Über die grüne Grenze
Über die grüne Grenze
Jens Marco Scherf, 48, einst Schulleiter, ist seit 2014 grüner Landrat von Miltenberg (Bayern
Ich hätte, anstelle dieses Textes hier, gerne ein Streitgespräch über die Flüchtlingspolitik geführt – und zwar mit einem prominenten Mitglied meiner Partei, der Grünen. Leider hat sich niemand gefunden, der mit mir streiten möchte. Das finde ich bemerkenswert. Schließlich sind wir doch die Partei, die stellvertretend für die Gesellschaft schon so viele kontroverse Debatten ausgefochten hat. Diesmal ist aber etwas anders. Diesmal fehlt den Spitzen-Grünen ... wie soll ich sagen? Der Mut, sich mit einem Landrat auseinanderzusetzen?
Vielleicht muss ich meine Partei aber auch erst einmal in Schutz nehmen. Migration ist natürlich ein grünes Herzensthema. Ich sehe ja die schwierige Lage der Kolleginnen und Kollegen in Berlin, im Bundestag und in den Ministerien: Sie haben große Ideale, und ich bin der kleine Landrat des bayerischen Kreises Miltenberg in Unterfranken, einer von nur zwei grünen Landräten überhaupt in Deutschland, konfrontiert mit der Realität. Auf kommunaler Ebene ist Parteimitgliedschaft eher zweitrangig, man hat mit so vielen Sachproblemen zu tun. In der Flüchtlingspolitik ist das besonders frappierend. Es geht hier in Miltenberg nicht um Parteiprogramme. Unsere Herausforderung ist sehr konkret: Jede Woche kommen etwa 30 Flüchtlinge bei uns an. Wir müssen sie unterbringen. Menschenwürdig, human. So gut wir können.
Aber uns fehlt Wohnraum. Die Lage wird immer prekärer. In unseren mittlerweile 55 Flüchtlingsunterkünften leben 1200 Menschen, 1300 weitere wohnen bei Privatleuten. Um jede zusätzliche Immobilie müssen wir kämpfen – in einem Landkreis, der ohnehin schon unter Wohnungsnot leidet. Junge Familien, die aus der Region stammen, finden teilweise keine geeigneten, bezahlbaren Wohnungen mehr. Logisch: Bei uns herrscht praktisch Vollbeschäftigung. Die Region floriert. Da stehen kaum Häuser leer.
Inzwischen erreichen mich Hilferufe von Hausärzten, die mit der Versorgung der Geflüchteten nicht nachkommen. Schulen sind am Limit. Uns fehlen Betreuer, Helfer, es fehlt Geld. Seit Monaten sage ich meiner Partei und allen, die es hören wollen: Ich weiß nicht, wie lange das noch gut geht.
Im November 2022 schon haben wir bayerischen Landräte, parteiübergreifend, einen Hilferuf abgesetzt. Von unserer Landrätetagung, die diesmal in Brüssel stattfand, schickten wir eine »Brüsseler Erklärung« an den Kanzler. Wir warben darin zum Beispiel für eine wirksamere Sicherung der EU-Außengrenzen und für verbindliche Flüchtlings-Verteilungsquoten in der EU. Nur eine geordnete Asyl- und Migrationspolitik, schrieben wir, wird die Zukunft des Schengen-Raums, die Freizügigkeit in der EU, sichern können. Wir forderten schnellere Entscheidungen über Asylanträge. Wir baten Olaf Scholz um eine spürbare Begrenzung des ungesteuerten Zuzugs. Damit wir vor Ort nicht Tag für Tag scheiternde Integration erleben.
Eine gemeinsame Erklärung von Landräten der CSU und einem Landrat der Grünen! Wir dachten, das bewirkt sicher etwas. Die Reaktion aus Berlin aber war weitgehend: Schweigen.
Im Januar fasste ich mir noch mal ein Herz. Ich schrieb diesmal persönlich, nur gemeinsam mit dem Vorsitzenden unserer Landkreis-Bürgermeister Jürgen Reinhard, an Olaf Scholz und die Grünen-Spitze im Bundestag: »Wir sind am Ende der Leistungsfähigkeit, es geht nicht mehr!« Olaf Scholz antwortete mir nicht.
Plötzlich aber lud mich Markus Lanz in seine Talkshow ein. Das änderte alles. Ich konnte ausführlich erzählen, wo der Schuh drückt. Einen Tag nach meinem Auftritt titelte Bild: »Grünen-Landrat spricht Migrations-Klartext«.
Diese Aufmerksamkeit fand ich etwas spooky, neudeutsch gesagt. Andererseits: Es gibt einige in meiner Partei, die mir jetzt zuhören. Vor allem Leute vom Realo-Flügel. Nur kommt kein echter parteiinterner Diskurs zustande. Darüber, wie wir Ideale und Wirklichkeit in Einklang bringen.
Dabei finde ich, dass Bundes- und Kommunalebene auch bei den Grünen voneinander lernen könnten. Wir auf der kommunalen Ebene sind mit der Wirklichkeit konfrontiert – aber müssen uns die Fähigkeit bewahren, unsere Werte im Blick zu behalten. Auf der Bundesebene besteht andererseits die Gefahr, sich den ganzen Tag mit den eigenen Werten zu beschäftigen, aber die Probleme der Wirklichkeit zu vergessen.
Was mich nach meinem Lanz-Auftritt am meisten getroffen hat, war die Mail eines Parteikollegen. Er schrieb mir, ich sei menschenverachtend, naiv und wolle das Völkerrecht mit Füßen treten. Ich solle doch bitte aus der Partei austreten!
