Juristischer Nebel

Im März ließ Kardinal Woelki den Kölner Anwalt Björn Gercke ein aufwendiges Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen präsentieren. Die drei Fachleute JÖRG SCHEINFELD, SARAH GADE UND CHRISTIAN ROSSMÜLLER sehen in dem Report schwere Mängel: Er lasse Bischöfe strafrechtlich viel zu leicht davonkommen

Im Jahr 1986 erfuhr der Kölner Generalvikar von einem Küster, dass ein Gemeindepfarrer seine Messdiener dort berühre, »wo es nicht sein sollte«, dass er sie »am Hintern« anfasse und dass sein Gesicht dabei leuchte. Im selben Jahr berichtete eine Gemeindereferentin, dass besagter Pfarrer »die körperliche Nähe zu Jungen bis zu 10 Jahren« suche, sie selbst habe beobachtet, wie der Pfarrer zunächst seine Hand zwischen die Beine eines Jungen habe gleiten lassen und dann mit ihm um die Ecke verschwunden sei. Der Generalvikar stellte den Pfarrer zur Rede, der bestritt die Vorwürfe. In einer Untersuchung des Erzbistums durch den Strafrechtler Björn Gercke bestätigt der Generalvikar 35 Jahre später, Erzbischof Joseph Höffner informiert zu haben. Ansonsten habe er keine Erinnerungen mehr an diesen Verdachtsfall. Und Höffner? Er entschied 1986: »Wir warten ab.«

Fast fünf Jahre später, im Januar 1991, wurde der Pfarrer dann wegen Sexualstraftaten von der Staatsanwaltschaft angeklagt. Er soll »an vier Tagen mit zwei Jungen gegen Entgelt onaniert« haben. Gegen Zahlung von 30 000 D-Mark wurde das Verfahren eingestellt. Nahe liegt, dass diese Taten hätten verhindert werden können, wenn Erzbischof Höffner 1986 gehandelt hätte. Juristisch wirft dies die Frage nach einer strafbewehrten Verhinderungspflicht auf.

Björn Gercke verneint sie. Im Auftrag von Kardinal Rainer Maria Woelki hat der Strafverteidiger mit Kanzleikollegen das Missbrauchsgeschehen im Bistum Köln begutachtet. Dem Gercke-Gutachten ist die Schilderung der Geschehnisse entnommen (Aktenvorgang 18). Nach Gerckes Rechtsansicht wäre Höffner strafrechtlich entlastet. Die Argumentation weist jedoch schwere Mängel auf, zieht insbesondere die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs nur selektiv heran.

Juristisch betrachtet geht es im Kern um die sogenannte Geschäftsherrenhaftung, die vor allem auf Manager angewandt wird, wenn diese von Straftaten ihrer Mitarbeiter erfahren und nicht dagegen vorgehen. Wenn diese Straftaten in einem Bezug zum Betrieb oder zur betrieblichen Tätigkeit des Angestellten stehen, sind Vorgesetzte zum Einschreiten verpflichtet, müssen also drohende Straftaten unterbinden. Bleiben sie untätig, machen sie sich selbst wegen Beihilfe durch Unterlassen strafbar, wenn es zu neuen Taten kommt.

Das Gercke-Gutachten gibt vor, sich an diese Kriterien zu halten und sie auf die Kirche zu übertragen. Im Kapitel zum weltlichen Strafrecht verneint es den inneren Zusammenhang der Sexualstraftaten zur kirchlichen Tätigkeit der Pfarrer, weil Sexualstraftaten an Kindern auch in Turn- und Sportvereinen vorkommen. Dies lasse nämlich »darauf schließen, dass strukturelle Probleme, Autoritätsstellungen oder Machtstrukturen wesentliche Faktoren zur Begünstigung sexuellen Missbrauchs« seien und »es sich nicht um eine spezifisch der kirchlichen oder seelsorgerischen Tätigkeit anhaftende Gefahr« handele, wie es auf Seite 162 heißt.

