Gegen den Baum

Im Waldland Thüringen sterben massenhaft Fichten, auch Eschen und Buchen sind krank. Das hat viele Gründe. Unterwegs mit zwei Förstern, die sie alle erklären können VON MARTIN DEBES Fotos: Thomas Victor für DIE ZEIT

Alles leuchtet in hellem Grün. Die Kronen der alten Buchen und Ahornbäume. Die jungen Douglasien, die versuchen, sich zwischen den großen zu behaupten. Die Blätter des Bärlauchs, die den weichen Boden bedecken wie ein Teppich.

Hier im Hainich, in Thüringens Vorzeigewald, scheint jedwedes so zu wachsen, wie es wachsen soll. Hier scheint das romantische Bild noch intakt, hier ist Thüringen, wie die Welt es sich vorstellt: wunderschön grün, voll kräftigem, gesundem Baumbestand.

Oder?

Forstamtsleiter Dirk Fritzlar ist nicht ganz so optimistisch: Man soll ihm ein Stück folgen. Er hat das Auto an einer Gabelung geparkt und läuft den lehmigen, von Forstfahrzeugen zerfahrenen Weg hinauf zu einer flachen Kuppe. Dort bleibt er stehen. Und sagt erst einmal nichts.

Denn hier ist nichts mehr grün. Fichte steht an Fichte, braune Stämme, braune Zweige, braune Nadeln. »Alles tot«, sagt Fritzlar, im amtlichen Tonfall eines Pathologen bei der Leichenschau. »Totalverlust.« Es sind nur um die 150 Bäume, auf einer Fläche von einem halben Hektar, die hier verloren sind, befallen vom Borkenkäfer, einem Schädling, der vor allem von Trockenheit und Hitze profitiert. Und doch ist die Zerstörung, in diesem Teil des Waldes, vollständig. »Wenn das so weitergeht«, sagt Dirk Fritzlar, »dann wird die Fichte bei uns in fünf Jahren flächig verschwunden sein.«

Dirk Fritzlar ist eigentlich keiner, der die Dinge dramatisiert. Er ist 52 Jahre alt, hat ein freundliches Gesicht, kurzes graues Haar, seine Dienstkluft besteht aus einer dunkelgrünen Arbeitshose, Wanderschuhen und einer schwarzgrünen Jacke mit der Aufschrift »ThüringenForst«. Dies hier ist seine Heimat. Das kleine Dorf Langula, aus dem er stammt, liegt gleich unten im Tal. Die Landesgrenze nach Hessen ist nicht weit, nach Eisenach sind es 25 Kilometer. Mit diesem Wald ist Fritzlar aufgewachsen, für diesen Wald trägt er heute die Verantwortung. Er ist sein ganz persönliches Revier. Und das leidet.

Der tödliche Algorithmus des neuen Waldsterbens, das sich hier in Thüringen beobachten lässt, setzt sich zusammen aus: Stürmen, Dürren, Schädlingen. Es ist diese Kombination, die nicht nur die Fichte und die Kiefer vernichtet, sondern auch die Esche und die Buche. Und die die Lebensgrundlage der Menschen gefährdet, die von der Waldbewirtschaftung leben. Weil nicht nur in Deutschland, sondern auch in Osteuropa ganze Wälder wegsterben, ist der Holzmarkt implodiert. Gerade die Fichte, sagt Fritzlar, gelte inzwischen, wegen des Überangebots auf dem Markt, als nahezu unverkäuflich. Mancher Forstbetrieb stehe vor der Pleite. Später, in seinem Büro, wird Fritzlar eine Karte der Schadensgebiete zeigen, im Werratal, in den tieferen Lagen des Thüringer Waldes, im Harz. Er habe, sagt er, viel mit älteren Kollegen über die Situation gesprochen, auch mit jenen, die längst in Pension seien. »Aber das jetzt hat noch keiner erlebt.«

Waldsterben: Dieses Wort kennt man aus den 1980er-Jahren. Doch wenn man den negativsten Szenarien glaubt, ist es diesmal noch schlimmer. Gegen die damaligen Hauptursachen, die Luftverschmutzung und den sauren Regen, ließ sich selbstbestimmt etwas tun. Doch gegen den neuen, größeren Feind wirken alle ohnmächtig – Politiker, Unternehmer, Wissenschaftler. Denn es sind ganz offensichtlich die Folgen des Klimawandels, die nun komplette Waldbestände dahinraffen. »Die Klimakrise ist angekommen und wahrnehmbar«, sagt auch Thüringens grüne Umweltministerin Anja Siegesmund. Die Zukunft des Thüringer Waldes ist, politisch gesehen, inzwischen ein Thema, das ganz oben angesiedelt ist.

