Freie Fahrt

Eine Reise mit dem Rad durch Europa: Was geschieht in Paris, Essen und in Nimwegen, damit das Fahrradfahren endlich Spaß macht? Und retten sich die Städte so am Ende sogar selbst? Von Ulrich Stock

Am besten gleich aufsteigen und losfahren, das ist ja das Tolle am Radfahren in der Stadt: keine Planung, keine Vorbereitung – nicht einmal Tanken. Zum Bäcker, zur Post, zum Supermarkt ist es das schnellste Verkehrsmittel. Und wir haben es doch alle eilig.

Mit vollen Tüten am Lenker zurück nach Hause, das mögen Sie nicht, weil das so schlenkert? Na, dann fehlt Ihnen wohl ein Korb, hinten oder vorne, hat jeder Fahrradhändler. Bitte machen Sie das Rad nicht verantwortlich dafür, dass Sie sich nie mit seinen Möglichkeiten beschäftigen! Ich nehme mein Rad sogar mit in den Fahrstuhl, hebe oben in der Wohnung den Einkaufskorb ab: Bequemer geht es kaum, mit dem Auto jedenfalls nicht.

Und das Rad an sich, wenn man kein billiges nimmt, ist so gut wie noch nie. Gutes Licht, gute Bremsen, gute Reifen, gute Schaltung ... Leider gilt das nicht für die Stadt, durch die das Rad rollt. Um mit Hamburg anzufangen: Hier wird das Radfahren bestimmt von Wortgeklingel und Symbolpolitik.

Vor meiner Haustür führt eine vollmundig »Veloroute« genannte Strecke vorbei. Hervorragend ausgeschildert, denn bei Schildern ist Hamburg ganz vorn, was man auch an den Dieselfahrverbotsschildern sieht, die neuerdings an zwei Hauptverkehrsstraßen stehen wegen der schlechten Luft. (Die ausgesperrten Autos fahren dann durch andere Straßen.)

Meine Veloroute, sieben Kilometer bis zum Pressehaus der ZEIT, benutze ich nie, denn sie ist eine Zumutung. Ihr Belag wechselt alle 50 Meter, vom holprigen Kopfsteinpflaster bis zu jenen rötlichen Platten, die hier überall auf den Radwegen liegen. Vor Jahren habe ich mal nachgefragt, warum man diese hubbeligen Platten nimmt, da hieß es, die ließen das Wasser durch, gut fürs Straßengrün.

Das ist ein Argument in einer Stadt, in der es nie regnet. Aber diese Haltung gibt es nicht nur in Hamburg: Wenn man schon Geld für Radfahrer ausgibt, muss es immer noch für etwas anderes gut sein. Indem ich fahre, gieße ich die Pflanzen. Ich will aber kein rollender Gärtner sein, ich will bequem und störungsfrei von A nach B.

Fußgängern mutet man kein Kopfsteinpflaster zu, die Damen könnten in ihren Stöckelschuhen umknicken. Autofahrern salzt man bei Frost die Trasse: Da schert der Pflanzenschutz niemanden.

Hamburg wirbt jetzt fürs Radfahren. Mir wär’s lieber, sie kümmerten sich um die Infrastruktur. Es fehlt ja nicht an Radfahrern, es fehlt an Wegen. Bessere Wege, dann kommen die Radfahrer von allein.

Das allerdings kostet Geld, deshalb beschränkt man sich auf Pflastermalerei: Überall in der Stadt werden Fahrradsymbole auf die mehrspurigen Straßen gepinselt. Sie sollen mich dazu verführen, zwischen Bussen und Lastkraftwagen auf die Kreuzung zu fahren. Will ich aber nicht. Und nicht nur ich nicht. Viele Radfahrer, die auf dem Gehweg fahren, tun das nicht, um Fußgänger zu ärgern, sondern aus Angst um ihr Leben. Wann wird man uns Radwege abseits des Schwerverkehrs bauen?

Bei mir um die Ecke wurde Anfang Mai eine 33-jährige Radfahrerin, Mutter zweier Kinder, von einem abbiegenden Lkw zu Tode gequetscht. Ob sie Vorfahrt hatte, ist ungeklärt. Der Fahrer hatte sie nicht gesehen. Hunderte von Radfahrern haben sich danach aus Protest auf Hamburger Kreuzungen gelegt. Um die im Autodenken gefangene Politik endlich wachzurütteln.

Als Reporter habe ich also einige Gründe, mir den städtischen Radverkehr in Deutschland und Europa genauer anzusehen. Am besten gleich aufsteigen und losfahren, aber halt – wie mache ich das in verschiedenen Städten? Kann ich mein eigenes Rad mitnehmen? Gewiss, es gibt Züge mit Radabteilen, aber die sind oft lange im Voraus ausgebucht. Ich könnte mir in jeder Stadt ein Rad leihen, Leihfahrräder sind große Mode, doch vielleicht sitze ich nicht gut drauf und ächze dann mit angewinkelten Beinen durch die Gegend ... Ein Rad ist ja schon etwas sehr Persönliches, näher am Ich als das Auto.

Da fällt mir ein, dass der Händler, bei dem ich mir vor Jahren ein Rad anpassen ließ, mit Falträdern handelt. Brompton, ein englisches Fabrikat. Würde er mir zum Zwecke der Recherche eines leihen?

Michael Schäfer ist ein Enthusiast in den besten Jahren, der zwischen Schrauben und Muttern das große Ganze im Blick behält. The New Cyclist nennt er seinen Laden. Sein Credo: Das Fahrrad ist nichts Kompliziertes, und es soll Spaß machen.

Gilt das auch für ein Faltrad? Es wirkt filigran und winzig, aus ihm ragt die überlange Sattelstange wie ein Spargel – und ich messe gut zwei Meter. Die Räder haben den Durchmesser einer Langspielplatte. Aber das ulkige Ding fährt mit seiner Sechsgangschaltung schneller und komfortabler als gedacht. Um es zusammenzufalten, ist eine präzise Folge von Griffen nötig, die ich mir auf Anhieb kaum merken kann. Schäfer schickt mir zur Sicherheit ein Faltvideo per Mail, falls ich unterwegs nicht weiterweiß. »Ein Smartphone haben Sie ja wohl?« Brauche ich auch ein Schloss? »Wozu? Sie haben das Rad ja immer dabei.«

Ein Faltrad kann man überallhin mitnehmen, in den Zug, ins Flugzeug, ins Taxi. Sogar ins Restaurant: Man will es sich ja draußen nicht klauen lassen. Ich fahre also los im ICE – und steige um in den TGV.