Hier lohnt ein genauer Blick: Erkennt Gercke »Autoritätsstellungen« und »Machtstrukturen« zunächst noch ausdrücklich als Faktoren an, die sexuellen Missbrauch begünstigen, so verschiebt er dann fein leise die Kriterien hin zu dem Erfordernis, dass die Gefahr »spezifisch« (im Sinne von »ausschließlich«) der Kirche anhaftet. Die gegenläufige, richtige und sich aufdrängende Schlussfolgerung, dass ein Ausnutzen von beruflicher Autorität und Macht sowohl beim Priester in der Kirche als auch beim Trainer im Sportverein den »inneren Zusammenhang« zur Tätigkeit begründet, zieht Gercke erstaunlicherweise nicht. Aber will er wirklich vertreten, dass der innere Zusammenhang zur beruflichen Position fehlt, wenn der Trainer seine 13-jährige Leistungsturnerin zum Geschlechtsverkehr nötigt mit der Drohung, sie bei Weigerung zukünftig nicht mehr für die Riege aufzustellen?

In Wahrheit liegt der nötige innere Zusammenhang auf der Hand. Der Bundesgerichtshof bejaht ihn insbesondere, wenn der Täter die durch seine »Stellung im Betrieb eingeräumten Machtbefugnisse zur Tatbegehung« ausnutzt. Nach Gercke aber dürfte das überhaupt keine Geltung beanspruchen, denn ein Ausnutzen der beruflichen Machtstellung kann es in jedem Betrieb geben, ist also nicht einem Betrieb exklusiv vorbehalten, ist nicht in Gerckes Sinn »spezifisch«.

Daran wird deutlich, dass Gercke den Bundesgerichtshof gründlich missversteht, mit der Folge, dass er zu Unrecht viele Fälle dem staatlichen Strafrecht entzieht. Denn gerade der Machtmissbrauch ist charakteristisch für Sexualstraftaten, die Kleriker im kirchlichen Kontext begehen, sei es an Messdienern, Heimkindern oder sonst kirchlich betreuten Minderjährigen. Man betrachte nur die Schilderung eines im Alter von 14 bis 17 Jahren missbrauchten Mädchens aus dem Aktenvorgang 19 des Gercke-Gutachtens: In der Beichte hatte es sich dem Pfarrer anvertraut und von den Problemen berichtet, die der Alkoholismus der Mutter für die Familie mit sich brachte; zunächst tröstete der Pfarrer das Mädchen und baute Vertrauen auf, um dann übergriffig zu werden – von anfänglichem Umarmen übers Küssen, Griffen unters T-Shirt bis hin zum Geschlechtsverkehr. Unerschrocken schieben die Gutachter den Machtmissbrauch beiseite: kein Bezug zur priesterlichen Tätigkeit!

Dabei gilt fürs Strafrecht: Weil die Kirche den Pfarrer auf seine Machtposition setzt, muss ihr zuständiger Verantwortungsträger die daraus resultierenden Gefahren überwachen und solche Straftaten verhindern.

Ist ein Erzbischof in diesem Sinne der zuständige Verantwortungsträger? Auch das will das Gercke-Gutachten nicht wahrhaben. Dem Erzbischof fehle die nötige »Organisationsherrschaft« (Seite 161). Zwar habe er eine Autoritätsstellung, und aus ihr ergäben sich kirchenrechtlich sogar Aufsichtspflichten gegenüber den Klerikern. Doch habe er »keine unmittelbaren dienst- und arbeitsrechtlichen Durchgriffsmöglichkeiten«, seine Autorität folge vielmehr aus der »sakramentalen Eigenart des Verhältnisses« zum einzelnen Priester.

Dies alles kann aber nicht verdecken, was an anderer Stelle des Gutachtens ausdrücklich festgehalten wird: »Der Erzbischof [Joachim Meisner] traf in Personalangelegenheiten, worunter auch die Missbrauchsfälle gefasst wurden, stets die Letztentscheidung, über die man sich nach Auffassung der Befragten nicht hinwegsetzen konnte.« Der Erzbischof konnte insbesondere entscheiden, wer in der Kinder- und Jugendarbeit eingesetzt wird und wer überhaupt in der Diözese verbleibt. Er hatte also eine amtsbezogene Verhinderungsmacht. Diese Leitungsbefugnis lässt sich nicht hinwegspiritualisieren.