Corinna Geißler ist an diesem Tag extra aus dem Forst-Forschungszentrum in Gotha in Fritzlars Forstamt gekommen. Sie hat Folien mit bunten Diagrammen dabei. Diese zeigen, wie die jährliche Durchschnittstemperatur seit Jahrzehnten anstieg, während parallel die Niederschlagsmenge in den niedrigen Lagen nachließ. »Dank unserer Messstationen wissen wir, dass die Bodenfeuchte seit 20 Jahren sinkt«, sagt Geißler. Dies bildete die Basis für das, was Anfang 2018 begann. Damals richteten schwere Stürme große Schäden an: »Der Hauptsturm war Friederike, bei dem sehr viel Fichte, aber auch Laubholz umgefallen ist«, sagt Geißler.

Danach, sagt sie, sei es zu einer »blöden Kopplung von Umständen« gekommen. Denn das Klima wurde noch wärmer und noch trockener. Eine Jahrhundertdürre setzte ein; die ohnehin geschwächten Fichten konnten kein Harz bilden, weil es an Wasser fehlte. Bäume ohne Harz aber sind gegen die Borkenkäfer schutzlos.

Für den Schädling wiederum waren die klimatischen Bedingungen ideal. »Die Käfer hatten es super kuschlig«, sagt Corinna Geißler. Sie konnten sich in riesiger Zahl vermehren.

Die Käfer töten arbeitsteilig. Der Buchdrucker, eine Unterart des Borkenkäfers, nicht länger als einen halben Zentimeter, bohrt sich unter die Borke von Fichte, Lärche oder Kiefer, legt dort seine Larven in eigens angelegten Gängen ab und unterbricht damit das Versorgungssystems der Baumes von unten. Der noch kleinere Kupferstecher geht direkt in die Kronen und in die jungen Bäume. In der Folge kommt es zur Kettenreaktion. Bis zu 20.000 Tiere wachsen in einem einzigen Baum heran und fliegen danach bis zu 500 Meter, um sich in die nächste Rinde hineinzufressen.

Nachdem schon die Stürme mehr als eine Million Festmeter Holz vernichtet hatten, fielen so im vergangenen Jahr noch einmal 800.000 Festmeter dem Borkenkäfer zum Opfer. Es war der höchste Schaden seit der großen Käferplage in den Nachkriegsjahren 1946 und 1947.

Und das, sagt Corinna Geißler, sei noch wenig – im Vergleich zu dem, was in diesem Jahr drohe. Denn nach der Dürre des Sommers fiel auch der Winter zu trocken und zu mild aus. Die Käfer, denen nur starker, langanhaltender Frost etwas anhaben kann, überlebten fast alle und konnten im sommerlich warmen April 2019 ungestört ausfliegen. »Das ist der Killer für dieses Jahr«, sagt Geißler.

Aber was ist mit dem Regen, der im Mai kam, den Starkgewittern im Juni, hat es nicht genug geregnet inzwischen? Geißler lacht. »Wasser hilft immer«, erklärt sie, »aber so müsste es jetzt zwei Monate durchregnen, bei 14 Grad, nur um wieder die Bodenfeuchte zu erreichen, die hier normal wäre.«

Zumal: Der Regen verhindere vielleicht Waldbrände, wie sie in diesem Jahr ungewöhnlich früh ausbrachen. Aber gegen die Borkenkäfer helfe er nicht mehr.

»Das geht uns ganz schlimm nah«, sagt Geißler. Denn es gebe so viele ungelöste Fragen. Wenn die Fichte sterbe, was passiere dann mit dem Wald? Mit dem Grundwasser? Mit dem Boden? Mit dem lokalen Klima? Mit dem gesamten Ökosystem? »Das«, sagt sie, »ist eine schleichende Katastrophe.« Und längst nicht nur die Thüringer Wälder sind davon betroffen. Es ist in Niedersachsen, in Schleswig-Holstein, in Franken die Rede von ganz ähnlichen Entwicklungen. Auf wissenschaftlichen Tagungen, in den Landesparlamenten wird es wieder diskutiert: das Waldsterben.