Nachmittags um halb fünf am Gare de l’Est, Paris. Ich entfalte das Rad, schnalle die zwei Gepäcktaschen dran. Vorm Bahnhof brüllt und stinkt der Verkehr – und ich da rein. Mit einer neuen App namens Bike Citizens habe ich den Stadtplan heruntergeladen und mein Fahrtziel eingegeben: Louvre. Aus der Oberarmtasche meines Fahrradhemdes plärren jetzt die Abbiegekommandos einer abgehackten Frauenstimme. Ferngesteuert radle ich durch eine mir fremde Stadt. Das ist Mobilität 2018. Man wechselt das Transportmedium und bedient sich virtueller Unterstützung.

Leider setzt die Stadt mir einigen Widerstand entgegen. Um mich herum knattern Motorräder, sogar rechts an mir vorbei, wenn ich mich der nächsten Kreuzung zu langsam nähere. Was heißt hier Kreuzung? Straßen führen von allen Seiten auf einen gewaltigen Platz zu, eine Ordnung ist nicht zu erkennen. Der Platz ist ein gigantischer Topf, in den immerfort Zutaten geschüttet werden, die sich zu einer brodelnden Bouillabaisse mischen.

Meine App sagt, ich möge links abbiegen, aber von dort kommt eine siebenspurige Einbahnstraße auf mich zu! Autos, Busse, Motorräder drängeln sich an der Ampel, auf Grün lauernd. Diesen schmalen, nur aufgemalten Radweg zwischen zwei Autospuren soll ich nehmen, noch dazu in Gegenrichtung? Das mache ich definitiv nicht!

Stattdessen schlage ich mich zu einer Nebenstraße durch, in der es einen grün markierten Fahrradweg gibt, so schmal, dass selbst das aufgemalte Radsymbol kaum draufpasst. Mit dem linken Arm berühre ich die Außenspiegel der voranschleichenden Autos, von rechts rücken die Müllcontainer vom Bürgersteig heran. Alle paar Meter versperren Lieferwagen meinen Weg. Die Warnblinkanlage kündet immerhin vom Unrechtsbewusstsein ihrer Fahrer. Ein Mann kommt hinter seinem Sprinter hervorgeschossen; ich kann ihm gerade noch ausweichen. Auch Touristen tappen blindlings umher; palavernde Männer stehen im geöffneten Wagenschlag ihrer Autos, mit denen sie die Einfahrten blockieren. Dazu jede Menge Baustellen und Absperrungen. Auweia.

Und doch – welcher Kitzel, welche Unmittelbarkeit: In 30 Minuten vom Bahnhof zum Louvre, und ich habe Paris in jeder Pore. Sofort stellt sich ein Gespür für den Stadtraum her, für seine Dichte, seine Bezüge. Das Fahrrad als Schlüssel zum Stadterleben.

Auf dem Rasen am Louvre liegen die Liebespaare, fliegende Händler aus dem Maghreb halten Sonnenhüte und Eiffeltürmchen hoch. Schon bin ich unten an der Seine. Die Stadtverwaltung hat eine Uferstraße autofrei gemacht. Wie entspannt es hier ist! Flaneure, Studenten, Artisten. Kinder hüpfen auf der Fahrbahn. Ein Café aus zusammengeschraubten Paletten, eine improvisierte Sitzlandschaft am Wasser. Ein Trio aus Bass und zwei Gitarren spielt Jazz wie von Django Reinhardt zum Aperitif in der Abendstunde.

Pendler auf Rädern schlängeln sich durch das Gewimmel. Ich folge ihnen, lasse die Uferpromenade hinter mir, der Radweg führt an einer verstopften Autobahn entlang – wir Radler sind schneller. Das Tempo macht Freude, wären bloß die Abgase nicht. Die Autos stoßen einen Teil des Treibstoffs unverbrannt aus, die Tröpfchen explodieren in meiner Lunge. Ich denke an die deutsche Dieseldebatte. Unsere Partikel sind so fein, dass sie penibel gemessen werden müssen. In Paris genügt ein Atemzug.

In der Nacht ist dann alles ruhig. Mal eben rüber zum psychedelisch angestrahlten Eiffelturm, in die Weite der Champs-Élysées. Nein, es sind nicht die Wege, es sind die Autos. Sind sie weg, ist alles gut.

In Paris soll bald alles besser werden. Die Bürgermeisterin Anne Hidalgo hat einen großen, einfachen Plan: mehr Räder, weniger Autos. In den nächsten Jahren will sie für 63 Millionen Euro neue Radwege bauen, für 40 Millionen Euro bestehende Radwege erneuern, mit 10 Millionen Euro den Kauf von Pedelecs und Lastenrädern fördern, für 7 Millionen Euro 10.000 Fahrradständer aufstellen.

Die Zukunft beginnt mit einem Rückschritt. Ein Gericht hat entschieden, das Autoverbot an der Seine sei unrechtmäßig. Wird nun die Uhr zurückgedreht? Das wäre kaum zu fassen.

An einem anderen Tag springe ich im Ruhrgebiet, in Essen, aus dem Zug. In meinem Sinn nur dieses Wort:

Fahrradautobahn.

Das muss jetzt mal einen Moment ganz allein da stehen. Ein gefährliches Wort. Kommt man Fahrradaktivisten mit ihm, gehen sie einem gleich an die Gurgel – zu Recht. Im Wort von der Fahrradautobahn zeigt sich unser Denken.

Ein Verkehrsplaner machte einst ein Experiment in einer deutschen Fußgängerzone: Mit Stift und Papier ging er auf Passanten zu und bat sie, eine Autobahn zu zeichnen. Das Zufallspublikum löste die Aufgabe bravourös. Auf jeder Skizze war eine Autobahn zu erkennen.

Und nun bitte einen Radweg! Jetzt war das Ergebnis ein einziges Durcheinander. Die Leute zeichneten, was sie für einen Radweg hielten. Jeder hatte ein anderes Bild davon.

Nicht das Rad, das Auto beherrscht unsere Wahrnehmung. Was natürlich auch daran liegt, dass der motorisierte Verkehr ob seiner Gefährlichkeit ein Arsenal an Zeichen und Vorschriften hervorgebracht hat, die wir alle kennen, deuten und befolgen müssen, selbst jene unter uns, die kein Auto fahren, auch solche, die nicht einmal einen Führerschein haben.

Radschnellweg.

