DER MANN, DER ZU VIEL WUSSTE
TEXT TILL RAETHER ILLUSTRATION TILL LAUER
Meine Großmutter hätte gesagt, ich sei ein kräftiger Mann. Leider ist sie vor längerer Zeit gestorben, ich würde mich gern hin und wieder an dieser Formulierung wärmen. Es klingt stark. Allerdings meinte sie, wenn sie diese Formulierung auf jemanden anwendete: stattlich, breit, wohlgenährt. Eigentlich eine Statur, in der man sich als Mann in der Lebensmitte gut einrichten könnte. Ich würde es mir gern darin gemütlich machen, nur in Omas Sinne ein kräftiger Mann zu sein und nicht sportlich gesehen. Aber meine Frau, die Wissenschaftsjournalistin, berichtet mir mit steigender Frequenz von Studien, die zeigen, dass Krafttraining für die Gesundheit viel wichtiger ist als bisher angenommen. Vor allem ab den mittleren Jahren, sagt sie, sei Muskelaufbau das A und O.
Ich verweise darauf, dass ich gerade dabei bin, mich an YouTube-Yoga zu gewöhnen, und dass ich bis vor vier, fünf Jahren jährlich einen Halbmarathon gelaufen bin. Dehnbarkeit ist wichtig, sagt sie, aber du zehrst von der Substanz. Ich gebe zu bedenken, dass in der Familie immer noch ich es bin, der dafür zuständig ist, Gurkengläser aufzumachen. Während ich es ausspreche, wird mir klar, dass diese Rolle längst mein Sohn übernommen hat. Meine Frau sagt: Du musst Krafttraining machen, um mit wachsendem Alter den Status quo zu erhalten. Use it or lose it. Nutz es, oder verlier es. Also sie. Die Muskeln.
Es fällt mir schwer, mich englischen Spruchweisheiten zu entziehen, die sich reimen. Fake it til you make it habe ich immer beherzigt, warum also nicht use it or lose it. Ist es gut, das zu wissen, oder wäre ich lieber im Unklaren geblieben und hätte mich an meinen Spaziergängen und meinen alten Halbmarathon-Teilnahme-Medaillen erfreut? Meine Freude, wenn ich 8.000 Schritte am Tag erreiche, ist getrübt dadurch, dass ich denke: Na gut, schön rumgelatscht, aber nicht Richtung Krafttraining.
Eigentlich dachte ich, Krafttraining sei etwas für junge Menschen, die das aktuelle Körperideal noch erfüllen können. Mein Sohn, 20, ist sehr trainiert, er hat große Muskeln und verwendet viel Zeit darauf, damit sie so bleiben. Ich möchte mich da eigentlich nicht einmischen, irgendwie ist das sein Bereich. Aber meine Frau, die es hasst, wenn Dinge rumstehen, und den Familienrat einberuft, wenn ein kleinflächiges neues Küchengerät angeschafft werden soll, denkt plötzlich über die Anschaffung einer Kraftstation für den Keller nach. Sie zeigt auf ihre Studien, auf all die positiven Gesundheitswirkungen, vor allem im Alter, und sagt, diese Kraftstation sei eine Investition in unsere Zukunft.
Bis ich die entsprechende Fläche im Keller frei geräumt habe, geht sie einmal die Woche in einen Muskelaufbau-Kurs, den ihre Krankenkasse finanziert. Kurz denke ich über Eigengewichtsübungen nach, wegen des niedrigen logistischen Aufwands, finde dann aber, dass ich vielleicht doch etwas leichter einsteigen sollte, wegen recht hohen Eigengewichts. Ich melde mich im Fitnessstudio an, finde den Kraftraum dort eigentlich ganz angenehm, lasse mir ein paar Übungen zeigen und gehe dann nie wieder hin. Es tut mir leid, ich kann es nicht erklären, ich habe dieses Verhalten in den Neunzigerjahren verinnerlicht, ihr könnt einem alten Hund keine neuen Tricks beibringen.
Meine Frau budgetiert die Anschaffung der Kraftstation, ich werfe die Frage auf, ob sich das wirklich lohnen würde, denn wie lange würden wir die benutzen – bis wir Mitte sechzig sind oder so?
Sie sieht mich an und sagt, nein, also nach ihrer Kenntnis, nach den Studien, sei das für immer, bis ans Ende. Für den Stoffwechsel, den Knochenbau, die Beweglichkeit im Alltag, gegen alles, was krank macht. Muskel ist Leben, sagt sie. Pumpen, bis der Arzt nicht mehr kommt. Ich nicke, das Verstehen sickert ein. Meine Vision fürs Alter war bisher, dass ich wie ein alter Mann in einem portugiesischen Dorf in Anzughose und kurzärmeligem Hemd am Brunnen sitze und ab und zu meinen Gehstock schwenke und dass der Rest mir egal ist. Jetzt muss ich das so visualisieren, dass sich unter dem Hemd dickere Bi- und Trizepse spannen, als ich sie jetzt gerade habe. Dass Altern nichts für Feiglinge ist, wurde mir schon häufiger mitgeteilt, aber ich dachte, es sei wenigstens was für Faulpelze.
Till Raether ist Journalist und Schriftsteller. Er war stellvertretender Chefredakteur der »Brigitte« und arbeitet heute freiberuflich als Autor. Seine Kriminalromane mit Hauptkommissar Adam Danowski sind bei Rowohlt erschienen. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg.