Wo Hitler wirklich den Krieg verlor
Wo Hitler wirklich den Krieg verlor
Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen hat der Zweite Weltkrieg vom September 1939 bis zum Mai 1945 gedauert und ist wesentlich in Europa ausgetragen worden. Zugegeben: Rommels Afrikakorps hat in einem außereuropäischen Raum operiert, aber das ist eine nur geringfügige Grenzüberschreitung, von der die räumlich-zeitliche Erinnerung an den Krieg hierzulande nicht weiter tangiert wird. Anderswo erinnert man sich anders, schließlich wurde dieser Krieg auf zwei »Kriegsschauplätzen« ausgetragen, dem europäischen und dem ostasiatisch-pazifischen. In angloamerikanischen Darstellungen wird der Zweite Weltkrieg darum meist in der Art eines Diptychons beschrieben: Die in den beiden Räumen geführten Kriege hatten wenig miteinander zu tun, aber da sie tendenziell in derselben Zeitspanne stattfanden, lassen sie sich zu einem einzigen großen Krieg zusammenschreiben, zumal Briten und US-Amerikaner in beiden Räumen Kriegsbeteiligte waren.
Durch einen Perspektivwechsel hat jetzt Dan Diner diese räumlich-zeitliche Fixierung des Zweiten Weltkriegs aufgelöst. Auf den ersten Blick resultiert der Perspektivwechsel daraus, dass Diner das Kriegsgeschehen aus Sicht der in Palästina ansässig gewordenen Juden darstellt. Diese waren im Sommer und Herbst 1942 durch den bis zur ägyptischen Grenze führenden Vorstoß des deutschen Afrikakorps und das Vordringen deutscher Truppen bis in die Kaukasusregion in existenzielle Bedrohung geraten. Sie mussten nämlich davon ausgehen, dass die Briten bei einem weiteren Vordringen der Deutschen ihre Verteidigung nach Mesopotamien zurückverlegen würden, womit die Juden in Palästina Hitlers Zugriff ausgeliefert gewesen wären. Diese Bedrohungslage endete mit den deutschen Niederlagen bei El-Alamein und Stalingrad. Danach konnte sich die jüdische Gemeinschaft in Palästina wieder ihren eigenen Problemen widmen: dem Konflikt mit den ansässigen Arabern, den Auseinandersetzungen mit der britischen Mandatsmacht und schließlich der Zuwanderung von aus Europa fliehenden Juden. Der Fortgang des Weltkriegs wurde für sie zum Randgeschehen – und damit auch der von den Nazis organisierte Holocaust, der seinen Höhepunkt ja erst mit dem Rückzug der Wehrmacht aus Osteuropa erreichte.
Hätte Diner es dabei belassen, so hätte er der vorherrschenden Sicht auf den Zweiten Weltkrieg eine zusätzliche Perspektive hinzugefügt, aber keinen Perspektivwechsel vollzogen, mit dem sich die Raum- und Zeitstrukturen dieses Krieges verändern. Dass es ihm nicht zuletzt darum geht, zeigt ein zweiter Blick auf das Buch. Diner analysiert das Kriegsgeschehen nämlich nicht entlang der vorherrschenden Ost-West- oder West-Ost-Achse, sondern stellt es gemäß einer Süd-Nord-Beziehung dar. Damit rückt das britische Empire ins Zentrum: als weltumspannende Macht, deren Niedergang sich während des Krieges beschleunigt, was schließlich zur Übernahme der britischen Rolle und Machtstellung durch die USA führt. Infolge von Diners Perspektivverschiebung ist der Zentralort des Kriegsgeschehens nicht der Pazifik, wo die großen Seeschlachten zwischen US-amerikanischen und japanischen Flottenverbänden stattfanden, und auch nicht der Nordatlantik, wo deutsche U-Boote versuchten, die amerikanischen Waffen- und Munitionstransporte nach England zu unterbrechen. An deren Stelle tritt vielmehr der Indische Ozean, wo es zwar keine großen Seeschlachten gab, der aber die logistische Schaltzentrale für die Versorgung der Sowjetarmeen und der gegen die Japaner kämpfenden chinesischen Truppen Chiang Kai-sheks mit Waffen und Munition durch die USA war. Von hier aus wurde die Durchhaltefähigkeit der auf beiden Kriegsschauplätzen gegen Deutsche und Japaner kämpfenden Armeen sichergestellt. Der in klassischen Kriegsdarstellungen kaum thematisierte Indische Ozean wird von Diner als logistischer Zentralraum entdeckt. Letztlich, so seine These, ist der Krieg hier entschieden worden.