Das ist das offizielle Wort für die neuen, regionalen Superfahrradwege. Klingt ungewohnt, aber wenn man es ein bisschen übt, geht es gut über die Lippen. Der erste Radschnellweg zwischen zwei deutschen Großstädten verbindet Essen und Mülheim. Elf Kilometer nach der Formel 4 + 2, die in Deutschland zum Standard werden könnte: 4 Meter Breite für die Räder, 2 Meter für die Fußgänger. Der Weg führt über Brücken statt über Kreuzungen, damit man auch eine größere Distanz schnell zurücklegen kann.

100 Kilometer soll der RS 1 irgendwann lang sein, von Hamm bis Duisburg, einmal quer durchs Ruhrgebiet. Seit das beschlossen und verkündet ist, kommen Verkehrsexperten aus aller Welt her. Sie wollen sehen, wie das Autoland Deutschland einen Radweg baut.

In Essen gibt es die allererste Radschnellwegraststätte Deutschlands, sie nennt sich Radmosphäre. Hier gibt es frische Luft und Druckluft, Limo und Schmieröl und viele Radfahrer, was unter ihnen ein vages Gemeinschaftsgefühl entstehen lässt, wie es nur Autofahrer kennen, die am Samstag neben den Staubsaugern hinter der Waschanlage ihre staubigen Fußmatten ausschlagen.

Anders als an einer Autobahnraststätte ist es an der Radmosphäre still. Lautlos gleiten die Räder am Niederfeldsee vorbei, über eine Brücke, über das glitzernde Wasser. Man könnte dies als Ausflugsziel nehmen oder als Treffpunkt, um mal in Ruhe zu reden.

Und da sitzt schon Martin Tönnes auf der Sonnenterrasse. Der RS 1 ist sein Werk, jedenfalls auch, denn er leitet den Bereich Planung beim Regionalverband Ruhr, dem Zusammenschluss von 11 kreisfreien Städten, 4 Kreisen und 42 kreisangehörigen Kommunen. Man merkt den Zahlen an, dass hier viel an Behörde zusammenkommt und viel an Volk, mehr als 5 Millionen Bürger. »Kommunen denken immer nur bis zur Ortsgrenze, aber wie geht das dann eigentlich weiter?« Mit dieser Frage beschreibt er die Aufgabe seines Amtes, seine Antwort darauf ist ein regionales Fahrradwegenetz.

Herr Tönnes ist ein schlanker Mann mit silberner Brille und atmungsaktiver Kleidung. Er radelt täglich von Ratingen nach Essen, 23 Kilometer hin, 23 Kilometer zurück – mit dem Elektrorad ist das je eine Stunde. »Mit der S-Bahn wären es 50 Minuten«, sagt er. Schwitzt er denn nicht? »Ich habe Hemd und Jacke zum Wechseln im Büro.« Duschen, gibt er zu, seien noch eine Herausforderung für Arbeitgeber. Überhaupt gebe es aufseiten der Betriebe viel zu entdecken. Ein Dienst-Pedelec anstelle des Dienstwagens könnte manchen Angestellten begeistern: »Da gibt es schicke Teile.«

Damit benennt er einen wichtigen Grund der überall erwachenden Begeisterung für den Radverkehr. Während vom Elektroauto immer nur geredet wird, meist in Form eines Lamentos, gibt es 3 Millionen Pedelecs auf deutschen Straßen: »Die Elektromobilität findet auf zwei Rädern statt.«

Das Pedelec, ursprünglich usurpiert von Senioren, die sich voltgetrieben ins Freie wagen – »es gibt ältere Herren, die richtig heizen« –, ist übergesprungen auf die Gruppe agiler Pendler. Ein durchschnittlicher Radfahrer fährt ungern weiter als 7 Kilometer zur Arbeit, wofür er eine halbe Stunde braucht. Mit einem Pedelec kann er 15 oder 20 Kilometer fahren, ohne sich zu verausgaben. Je größer der Rad-Radius um die Innenstadt, desto besser für die verstopften Zufahrtsstraßen. Dieses Faktum elektrisiert alle abgas- und staugeplagten Städte.

Dumm nur, dass die heute existierenden Radwege zum elektrischen Pendeln nicht taugen. Da es immer mehr Räder und unterschiedliche Geschwindigkeiten gibt, müssen die Wege breiter werden, um sicheres Überholen zu erlauben. Die Kurvenradien müssen weiter sein. Die Kreuzungsfreiheit ist ein Thema, um den Zugewinn an Tempo nicht an jeder Ecke wieder zu verlieren. Radschnellwege zu schaffen ist also eine strukturelle Notwendigkeit.

Der RS 1 folgt der Trasse der Rheinischen Bahn, die einst Güter von Werksgelände zu Werksgelände transportierte. Heute verbindet der Weg Konzernzentralen und nimmt deren radfahrende Angestellte auf. 180 Millionen Euro sollen die 100 Kilometer kosten. Die erste öffentliche Reaktion war Unverständnis: »Habt ihr nichts Besseres zu tun?« Die Aufregung über die Ver(sch)wendung des vielen Geldes zeugte allerdings von profunder Ahnungslosigkeit. Der Autotunnel, der in der Fahrradstadt Freiburg gebaut werden soll, verschlingt pro Kilometer 180 Millionen Euro.

Bei der Kosten-Nutzen-Analyse des Radschnellwegs habe selbst der Gutachter gestaunt, sagt Tönnes: 4,3-fach zahle sich jeder investierte Euro aus. Viele Faktoren trügen dazu bei, auch die höhere Fitness der Pendler. Laut einer finnischen Studie spare das Gesundheitssystem 1200 Euro pro Jahr und aktivem Radfahrer.

Nach und nach werden Teilstücke fertig, die Radler können es kaum erwarten. »Die Leute reißen uns die Bauzäune weg, um auf der Trasse zu fahren«, sagt Tönnes. »Über die Nachfrage mache ich mir keine Gedanken.«

Der Kaffee ist ausgetrunken. Wir radeln los, nebeneinander. Das Wetter ist ein Traum, die Zeit vergeht im Nu, wenn man Weg und Eindrücke teilt. In Mülheim führt die Trasse in Höhe der zweiten Etage durch die Stadt; sie nimmt Anlauf zur Überquerung der Ruhr. Man hat Bänke aufgestellt; wer will, kann ein Picknick machen. Ich fühle mich an die High Line in Manhattan erinnert.

Wir halten an einem Zähler. 1100 zeigt das Display; so viele Radfahrer sind es heute bisher. Nicht sehr viele, denn die Teilstrecke endet hier; die denkmalgeschützte Eisenbahnbrücke über die Ruhr wird noch renoviert.