Was kann man tun dagegen? Nun, es wächst auch Hoffnung nach, gerade hier, im Westen Thüringens. Im Hainich, der zu großen Teilen ein Nationalpark ist, wird viel experimentiert, und dies mit gewissem Erfolg. Auch das wollen Corinna Geißler und Dirk Fritzlar zeigen. Da sind die Stellen, unten im Tal, wo man junges, frisches Grün sehen kann: Da, sagt Fritzlar, habe 2007 der Orkan Kyrill eine ganze Waldfläche vernichtet. Inzwischen ist der Wald nachgewachsen, mit einem Dutzend Baumarten: Buche, Eiche, Bergahorn, Spitzahorn, Kirsche, Birke, Douglasie, Weißtanne, Lärche ... Es ist einer der Versuche, die im Hainich gleichzeitig ablaufen, vom Plänterwald, in dem junge und alte Bäume wild durcheinanderwachsen, bis zum Urwald, der gar nicht bewirtschaftet wird. Viele verschiedene Baumarten, keine Monokulturen mehr. »Wir wollen einen naturnahen Mischwald«, sagt Corinna Geißler, »einen Dauerwald, der immer nachwächst, sich selbst erneuert.« Den zu schaffen, das wird viele Jahre dauern. Und die Fichte wird bis dahin in den niedrigen Lagen verschwunden sein. Es gibt in Thüringen heute ein »Landesprogramm Waldumbau«, mit dem das Umweltministerium »klimastabile Mischwälder« etablieren will; auf rund 18.000 Hektar Fläche. Vor allem Laubbäume wie Buche und Eiche, aber auch Weißtannen sollen gezielt gepflanzt werden.

Das alles wird der Fichte im Hainich wohl nicht mehr helfen. Man sieht das, wenn man mit Dirk Fritzlar und Corinna Geißler einen Feldweg von Creuzburg aus hinauffährt, zum Hausberg. Oben, am Waldrand, stapeln sich die Stämme an Käfer- und Sturmholz, zwischen Laubbäumen stehen noch einige einsame Fichten, die, auf den ersten Blick, halbwegs gesund aussehen.

»Hier sind wir eigentlich durch«, sagt Fritzlar. Er nimmt ein Schäleisen, geht einige Meter in den Wald und beginnt, mit seinem Werkzeug die Borke von den Bäumen zu schaben. Bei der zweiten Fichte wird er fündig. Unter der Borke zeigen sich die typischen Gangstrukturen des Borkenkäfers, sie schauen aus wie ein aufgeschlagenes Buch. »Das Schwierige ist, dass man den Bäumen von außen kaum einen Befall ansieht«, sagt Corinna Geißler. Die Löcher, die der Käfer in die Rinde bohre, seien bestenfalls aus der Nähe zu erkennen. Danach müsse der Baum schnell gefällt und aus dem Wald gebracht werden, bevor die Tiere ausfliegen könnten. Doch viel zu oft sei es schon zu spät. »Alle Lagen unterhalb von 400 Metern sind betroffen«, sagt Geißler. Weiter oben, in den Kammlagen des Thüringer Waldes oder des Harzes, falle bislang noch genug Regen. Zudem sei es dort im Winter hinreichend kalt.

Nicht nur den Nadelbäumen fehlt das Wasser. Einmal, beim Aussteigen aus dem Auto, sagt Dirk Fritzlar zu Corinna Geißler: »Hast du die Buchen gesehen, an der Straße? So schlimm hatte ich es nicht vermutet. Die Hälfte der Kronen ist trocken.« Corinna Geißler nickt, und dann erklärt sie, was das Problem ist: »Wir denken, dass die Trockenheit im vergangenen Jahr viele Feinwurzeln der Buchen beschädigt hat«, sagt sie. »Erst jetzt sehen wir, dass viele Buchen abgehen, weil sie einfach vertrocknen. Sie treiben noch ein bisschen aus, und dann ist zumeist Schluss.« In ganz Nordthüringen sei dies ein großes Problem.