D as gilt ebenso für Diözesanbischöfe. Auch sie sind mit hinreichender Organisationsherrschaft ausgestattet: Wenn sie Missstände entdecken, betont der Kirchenrechtler Norbert Lüdecke, können sie aus eigener Autorität eingreifen und in schwerwiegenden Fällen dem Kirchenangehörigen den Aufenthalt in der Diözese untersagen. Wollte man ihnen dennoch mit Gercke die Organisationsherrschaft absprechen, wäre die Kirche die einzige Körperschaft des öffentlichen Rechts, die ihre Verantwortungsträger selbst aus der strafrechtlichen Verantwortung entlassen könnte, indem sie deren Leitungsbefugnis – obwohl im Weltlichen wirkend – im rein Geistigen verortet.

»Ich bin überzeugt«, sagte Kardinal Woelki bei Vorstellung des Gercke-Gutachtens, »Handeln muss auch für Kleriker Konsequenzen haben.« Recht hat er. Vor Bischöfen macht das aber nicht halt. Ihre rechtliche Verantwortlichkeit ist – mit dem Bundesgerichtshof gesprochen – nur die »notwendige Kehrseite« der gegenüber der Kirche (im Interesse potenzieller Opfer) übernommenen Pflicht, Straftaten zu vermeiden.

Die Frage nach einer Strafbarkeit stellt sich für den 1987 verstorbenen Kardinal Höffner zwar nicht mehr, wohl aber für Kardinal Reinhard Marx, der als Trierer Bischof im Jahr 2006 handfesten Anhaltspunkten für die Sexualdelinquenz eines Pfarrers nicht nachging. Hat sich Marx durch sein Untätigbleiben strafbar gemacht? Man weiß es nicht. Zu wenig ist bekannt darüber, ob besagter Pfarrer nach 2006 weitere Straftaten mit Kirchenbezug begangen hat. Marx selbst spricht sich dafür aus, den gesamten Fall untersuchen zu lassen. Das ist überfällig.

Im Fall Marx ist sogar nach der restriktiven Sicht Gerckes eine Unterlassungsstrafbarkeit grundsätzlich möglich. Maßgebend sei insbesondere die Leitlinie von 2002, »Zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche«. Wer gegen darin bestimmte Pflichten verstoße, könne dann deshalb pflichtig sein, weitere Straftaten zu verhindern. Und gegen die Leitlinie hat Marx wohl verstoßen, indem er Nachforschungspflichten verletzte. Doch ist das Abstellen auf die Leitlinie in zweierlei Hinsicht zu eng: Erstens existiert im Kirchenrecht schon seit 1983 mit dem can. 1389 § 2 CIC/1983 eine Norm, die das schädigende Unterlassen erforderlicher Amtshandlungen erfasst; sie müsste der Leitlinie gleichgestellt werden und somit auch für Altfälle greifen. Zweitens und bedeutsamer: Unabhängig von kirchenrechtlichen Pflichten folgt aus den oben genannten Regeln der Geschäftsherrenhaftung die Möglichkeit einer Unterlassungsstrafbarkeit in Form einer Gehilfenschaft.

W elche Strafbarkeiten muss ein Bischof sonst noch fürchten? Ein aktives und pflichtwidriges Verhalten eines Bischofs kann etwa den Vorwurf der Beihilfe zum sexuellen Missbrauch oder der fahrlässigen Körperverletzung begründen. Zum Teil reagierten Bischöfe auf das Bekanntwerden von Sexualstraftaten der Kleriker schlicht mit einem Versetzen des Straftäters, der in der neuen Gemeinde dann weitere Taten beging. Man denke sich als Folge einer solchen Tat, dass sich das bei Missbrauchsopfern erhöhte Suizidrisiko realisiert und ein Kind sich aus Scham selbst tötet! Dann kann den Bischof sogar der Vorwurf der fahrlässigen Tötung treffen.