Zähler sind ein kommunaler Gimmick, der neuerdings populäre Radwege schmückt. Sie dienen weniger der Statistik als dem Selbstbewusstsein. Radfahrern wird gezeigt: Sie existieren. Nun müssen sie nur noch an sich glauben und sich nicht länger zwischen all den Autos wegducken.

Am Zähler treffen wir auf Stefan Claudius und Kathrin Roussell, zwei Mülheimer Grafikdesigner. »Unser Büro ist hier vorne um die Ecke«, erklärt er, »und das ist unser täglicher Fahrradweg hier.« – »Man kann aber auch wunderbar von hier aus bis nach Essen fahren«, schwärmt sie, »da ist tatsächlich nur eine einzige Ampel auf der Strecke.«

»Nicht mehr lange!«, verkündet Tönnes. »Die Ampel wird bald weg sein. Wir bauen da eine Brücke.« Die beiden hören es mit Freude. Herr Tönnes ist ihr Held, und ich bin es auch, weil ich über das Projekt schreibe.

Über eine Rampe rollen wir zum Bahnhof hinunter. Tönnes steigt in seinen Zug, ich in meinen. Was wann wie fährt, haben wir in unseren Smartphones gesehen. Ich kaufe mein Ticket mit der Navigator-App der Deutschen Bahn, die von deutscherbahntypischer Umständlichkeit ist, aber immerhin: Sie funktioniert.

Ich dachte, ein Abstecher nach Köln könnte nicht schaden. Eine Stadt mit toller Stimmung, auch abseits der tollen Tage. Der Zustand der kommunalen Infrastruktur ist allerdings katastrophal. Berlin hat seinen Flughafen, Köln hat Köln. Die Straßenbahn ist eine Schnecke, das Stadtarchiv ist in eine U-Bahn-Baustelle gestürzt, die Radverkehrslage ist noch furchtbarer als in Hamburg.

Kürzlich haben Arbeiter, die im Kölner Stadtteil Braunsfeld einen Radweg mit roter Farbe einfärben sollten, um ein darauf parkendes Auto herumgemalt. Im Internet gibt es ein Foto davon. Der Schatten, den das Auto auf die Gesellschaft wirft – hier ist er zu sehen.

Ich radle vom Bahnhof West nach Neuehrenfeld. Wie schön führe sich die kleine Takustraße, wäre ihr Pflaster nicht schrundig und aufgeworfen. In Köln ist selbst der Auto-Asphalt kaum befahrbar. Am nächsten Morgen regnet es auch noch. Ich hebe das Faltrad in den Kofferraum eines Taxis. Welch ein Luxus! Oder besser gesagt: welch eine Selbstverständlichkeit. Warum sollte ich nass werden? Moderne Mobilität ist keine Selbstentäußerung.

Die Regionalbahn bringt mich zum Düsseldorfer Flughafen; hier gebe ich das Rad als Gepäckstück auf, kostet nichts. Nach der Landung in Berlin-Tegel entfalte ich es in 20 Sekunden und radle an der endlosen Schlange jener vorbei, die auf ein Taxi warten. Das gefällt mir auf meiner Städteradtour am besten: irgendwo gleich da sein. Als Erster. Der Himmel über Berlin ist sonnig. Ab vom Flughafen, kein Radfahrer weit und breit, und der von Baumwurzeln gewellte Weg führt an einer vielspurigen Stadtautobahn entlang. Sollte ich jetzt stürzen und liegen bleiben, würde mich über Stunden niemand finden.

Erst als ich in Charlottenburg die Spree erreiche und abseits der Autos rolle, wird es schön. Auf dem sandigen Uferweg fährt es sich wie auf Samt. Eine junge Muslimin sitzt am Hang, unter Kopftuch und Kopfhörer, in Lektüre vertieft. Ein Obdachloser, der noch in seinem Sack schläft. Bürogebäude, in denen schon gearbeitet wird. Ein Dealer, die Kapuze tief im Gesicht, der an ein Geländer gelehnt auf Kundschaft wartet. Ich fahre durch herrlichstes Grün – ist das der Tiergarten? – und sehe auf einmal die Hochhäuser des Potsdamer Platzes vor mir aufragen. Unglaublich.

10,1 Kilometer waren es von Tegel hierher, 39 Minuten und 23 Sekunden, Durchschnittstempo 15,4 – meine App zeigt es an, die gefahrene Route leuchtet rot im Stadtplan.

Fliegen ist natürlich unökologisch. Aber Fliegen mit Rad ist besser als Fliegen mit Mietwagen oder Taxi. Mit irgendwas muss man ja anfangen.

In der rheinland-pfälzischen Landesvertretung hinterm Potsdamer Platz findet eine Fachtagung statt, ausgerichtet vom ADFC, das ist der ADAC der Radfahrer. – Ah, das sollte ich lieber nicht schreiben, klingt wie Radautobahn.

Von meinen Faltraderfahrungen beflügelt, schiebe ich das Rad durch die Eingangstür ins Foyer. Sofort springt der Pförtner auf mich zu: »Das ist ja wohl noch schöner! Gleich bringe ich mein Auto mit rein!« Auch hier also ist das Auto das Maß aller Dinge. Was das Auto nicht darf, darf das Rad schon gar nicht. Aber der Mann hat recht: Sobald mehr Räder unterwegs sind, stellt sich die Abstellfrage. An zu vielen Orten besteht die Antwort bloß aus ein paar ollen Ständern.

Ich darf das Rad zusammengeklappt in die Garderobe stellen; schließlich hat mir die Pressesprecherin des ADFC am Telefon erzählt, dass im vergangenen Jahr sogar vor ihrer Bundesgeschäftsstelle zwei Räder entwendet wurden.

Bevor die Sitzung beginnt, gehe ich die Treppe hinunter in den Waschraum, um mich frisch zu machen, denn ich bin doch ein wenig verschwitzt. Aber da ist kein Waschraum, sondern nur ein ganz normales Herren-WC. Mit nacktem Oberkörper vorm Spiegel wasche ich mir die Achseln, von anderen Tagungsteilnehmern im Sakko, die nur kurz müssen, mit ausdrucksloser Miene gemustert.

Oben sind schon die Experten versammelt. Sie kommen aus ganz Deutschland und aus dem Ausland. Es sind Aktivisten, Städtebauer, Verkehrsplaner, Politiker aller Parteien aus Stadt, Land und Bund. Zum Thema der Tagung – »Moderne Radverkehrsinfrastruktur für alle Mobilitätsbedürfnisse« – gibt es etliche Vorträge, die ich jetzt alle referieren könnte; das würde lang und womöglich mühsam. Aber ein paar Zitate zum Stand der Diskussion sollten es schon sein, zum Beispiel die heute übliche Klassifizierung. Man unterscheidet vier Typen von Radfahrern: Die starken und furchtlosen, 1 Prozent. Die begeisterten bis überzeugten, 6 Prozent (zu denen gehöre wohl ich). Die interessierten, aber besorgten, 60 Prozent. Und schließlich die distanzierten, die eigentlich nie aufs Rad steigen, 33 Prozent.