Ob man noch mehr schlechte Nachrichten verträgt? »Die Esche ist noch schlimmer dran«, sagt Fritzlar. »Die stirbt uns überall weg, komplett. Die jüngsten trifft es zuerst, die ältesten zuletzt.« Die Schuld trägt hier der aus Asien eingewanderte Pilz Hymenoscyphus fraxineus, das Falsche Weiße Stengelbecherchen. Seit zehn Jahren breitet er sich unaufhaltsam aus, verstopft die Leitungsbahnen der Bäume. 16.000 Hektar seien in Thüringen befallen.

Auch dies, sagt Geißler, sei aus ihrer Sicht eine direkte Folge des Klimawandels. »Die Wärme ist für alle Pilzarten gut.« Sie hält den Wald für so krank wie seit bald 30 Jahren nicht mehr. Nur noch 19 Prozent aller Bäume gelten als nicht geschädigt.

Die Laune, man muss das so sagen, wird nicht unbedingt besser, wenn man mit Fritzlar und Geißler, in diesen Wochen, in Thüringens Wäldern unterwegs ist. »Wir sind alle am Limit«, sagt Fritzlar. Das Land habe in den vergangenen Jahren in den Forstbetrieben Personal abgebaut, und selbst wenn es Stellen für Waldarbeiter gebe, bekomme man die nicht besetzt. Kaum jemand wolle diese Aufgabe übernehmen.

Schließlich sagt Corinna Geißler doch einen Satz, der Hoffnung macht.

So schlimm die Situation gerade sei, so dramatisch für die Natur und so bitter für die Menschen: Sie biete auch die Chance, den sowieso nötigen Umbau des Waldes, weg vom Fichtenwald, hin zum Mischwald, zu beschleunigen.

Sie zögert kurz, dann fügt sie an: »Wenn wir die Kraft haben.«

Thüringer Baumkunde

Fichte: Thüringens wichtigster Baum, macht 38 Prozent des Bestandes aus. Dominiert den Thüringer Wald und das Schiefergebirge. Ist anfällig für Trockenheit und Borkenkäferbefall. Laut Waldzustandsbericht 2018 hat sich der Zustand »überdurchschnittlich verschlechtert«. Nur noch etwa jeder vierte Baum sei gesund. Die Fichte gehört zu den Kieferngewächsen, ist immergrün, wird 40 bis 60 Meter hoch und 600 Jahre alt. Weiches Holz.

Buche: In Urzeiten war Thüringen ein Land der Buchen. Heute liegt der Rotbuchen-Anteil in Thüringer Wäldern bei 20 Prozent. Laubbaum, der saure, kalkige Böden bevorzugt. Wird 45 Meter hoch und 300 Jahre alt. Sein hartes Holz wird in der Möbelindustrie verwendet. Breitet sich wegen des Klimawandels auch in höheren Lagen aus.

Kiefer: Rund 15 Prozent der Thüringer Bäume sind Kiefern. Die Hälfte davon gilt als krank. Der Baum benötigt viel Licht, kann sich deshalb schwer gegen Konkurrenz durchsetzen. Kiefern werden bis zu 500 Jahre alt und bis zu 50 Meter hoch. Da das Holz einen hohen Harzanteil hat, wird es oft als Bauholz verwendet. Das Harz erhöht aber auch die Brennbarkeit: Kiefernwälder brennen besonders oft.

Eiche: Mit einem Anteil von sieben Prozent der zweithäufigste Laubbaum Thüringens. Aber: Zwei Drittel der Bäume weisen starke Vitalitätsverluste auf, nur jeder 20. Baum gilt als gesund. Eichen können 40 Meter hoch und 1000 Jahre alt werden, ihre Stämme erreichen einen Durchmesser von bis zu drei Metern. Bedroht werden sie durch Schmetterlingsarten beziehungsweise deren Larven und Raupen. MD

Das Übel von oben: Vom Borkenkäfer befallene Fichten im Plenterwald bei Langula (Unstrut-Hainich-Kreis)

Im Naturschutzgebiet Hainich: Die Rinde eines Baumes mit Borkenkäferbefall – und ein sterbender Wald (u.)

Oben: Die kranken Fichten haben eine rötliche Krone. Unten: Dirk Fritzlar und Corinna Geißler, Forst-Experten