Das Gercke-Gutachten blendet Delikte wie Körperverletzung und fahrlässige Tötung aus, weil der Gutachtenauftrag sich beschränkt habe auf die »Bewertung des Verhaltens von Verantwortungsträgern im Umgang mit Missbrauchsfällen«. Dass dazu das strafbare Verschulden einer Körperverletzung (die üblicherweise mit dem Missbrauch einhergeht) oder eines Todesfalls nicht zählen sollen, obwohl sie ja Folgen des »Umgangs mit Missbrauchsfällen« sind, leuchtet nicht ein.

Anders handhabt das die Münchener Anwaltskanzlei Westphal Spilker Wastl. Die Anwälte hatten sowohl für das Bistum Aachen als auch für das Bistum Köln (im Auftrag Woelkis) den Umgang mit Missbrauchsfällen begutachtet. Während Woelki das Münchener Gutachten weiterhin zurückhält, hat das Bistum Aachen das seine veröffentlicht. Man fragt sich, warum die – für den Gutachtenauftrag ja besonders sachnahen – Rechtsausführungen der Münchener Kollegen keinen Eingang in das Gercke-Gutachten gefunden haben. Bei Wastl und Kollegen wird man zutreffend darüber ins Bild gesetzt, dass schlichtes Versetzen eines übergriffig gewordenen Pfarrers strafbar sein kann, insbesondere als Beihilfe zu neuen Taten sexuellen Missbrauchs. Bei Gercke wird das Versetzen als Beihilfehandlung gar nicht in Erwägung gezogen. Überhaupt findet manch dezidierte Gegenansicht im Gercke-Gutachten nicht einmal Platz in der Fußnote. Lege artis ist all das nicht.

Die aufgezeigten methodischen Fehler und inhaltlichen Auslassungen des Gercke-Gutachtens wirken sich sämtlich zugunsten der kirchlichen Verantwortungsträger aus. Das weckt Zweifel an der Objektivität der Gutachter. Und es geht erneut zulasten der Missbrauchsopfer. »Nur durch eine transparente, neutrale, jederzeit nachvollziehbare und damit faire Begutachtung«, sagen die Strafrechtswissenschaftler Matthias Jahn und Franz Streng, wird »eine inhaltlich belastbare Grundlage für die Verletzten geschaffen«, das »ihnen widerfahrene Unrecht« zu verarbeiten. Das Gercke-Gutachten leistet dies nicht.

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Kardinal Woelki das zuerst in Auftrag gegebene Gutachten der Münchener Kanzlei unter Berufung auf methodische Mängel zurückhält. Er hat mit dem Gercke-Gutachten nun einen Text veröffentlicht, der in seinem weltlich-rechtlichen Teil viele Merkmale eines Gefälligkeitsgutachtens aufweist. Es wirkt bemüht, das staatliche Recht zum Vorteil der Bischöfe außen vor zu halten.

Dies ist ein weiterer Beleg dafür, dass eine Aufklärung, die die Kirche selbst betreibt, an Grenzen stößt. Vorzugswürdig erscheint ein Engagement des Staates. Die aktuelle Forderung von Missbrauchsopfern nach einer vom Parlament eingesetzten »Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission« verdient Beifall. Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Georg Bätzing, macht seine Zustimmung davon abhängig, dass das »gesamte Feld sexualisierter Gewalt« einbezogen wird. Doch sollte die katholische Kirche der Forderung der Betroffenen bedingungslos beitreten – ohne zugleich mit dem Finger auf Turn- und Sportvereine zu zeigen.

Fotos: Privat (3)

Einen ausführlichen Bericht zur päpstlichen Ermittlung im Erzbistum Köln finden Sie in der ZEIT auf der Seite »Glauben & Zweifeln«.

Jörg Scheinfeld (ganz oben) lehrt Strafrecht und Strafprozessrecht an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz; der Professor ist auch Beirat des Instituts für Welt- anschauungsrecht. Sarah Gade ist Wissenschaft- liche Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl. Christian Roßmüller ist Rechtsanwalt in Essen.