Um die starken und furchtlosen muss man sich nicht kümmern, die fahren immer; um alle anderen sehr wohl, wenn der Radverkehr vorankommen soll, und das soll, muss und wird er – da sind sich alle einig. Die Zukunft hat zwei Räder.

Das Ziel lautet 8 und 88 – auch Kinder und Senioren sollten aufs Rad steigen können, ohne sich in Gefahr zu begeben. Die Amerikaner nennen so etwas AAA, Triple-A. Das dreifache A steht für All Ages and Abilities, alle Altersgruppen und Fähigkeiten. Bis dahin ist es noch weit, wenn ich an Paris denke. Damit wirklich alle fahren können, braucht es geschützte Fahrradwege, abseits des Autoverkehrs.

Ein Blick in die Vergangenheit: Bis 1950 dominierte das Fahrrad den städtischen Verkehr, 40 Prozent Anteil europaweit; auf 100 Radfahrer kam 1 Auto. Jeder Handwerker hatte ein Lastenfahrrad. Es gab öffentliche Fahrradständer, bewacht von Kriegsversehrten. Dann kam die autogerechte Stadt und mit ihr die Ungerechtigkeit.

73 Millionen Räder gibt es in Deutschland, 46 Millionen Autos. Auf jedem fahrenden Rad sitzt 1 Radfahrer, in fast jedem fahrenden Auto nur 1 Autofahrer. 160 Millionen leere Autositze fahren durch die Republik. Und geschätzte 160 Millionen Kfz-Stellplätze werden vorgehalten, weil das Fahrzeug immer irgendwo parken muss: vor der Kita, vorm Bäcker, vorm Büro. Das Auto frisst Fläche, die wir alle bezahlen.

Auch das Radfahren hat einen Preis. Alle 23 Stunden stirbt ein Radfahrer auf deutschen Straßen. Alle 37 Minuten wird einer bei einem Unfall schwer verletzt. Alle 8 Minuten wird einer leicht verletzt. Da durch die Elektroräder mehr und mehr ältere Radfahrer unterwegs sind, nimmt nach Jahren der Stagnation die Zahl der schweren Unfälle wieder zu, denn Ältere verletzen sich schwerer.

Nach zehn Stunden Konferenz fühle ich mich wie gerädert. Viele Argumente für eine bessere Infrastruktur klingen überaus plausibel, warum geht es bloß so langsam voran? Oder dauert es einfach, bis das Beschlossene sichtbar wird? Vom Radschnellweg im Ruhrgebiet ist ja auch erst ein Zehntel da.

Ich rolle durch die Berliner Nacht zu meinem Hotel am Checkpoint Charlie. Zwei Kilometer, acht Minuten. Ein Taxi wäre mit Rufen und Zahlen nicht schneller. Die Fahrt schafft Abstand und frischen Sinn. Zudem sind die Rezeptionisten ganz begeistert von meinem Untersatz; so was scheint ihnen noch neu zu sein.

Karlsruhe, Friedrichsplatz, morgens um sieben. Über die Fahrradstraße im Zentrum der Stadt sausen Radfahrer ihrem Tagwerk entgegen. Heute wird ihnen aufgelauert. Radlerfrühstück! Stadträte verschiedener Parteien, Mitarbeiter der AOK und des ADFC winken und rufen: »Kaffee? Käsebrötchen? Kettenfett?« Einige Radler reagieren unwirsch im Vorüberfahren: Was soll das jetzt? Sie können sich nicht vorstellen, dass ihnen jemand etwas Gutes will.

Jene, die anhalten, sehe ich lächeln; sie freuen sich. Mancher lässt sich die Luft aufpumpen. Lange bleibt keiner. Ein Espresso, gern, das Brötchen für später, ja, den Apfel nehm ich, vielen Dank.

Ein herrliches Bild: Bürgermeister Albert Käuflein von der CDU frühsommerlich in weißer Hose, blauem Hemd und Schlips mit Sternchen; neben ihm Christian Büttner vom ADFC mit Kettenfettfläschchen und öligem Lappen. Auch ein Stadtrat der Grünen ist da mit seinem Pedelec, Istvan Pinter, 78 Jahre alt, in Ungarn geboren, seit einem halben Jahrhundert in Karlsruhe. »Dies ist eine liberale Stadt«, sagt er, »Gegensätze eskalieren nicht so, im Gemeinderat gibt’s einen freundschaftlichen Umgang.« Alle Parteien sind sich einig, dass fürs Rad deutlich mehr getan werden muss. Dabei liegt Karlsruhe schon vorn: In der bundesweiten Fahrradklimabefragung, die der ADFC alle zwei Jahre vornimmt, schneidet die Stadt gut ab. 2017 wurde sie vom Land Baden-Württemberg als fahrradfreundlichste Kommune ausgezeichnet. So soll es weitergehen, deshalb will man den Radfahrern heute ein Zeichen geben, sie ermuntern, unterstützen.

Mittags radle ich mit Katrin Herold vom Stadtplanungsamt zum Bahnhof. Sie will mir das neue Fahrradparkhaus zeigen. Gerade eröffnet, ein halbes Jahr Umbauzeit, 620.000 Euro. Ganz zeitgemäß: Rad abstellen, rein in den Zug. Aber wie martialisch sieht der Eingang aus! Eine abweisende Front, mit Gittern bewehrt. Die soll wohl ein Gefühl von Sicherheit vermitteln: Hier kommen Unbefugte nicht hinein! Wir leider auch nicht, weil irgendwas nicht funktioniert.

Nach einigem Gequäke aus der Sprechanlage gewährt uns ein ferner Mitarbeiter Einlass. Drinnen ist die Farbe noch frisch. Wo früher 40 Autos standen, finden jetzt 680 Fahrräder Platz, geschützt vor Diebstahl und Wetter. Es gibt eine fest installierte Luftpumpe und Werkzeug für kleinere Reparaturen. Sogar an Spinde und Waschbecken hat man gedacht. Geht doch.

Was früher 40 Bürgern und ihren wenigen Beifahrern diente, dient jetzt 680 Bürgern – das ist die Demokratisierung des Verkehrs! So wie die Republik einst die Herrschaft des Adels abschüttelte, beginnt das Volk jetzt, die Autokratie im Verkehr zu überwinden.

