrachtung der Details zu stellen, der Lebensumstände, der unterschiedlichen Formen von psychischem und physischem Leidensdruck samt der Bilder vom gelingenden oder nicht mehr gelingenden Leben, die gesellschaftlich und kirchlich eingeübt werden. Ihr Durchdringen mitsamt der auch institutionellen Folgen ist Ausdruck und Ausfluss der gebotenen Würdesensibilität. Dabei ist mitzudenken, dass im Sozialstaat sich individuelle Selbstbestimmung in institutionellen Kontexten vollzieht und Trägerpluralität freiheitsschützend wirkt. Deshalb muss gesetzlich garantiert werden, dass Einrichtungen in religiöser Trägerschaft auch die Möglichkeit verbleibt, sich als »safe spaces« zu definieren, in denen niemand mit Angeboten der Suizidhilfe konfrontiert wird.

Petra Bahr, 54, ist Regionalbischöfin der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers und Mitglied des Deutschen Ethikrats. Ihr Ehemann Hans Michael Heinig, 49, ist Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Kirchenrecht, an der Göttinger Georg-August-Universität.

Mit Vehemenz drängt das Thema jetzt zurück auf die Tagesordnung.

***

Chronologie einer Debatte

November 2015: Die Sterbehilfe wird in Deutschland neu geregelt: Der Bundestag stellt die geschäftsmäßige Beihilfe zur Selbsttötung unter Strafe. Nahestehende Personen sind von der Strafandrohung ausgenommen.

März 2017: Das Bundesverwaltungsgericht entscheidet, dass der Staat in »extremen Ausnahmefällen« sterbenskranken Patienten den Zugang zu einem Betäubungsmittel gewähren muss, das eine würdige und schmerzlose Selbsttötung ermöglicht.

Juni 2018: Das Bundesgesundheitsministerium fordert das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte in Bonn auf, der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht zu folgen. Der Staat dürfe keine Tötungsmittel vergeben.

Juli 2019: Ärzte dürfen nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs Suizidwillige, die selbstständig und mit klarem Verstand ihr Lebensende herbeiführen wollen, sterben lassen.

Februar 2020: Das Bundesverfassungsgericht kippt das Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung. Die Richter geben zudem dem Recht auf Suizid einen hohen Stellenwert: Selbsttötung sei Ausdruck von Selbstbestimmung. Dieses Recht schließe die Freiheit ein, auch die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen.

Februar 2020: Die beiden großen Kirchen kritisieren das Urteil einvernehmlich. »Dieses Urteil stellt einen Einschnitt in unsere auf Bejahung und Förderung des Lebens ausgerichtete Kultur dar«, erklären die Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in einer gemeinsamen Erklärung.

August 2020: Der Bischof der evangelischen Landeskirche von Hannover, Ralf Meister, plädiert in Christ&Welt für Beihilfe zum Suizid auch in kirchlichen Einrichtungen. Es sei ein Akt der Nächstenliebe, schwerstkranke Menschen bis zum Schluss zu begleiten – egal, welchen Weg sie gehen. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Georg Bätzing, zeigt sich besorgt über unterschiedliche Auffassungen in seiner und der evangelischen Kirche.

Januar 2021: In der »FAZ« plädieren führende protestantische Theologen dafür, in Deutschland einen assistierten professionellen Suizid zu ermöglichen. Auch kirchliche Einrichtungen sollten sich unter gewissen Voraussetzungen dem Suizidbegehren Betroffener nicht verweigern. Zu den Autoren gehören unter anderem Diakonie-Präsident Ulrich Lilie und die Theologieprofessorin Isolde Karle, zu den Unterstützern Landesbischof Ralf Meister. Widerspruch kommt vom Ratsvorsitzenden der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm, sowie in der »FAZ« vom früheren Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber und dem ehemaligen Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats, Peter Dabrock.

Januar 2021: Bundestagsabgeordnete verschiedener Fraktionen legen einen Gesetzentwurf zur Regelung der Suizidbeihilfe vor. Er soll Sterbewilligen den Zugang zu Mitteln zur Selbsttötung ermöglichen und für alle Beteiligten Rechtssicherheit schaffen. Voraussetzung sollen eine verpflichtende Beratung des Suizidwilligen und Wartefristen sein. Getragen wird der Entwurf von den Abgeordneten Katrin Helling-Plahr (FDP), Karl Lauterbach (SPD) und Petra Sitte (Linke). KNA/MS

Foto: Privat Illustration: Karsten Petrat