Der Historiker Dan Diner, der in Essen, Leipzig und Jerusalem gelehrt hat, praktizierte das Verfahren des Perspektivwechsels bereits 1999 in seinem Werk Das Jahrhundert verstehen, in dem er die Geschichte des europäischen 20. Jahrhunderts nicht von Berlin, London oder Paris aus, sondern vom Schwarzen Meer her dargestellt hat. Das hat die für selbstverständlich gehaltenen Ereignisabfolgen durcheinandergebracht. Wahrscheinlich hat Diner damit die eurozentrische Historiografie sehr viel folgenreicher konterkariert als viele Kritiker, die dem Eurozentrismus eine Globalgeschichte aus asiatischer oder afrikanischer Perspektive entgegengesetzt haben. Diner verlegt den Blickpunkt auf das Geschehen nämlich an die europäische Peripherie, lässt ihn aber Europäer einnehmen und behält diese auch als ausschlaggebende Akteure im Auge. Das irritiert die gewohnte Sichtweise sehr viel stärker als ein gänzlich anderer Blick. In Diners neuem Buch sind es neben den palästinensischen Juden die Briten, aus deren Sicht der Krieg beschrieben wird; von den Briten allerdings nicht diejenigen, die in London die Verteidigung der Inseln gegen die deutsche Bedrohung organisierten, sondern jene, die den imperialen Raum vom Nahen Osten über Indien bis nach Burma zu verteidigen hatten – und dabei trotz des militärischen Sieges letzten Endes gescheitert sind. In ihren Zuständigkeitsbereich gehörte auch Palästina mitsamt der jüdischen Gemeinschaft. Deren Anwachsen sorgte zunehmend für Konflikte mit den Arabern, auf deren wohlwollende Unterstützung die Briten bei der Aufrechterhaltung des Empire angewiesen waren. Dementsprechend vorsichtig war ihre Unterstützung der Juden in Palästina – mit verheerenden Folgen für die Eröffnung von Fluchtwegen aus dem von Hitler beherrschten Europa.
Dadurch gerieten das zionistische Projekt einer jüdischen Heimstätte in Palästina und die britische Imperialpolitik zunehmend auf Kollisionskurs. Die Gemeinsamkeit der Interessen beschränkte sich auf jene Zeitspanne, in der ein deutscher Einbruch nach Ägypten und das Vordringen von Rommels Panzern über den Sueskanal drohte. Als das abgewendet war, traten die Gegensätze wieder hervor; die Konflikte zwischen britischer Mandatsmacht und jüdischen Siedlern wurden noch während des Weltkriegs immer häufiger gewaltsam ausgetragen. Das war dann auch real »ein anderer Krieg«, und in ihm waren plötzlich Freund-Feind-Unterscheidungen vorherrschend, die zu denen des fortdauernden Weltkriegs quer standen.
Der engere Fokus von Diners Analyse liegt auf Palästina, doch das dortige Geschehen ist nur zu begreifen, wenn der Blick immer wieder auf einen Raum geweitet wird, der vom östlichen Mittelmeer und von der Schwarzmeerregion bis zur östlichen Peripherie des Indischen Ozeans reicht. Die von Diner behandelte Zeitspanne beginnt mit Mussolinis Angriff auf Äthiopien im Jahr 1935, der unter Einbezug von Somalia und Eritrea in die Errichtung eines italienischen Kolonialreichs in Ostafrika mündete. Dieser italienische Block in Ostafrika wurde zur Bedrohung für die »Halsschlagader« des britischen Weltreichs: die Kontrolle über Ägypten und den Sueskanal. Die Rolle des italienischen Kolonialreichs für den Verlauf des Zweiten Weltkriegs, in der deutschen Forschung bislang unterbelichtet, wird von Diner als prägendes Element des Kriegsverlaufs außerhalb von Europa herausgearbeitet. Dafür tritt der Krieg in Osteuropa in den Hintergrund. Auch das führt zu dem, was Diner einen »anderen Krieg« genannt hat. Sein Buch ist nicht nur ein Plädoyer für den Multiperspektivismus, sondern hierfür ein glänzend gelungenes Beispiel. Es zeigt, dass der Zweite Weltkrieg ein viel zu komplexes und verzweigtes Ereignis war, als dass es in einer bestimmten Sicht zuverlässig eingefangen werden könnte. Vor allem aber: Man geht durch eigentlich vertrautes historisches Gelände, aber weil man es von einer anderen Seite her betreten hat, wirkt plötzlich vieles anders und regelrecht neu.
Herfried Münkler, 69, ist emeritierter Professor für Theorie der Politik an der Humboldt-Universität zu Berlin; im August erscheint von ihm »Marx, Wagner, Nietzsche. Welt im Umbruch« (Rowohlt Berlin)
***
Dan Diner: Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg 1935–1942; Deutsche Verlags-Anstalt, München 2021; 352 S., 34,– €, als E-Book 29,99 €