Aus diesem Grund werden Radfahrer, die für ihre Belange kämpfen, von Autofahrern als Ideologen betrachtet. Die nehmen etwas für sich in Anspruch, das sie anderen wegnehmen wollen. Umverteilung! Und weil ein Auto viel Geld kostet und ein Rad wenig, gelten Radfahrer als links – obwohl die politische Linke fürs Radfahren kaum etwas tut. Je prekärer das Dasein, desto stärker der Wunsch nach einem Auto.

Neuerdings gibt es kraftvolle Graswurzelinitiativen. In Berlin hat der Volksentscheid Fahrrad ein Mobilitätsgesetz auf den Weg gebracht; andere Städte folgen. Zu den neuen Aktivisten zählen junge Großstädter, die wegen der hohen Mieten das Auto einsparen – Wohnraum statt Hubraum. Einmal auf dem Rad unterwegs, merken sie, wie praktisch das Radfahren ist und wie untauglich die Infrastruktur. Der Verkehrsraum deutscher Städte ist seit Jahrzehnten aufgeteilt. Seine inneren Grenzen zu verändern löst Aggressionen aus. Nur so ist zu erklären, dass selbst simple Fortschritte erst nach ewigen Auseinandersetzungen zu erreichen sind. Was hat es gedauert, auf Sackgassenschildern einen Durchlass zu markieren, wenn Radfahrer hinten durchschlüpfen können! Das Fahren gegen die Einbahnstraße, heute Standard, wurde als Anschlag auf die Verkehrssicherheit empfunden. Bitterschwer fiel es Autofahrern, unmotorisierten Bürgern ein winziges Privileg einzuräumen. Busspuren für Radfahrer freigeben? Gegen allergrößte Widerstände: Vielen Busfahrern stand der Schaum vorm Mund. Inzwischen läuft es ganz gut.

Auf der anderen Seite des Spektrums sieht es nicht besser aus. Radfahren in der Fußgängerzone? Ist oft verboten, auch dort, wo kaum Fußgänger unterwegs sind. Den Städten fällt es schwer, sich zugänglicher und durchlässiger zu machen – zugleich wundern sie sich, dass ihre Zentren veröden, die nur umständlich zu erreichen sind. Die Autofahrer stehen im Stau und können nicht parken, die Fußgänger wollen nicht ewig laufen und nicht viel schleppen. Mit dem Rad zu fahren – das wäre die Lösung.

Radfahrer tun das Ihre, um die Fronten hart zu halten. Sie nehmen für sich in Anspruch, leise, abgasfrei und fit unterwegs zu sein, geben sich also moralisch überlegen, während die unbeweglichen Autofahrer alle Ressourcen vergurken, die Luft verpesten und auch noch die Radwege zuparken! Die Autofahrer sind böse, und das hören die Autofahrer nicht gern.

Karlsruhe hat gleich zwei Karle, die Bewegung in die Welt brachten. Der eine schreibt sich mit C, Carl Benz, der andere mit K, Karl Drais. Vor 201 Jahren erfand er seine Laufmaschine, den Urtyp des Fahrrads. Die Fahrradpatrioten unter den Karlsruhern schmerzt es bis heute, dass der Visionär seine erste bezeugte Ausfahrt in Mannheim unternahm, weil es dort bessere Wege gab. Infrastruktur war schon damals ein Thema. Sieben Kilometer von Mannheim nach Schwetzingen und wieder zurück. Nur eine Stunde dauerte die erste Radtour der Geschichte, so schnell ging das.

In Karlsruhe in der Steinstraße besuche ich den Fahrradhändler Martin Hauge, den größten Drais-Verehrer der Stadt. Seit 30 Jahren betreibt er seinen Laden auf dem Hof, die Fahrradgrube, »immer noch ohne Schaufenster, gegen den Konsumterror«. Für ein paar Euro die Stunde kann man in seiner Werkstatt auch selber reparieren.

Eine Studentin mit Rad schiebt sich zwischen uns: Der Ständer wackelt! »Passt ja auch gar nicht«, bemängelt Hauge. »Wer hat den bloß angebracht!« Sie selber, sagt sie mit erfrischender Unbefangenheit, der habe noch im Keller herumgelegen. »Wenn Sie einen Rasenmäher im Keller gehabt hätten, hätten Sie den auch drangemacht«, frotzelt er. Aber der jungen Lady kann geholfen werden. Sie kann sich sogar selber helfen. Er habe noch einen alten Ständer da, der passen sollte. Schon schraubt sie.

Ich darf derweil Hauges Laufmaschine Probe fahren, einen Nachbau des 1817er Originals. Der wuchtige Rahmen ganz aus Eschenholz, »von der Wiesenesche«, präzisiert er, »das sind Einzelsteher, die haben besonders feste Faserstrukturen«. Der Onkel des Karl Drais sei Forstdirektor gewesen. 27 Kilogramm wiegt das Trumm. Selbst die Speichen sind aus Holz, der Sattel könnte auf einem Pferd liegen, meine Arme ruhen auf einer ledernen Bank vor dem Lenker. Dieses Rad wird nie einen Platten haben, denn es hat keinen Reifen, sondern einen umlaufenden Eisenring. Beim Fahren knirscht es, unter dem Metall knacken die Körner; man spürt und hört jede Unebenheit der Straße.

Pedale gibt es keine, die Zeitgenossen mussten die Balance erst lernen. Sie wollten immer einen Fuß auf dem Boden haben, und so besorgen die Beine im sitzenden Laufschritt den Anschub. Ich laufradle unter Mühen eine Runde um den Block. Während von meinem Brompton meist kaum jemand Notiz nimmt, ruft die Laufmaschine bei Passanten ein großes Hallo hervor. Eine junge Frau hält mich an: ob sie ein Foto machen dürfe mit unseren beiden Rädern? Aber ja doch. Sie stellt sich mir vor als Anne John, ihr Rad heiße Rosinante. Es hat einen Namen? »Ja, und einen USB-Anschluss!« Aber das ist nur ein Scherz.

In den Niederlanden läuft alles ganz anders. Fasziniert höre ich in der alten Stadt Nimwegen dem jungen Radverkehrsplaner Sjors van Duren zu, der wunderbar von Mobilitätserfordernissen erzählen kann, und dies sogar auf Deutsch.