Das hat mich schockiert. Ich bin Grüner, durch und durch. Ich habe den Anspruch, fest auf unserem Wertefundament zu stehen. Ich will, dass wir jene, die zu uns kommen, unterstützen und ihnen helfen können. Aber wie sagte Joachim Gauck? Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich. Wenn ich laut sage, dass die Art und Weise, wie wir Menschen in Deutschland gerade unterbringen, unseren eigenen grünen Ansprüchen an Humanität nicht genügt, kann man mir doch nicht AfD-Sprech vorwerfen! Ein Landrat, auch ein grüner, muss die Probleme, die er sieht, ansprechen können. Ohne dass ich in die schlimme Ecke gestellt werde. Ohne dass es heißt, ich, der Grüne, sei rechts.
Denn nein, ich bin für Migration! Ich bin für eine vielfältige Gesellschaft! Ich bin dafür, dafür, dafür! Aber ich spreche Missstände an, weil ich will, dass unser Land funktionstüchtig bleibt. Deshalb fordere ich mehr staatlich finanzierte Betreuer. Ein Vorschuljahr zum Spracherwerb. Das Aussetzen des Rechts auf einen Kita-Platz für Flüchtlinge dort, wo die Kitas ohnehin schon überfüllt sind. Und vieles mehr.
Manche erklären mir, ich hätte mal lieber in der CSU landen sollen. Denen sage ich: Nein. Ich bin in Bayern auf dem Land groß geworden. Mein Vater war selbstständiger Handwerksmeister, meine Mutter Lehrerin. Als meine Eltern registrierten, dass ihr Sohn mit 13, 14 Jahren große politische Reden schwingt, schickten sie mich zur Jungen Union. Aber da war ich falsch. Es war die Zeit der Aids-Krise. Unter Peter Gauweiler fuhr die CSU einen brutalen Kurs gegen Schwule, die Forderungen reichten bis zur Internierung von HIV-Positiven. Was für eine Tonlage. Ich wollte da schnell weg.
Später merkte ich, dass die Grünen meine eigentliche Heimat sind. Anfang der Neunziger, da war ich Lehramtsstudent in Würzburg, saßen sie nicht im Bundestag. Sie waren 1990 rausgeflogen, aber die ostdeutschen Bürgerbewegten von Bündnis 90 hatten es ins Parlament geschafft. In der Uni-Bibliothek habe ich deren Reden gelesen, in der Zeitung Das Parlament. Wenn die von Freiheit und Verantwortung sprachen, war ich beeindruckt. Ein Konrad Weiß. Eine Marianne Birthler. Was waren das für Redner! Die hatten ihre eigene Freiheit erkämpft. 1994 trat ich ein.
Das ist fast 30 Jahre her. Heute müssen wir Grünen uns an so vielen Stellen neu erfinden. Seit wir an der Regierung sind, haben wir Grundsätzliches über Bord werfen müssen. Keine Waffenlieferungen in Kriegsgebiete? Das war mal grüne Kernforderung. Auch da mussten wir die Wirklichkeit mit unserer Werteorientierung in Einklang bringen.
Oder bei der Energieversorgung: Wir haben uns, um schnell vom Gas loszukommen, auf mehr Kohle eingelassen und auf eine Verlängerung der Atomkraft bis Ostern 2023. Nun kommt ein einzelner Landrat und sagt: Leut, auch beim Thema Migration müssen wir unser Weltbild neu justieren! Unser Programm mit den aktuellen Herausforderungen der Wirklichkeit in Einklang bringen! Tja, das ist natürlich echt ein Ding. Wollen wir darüber nicht diskutieren?
Zum Glück bindet die Partei mich langsam ein. Ich bin in einem guten Kontakt mit Parteichef Omid Nouripour, mit unserer Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann. Mit der bayerischen Grünen-Spitze kann ich auch regelmäßig sprechen. Meine Hoffnung ist, dass es am Ende meine Partei sein wird, die in der Bundesregierung darauf drängt, uns Kommunen stärker zu unterstützen, die Asylpolitik in geregelte Bahnen zu lenken und die Einwanderung so zu steuern, dass die zu uns kommen, die Hilfe brauchen – oder die, die hier arbeiten können.
Ist das ein zu großer Wunsch? Bin ich damit schon ein grüner Abtrünniger? Ich hoffe nicht. Dass ich von irgendwelchen Migrationsverweigerern als Feigenblatt missbraucht werde – nach dem Motto: »Auch der grüne Landrat hat gesagt, stoppt die Migration!« –, muss ich wohl akzeptieren.
Ich habe ein grünes Memorandum für eine andere Migrationspolitik unterzeichnet, an dem auch Boris Palmer beteiligt war. Von ihm weiß ich: Man muss viel aushalten, wenn man sich mit einer Forderung aus dem Fenster lehnt. An ihm sehe ich auch: Es sind eben die Leute im Kommunalen, die die bitteren Wahrheiten zuerst aussprechen.
Was mich sehr beruhigt: Aus meiner Bevölkerung kriege ich so viel Zuspruch, wie ich ihn noch nie hatte in meinen neun Jahren als Landrat. Wie gut, dass Sie die Probleme benennen! Aber auch: Wie gut, dass Sie es in solcher Besonnenheit und Sachlichkeit tun! Das freut mich wahnsinnig.
Die Grünen wollen mal Kanzlerpartei werden. Das finde ich richtig. Aber wenn sie das werden möchten, müssen sie auch mit einem etwas breiteren Meinungsspektrum auskommen. Eine breite innerparteiliche Debattenkultur zulassen. Vielleicht sogar ein bisschen von unserer grünen Streitkultur der Achtziger-, Neunzigerjahre wiederentdecken.
Protokoll: Martin Machowecz