Der 33-Jährige gehört zum Ingenieurbüro Royal Haskoning DHV mit 6500 Mitarbeitern. Zuvor hat er in der Regionalplanung gearbeitet. Seine Spezialität ist nicht das Austüfteln der letzten technischen Raffinesse, sondern das Handeln im Aushandeln. »Die beste Lösung ist nicht immer die, die man will«, sagt er. Es gehe gesellschaftlich um »Koalition und Kompromiss«.

Zum Beispiel: Über eine viel befahrene Kreuzung in Nimwegen kommen täglich 40.000 Kraftfahrzeuge und 5000 Räder. Morgens und abends stauen sich die Autos. Wie kann man den stockenden Verkehr in Bewegung bringen? Der Planer kalkuliert: Wie viele Sekunden brauchen die Radfahrer bei jeder Ampelphase, was kostet volkswirtschaftlich die tägliche Wartezeit Tausender im Auto? Das rechnet er über ein paar Jahre hoch und findet: Ein Radfahrtunnel an der Kreuzung ist auf Dauer billiger, zudem gibt es durch die Entflechtung weniger Unfälle.

In den Niederlanden wird ein großer Teil der Rad-Infrastruktur aus Mitteln zur Beschleunigung des Autoverkehrs bezahlt. Verrückt, aber einleuchtend. Wollen deutsche Planer nicht immer alles verlangsamen? Verkehrsberuhigung ist das Allergrößte, dabei geht oft genug eh nichts mehr voran.

Noch ein Beispiel, weil’s so schön ist: Sjors van Duren erzählt von einem Nimwegener Krankenhaus, das für die Pendler unter den Mitarbeitern ein neues, größeres Parkhaus bauen müsste, was viel Geld und Platz kosten würde. Klinikleitung, Personalrat und Planer finden eine andere Lösung: Es bleibt beim alten Parkhaus. Einen kostenlosen Stellplatz bekommen aber nur noch Mitarbeiter, die weiter entfernt wohnen als 7,5 Kilometer. Wer näher dran ist, muss für einen Platz am Tag 10 Euro bezahlen. Gebaut wird statt des Autoparkhauses ein Fahrradparkhaus mit integrierter Werkstatt, jeder Radfahrer erhält pro Jahr zwei Reparaturen gratis. Alle sind zufrieden. »Niedrige Kosten, hoher Nutzen«, so fasst es der Planer zusammen. Das Wort Ökologie, das sich den Deutschen immer gleich aufdrängt, ist gar nicht gefallen. Vielleicht behindert deutsche Grundsätzlichkeit den Fortschritt mehr, als sie ihm dient?

Sjors van Duren zeigt mir auf seinem Laptop, mit welchen Bildern er seine Vorträge beginnt, wenn er von deutschen Planungsämtern eingeladen wird, was jetzt öfter geschehe. Es sind Bilder einer neuen niederländischen Autobahn, sechs Spuren. »Wir sind ein Autoland«, sage er seinem Publikum, das dankbar seufze. Ja, Autoland, das sind wir auch! Erst dann zeige er niederländische Radschnellwege und kühn geschwungene Fahrradbrücken, die man in Deutschland nicht baut, weil sie Geld kosten.

17 Millionen Niederländer, 8 Millionen Autos: vom Verhältnis her fast wie in Deutschland. Aber dazu 22 Millionen Räder. Jeder Holländer radelt im Schnitt 1000 Kilometer im Jahr, jeder Deutsche nur 400. »Man kann in Holland so gut Auto fahren, weil es so viele Räder gibt!« Eine Pointe, die in deutschen Ämtern Erstaunen auslöst. Denn bei uns geht es andersherum: Eine Stadt kündigt die Streichung einiger Autostellplätze im Zentrum an, und die lokale Industrie- und Handelskammer beschwört tags darauf den Kollaps der kommunalen Wirtschaft.

Sjors van Duren hält das für kompletten Unsinn. Zum einen wisse man aus Studien, dass viele Parkplätze von den Ladeninhabern genutzt werden statt von ihren Kunden; zum anderen belebten die vielen Radfahrer das Geschäft, weil man sich wieder gerne in der Stadt aufhalte.

In Nimwegen Rad zu fahren ist ein Traum. Spektakulär ist der Snelbinder, die Fahrradbrücke über den Rhein. Parallel zur Eisenbahn, fern von allen Verbrennungsmotoren, gleiten die Radfahrer über den Strom, ins morgendliche Licht, in den frischen Wind. Die Steigung ist unmerklich, das Gefühl sensationell. Man fühlt sich erhoben, ernst genommen, respektiert. Ich bin an zwei Tagen gleich mehrmals drüber, so schön ist es. Die Brücke stellt die Verbindung zwischen der Altstadt und einem neuen Siedlungsgebiet her.

Als der sich anschließende, 16 Kilometer lange Radschnellweg Richtung Arnheim durch ein bestehendes Wohngebiet geplant wurde, seien die Anlieger wegen der Verengung der Fahrbahn zunächst nicht begeistert gewesen, hatte Sjors van Duren erzählt. Dann hätten sie durch den Umbau ein paar zusätzliche Parkplätze für ihre Autos bekommen, und alles war gut. Handeln durch Aushandeln!

Ähnliche Geschichten höre ich in anderen niederländischen Städten. Wer das Radfahren für naiven Ökoquatsch hält, sollte mal hinüberhuschen und ein paar Tage als Infrastrukturtourist in Holland herumfahren. Die Niederlande liegen noch vor Dänemark, was das Systemische angeht. Hier werden nicht mehr Wege geplant; hier wird in Wegenetzen gedacht. Alle neuen Radwege sind rot und asphaltiert, vielfach getrennt vom übrigen Verkehr, und wo nicht, haben sie meist die Vorfahrt.

In Utrecht am Bahnhof entsteht das größte Fahrradparkhaus der Welt mit 13.000 bewachten Stellplätzen, eine einladende Anlage. Mit dem Rad zum Zug, schneller und zuverlässiger als mit Taxi oder Bus, und man weiß es gut untergebracht.

Der absolute Knüller in Utrecht: die einzige Radfahrbrücke der Welt mit eingebauter Grundschule. Die Stadt wollte einen breiten Kanal mit einem Radweg überqueren, an der einzig möglichen Stelle stand aber eine Grundschule. Man baute also beides neu, und nun schwebt der Radler in einer Serpentine sanft auf das Dach der Schule und dann über das Wasser. Stadtplaner können Spaß haben und den Bürgern Freude machen: Die Dafne Schippersbrug beweist es.

Das 50.000 Einwohner zählende Houten bei Utrecht dürfte die fahrradfreundlichste Stadt der Welt sein. Die Stadt ist so angelegt, dass man von einer Ringstraße aus mit dem Auto jeden einzelnen Stadtteil erreichen kann, von jedem Stadtteil aus aber immer nur die Ringstraße erreicht. Zwischen den Vierteln ist Houten nur für Fußgänger und Radfahrer durchlässig. Mit dem Rad ist man immer schneller als mit dem Pkw. Der Effekt ist grandios: Man hat das Gefühl, in einer Parklandschaft zu leben. Zugleich sind alle Kenndaten der Stadt positiv: Die Umsätze der Geschäfte stimmen, die Einkommen und Mieten sind höher als anderswo, weil die Stadt so attraktiv ist. Verkehrsexperten aus Amerika, Afrika und China kommen her und können es nicht fassen, was sie sehen, hören und riechen. Kaum Blech, kaum Lärm, kaum Abgase, stattdessen spielende Kinder, Vogelgezwitscher und im Frühjahr leuchtendes, duftendes Grün.

Im nahen ’s-Hertogenbosch gibt es seit März sogar interaktive Ampeln. Fahrradfahrer, die eine App namens Schwung auf ihren Smartphones haben, bekommen grünes Licht, wenn sie sich einer Kreuzung nähern, solange es die Verkehrslage erlaubt. Ich kann das leider nicht ausprobieren, weil sich bei meinem Besuch die App nicht herunterladen lässt. Der Fortschritt hat also auch Haken – von Fragen des Datenschutzes (Bewegungsprofile) mal ganz abgesehen.

Und dann Eindhoven! Hier steht die Elbphilharmonie des Radverkehrs: An einem 70 Meter aufragenden Pylon hat man einen Kreisverkehr für Räder über eine autobahnähnliche Kreuzung gehängt. Die Radfahrer müssen eine kleine Steigung bewältigen, doch haben sie immer freie Fahrt. Des Nachts ist der schwebende Ring aufs Lieblichste illuminiert: die Kreuzung als Kunstwerk, dessen Strahlkraft in die Zukunft weist. Wer den Weg ins Nachbarland scheut, kann nach Frankfurt ins Deutsche Architekturmuseum fahren. Dort ist noch bis zum Herbst die Ausstellung Fahr! Rad! zu sehen, die mit gleich zwei Ausrufezeichen die Richtung angibt.

Die Schau präsentiert großartige Fahrradarchitektur aus aller Welt, von Xiamen bis Portland. Im Betrachter keimt der Wunsch, so etwas auch in Deutschland zu haben. Der Katalog ist ein Handbuch des Verkehrs von morgen. Das Rad ist dabei nie ein Ziel, sondern immer nur Mittel zum Zweck, die Bürger aus ihren rollenden Käfigen zu befreien.

Eine schöne Idee der Ausstellung ist die Einbeziehung der Schweizer Straße, die hinter dem Museum verläuft. Hier kann jeder die aktuelle Großstadtwirklichkeit ausloten. Am Feierabend Stop-and-go, temporäre Halteverbotsschilder stehen direkt auf dem Radweg, der seitlich bedrängt wird von den Schnauzen parkender Karossen. Die allgegenwärtigen Leihräder liegen umgestürzt herum, die auf den Gehweg gestellten Speisetafeln der Straßencafés und allerhand Outdoorjackenständer (»30 Prozent auf bereits reduzierte Artikel«) schränken den Bewegungsraum zusätzlich ein. Wie schön wäre es, aus dieser konfusen Straße etwas Ansprechendes zu machen! Erste Entwürfe hängen im Museum.

Ich beende meine Tour in einer Stadt, die in kurzer Zeit viel erreicht hat. Sie liegt entgegen den gängigen Radverkehrsklischees weder in Dänemark noch in den Niederlanden, sondern im östlichen Mitteleuropa. Ljubljana ist die Hauptstadt Sloweniens. Die Stadt hat so viele Einwohner wie Kiel, das Land nicht mal so viele wie Paris. Ljubljana ist so grün wie Hamburg und so fahrradfreundlich wie Kopenhagen – jedenfalls im Zentrum. Vor allem aber zeigt die Stadt, wie schnell sich etwas ändern lässt, wenn man will.

Denn hier imponiert der Radverkehr nicht durch großartige Bauwerke, sondern durch die rasch erfolgte Umwidmung der Straßen: Im Zentrum sind sie mit elektronischen Pollern versperrt. Anliefern ist möglich morgens zwischen sechs und zehn. Dann wachsen die Zapfen aus dem Boden. Anwohner haben eine Chipkarte, können also rein und raus mit dem Auto. Müssen sie aber nicht, denn die Kavaliere, eine kleine Flotte elektrischer Wägelchen mit Chauffeur, holen sie auf Anruf kostenlos ab. Den Service genießen auch Touristen.

Die Plätze sind belebt, die Bürger entspannt, so schön kann Großstadt sein. Vor dem Umbau 2008 war die Stadt gespalten; die Hälfte der Bewohner war dagegen. Die letzte Umfrage zeigte eine Zustimmung von 94 Prozent.

Matija Dvoršak fährt mit mir herum. Der gelernte Landvermesser, der gerade noch Umwelttechnologie draufsattelt, finanziert sich das Studium als Lastenradfahrer bei der LMC Coop. Das Kürzel LMC steht für Last Mile Cargo. Da geht es um den letzten Kilometer der Paketzustellung, hier im Auftrag des großen Anbieters DPD.

Dvoršak liefert H&M-Klamotten aus, Smartphones, »alles von Büchern bis zu elektrischen Tretrollern«. Im dritten Jahr gebe es das Angebot jetzt, anfangs täglich nur eine Tour, inzwischen drei bis vier. Es geht voran.

Lastenräder sind langsamer als andere Räder und brauchen mehr Platz, wenn auch nicht so viel wie ein Auto. Matija Dvoršak meckert ein bisschen, dass ihm viele Wege außerhalb des Zentrums mit ihrer Enge und ihren Kanten das Fahren schwer machten. Eine Klage auf hohem Niveau. Ich lade ihn nach Hamburg ein. Bin gespannt, was er dann sagt.

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Hinter der Geschichte: Unser Reporter ist ADAC- und ADFC-Mitglied. Er fährt einen 15 Jahre alten Diesel und erschrickt, wenn ihm nachts in Hamburg schwarz gekleidete Radfahrer ohne Licht entgegenkommen. Er besitzt ein Rennrad, ein Stadtrad, ein Trekkingrad und ein Elektrorad. Zu Fuß geht er im Übrigen auch. Manchmal nimmt er den Bus.

Illustrationen Paul Paetzel

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