Ihr seid mir rechte Moralisten!

Auffallend viele Konservative neigen zu plumpem Krawall. Damit schaden sie der Debatte, findet die Konservative Liane Bednarz

Ihr seid mir rechte Moralisten!

Auffallend viele Konservative neigen zu plumpem Krawall. Damit schaden sie der Debatte, findet die Konservative Liane Bednarz

Gemeinhin nehmen Konservative für sich in Anspruch, maßvolles Verhalten an den Tag zu legen. Doch leider haben nicht wenige von ihnen in den vergangenen Jahren eine Art destruktive Lust am Radau entwickelt, die man als Krawallkonservatismus bezeichnen kann. Carolin Aulinger und Oliver Nachtwey haben jüngst hier in der ZEIT (Nr. 18/23) festgestellt, dass eine ganze Reihe »Konservativer und Traditionslinker, Libertärer und ehemals Liberaler« die Linksliberalen als »das neue Feindbild im politischen Diskurs« ausgemacht haben, über das sie sich gemeinsam ereifern können – um Zustimmung auf der Rechten zu erheischen. Leider kann ich den beiden Autoren als Konservative nicht widersprechen.

Ursprünglich, bevor er in seriöse bürgerliche Kreise einsickerte, hatte der Krawallkonservatismus etwas Putziges an sich, so abgestanden, wie die immerfort repetierten Kampfbegriffe waren. »Gutmensch« etwa oder »politisch korrekt«. Rauf und runter zu lesen in den 2010er-Jahren. Inzwischen dominieren der Vorwurf des »Moralismus«, der »Hypermoral« oder des »Moralinsauren«. Und ja: Heute ist sogar die Moral selbst zum Schimpfwort geworden. Alles, was Krawallkonservativen nicht passt, gilt ihnen als »moralisch«. Der Begriff wird verwendet bei Identitätsfragen, Migrationsthemen, Klima- und Umweltpolitik, den Grünen sowie Genderdebatten.

Eine beträchtliche Anzahl anerkannter Publizisten, Politiker und Social-Media-User mit großer Reichweite haben ihre Freude daran entdeckt, die »Moral« pejorativ aufzuladen. Es sind alles Menschen aus dem konservativen, aber auch liberalen Spektrum, die nicht am rechten Rand der Gesellschaft stehen, sich im Gegenteil davon abgrenzen und auch die AfD verurteilen. Gleichwohl übernehmen sie den von rechts kommenden Jargon des Moralbashings und werfen damit lustvoll um sich.

Diese Entwicklung ist hochriskant. Zum einen diskreditieren Konservative auf diese Weise ressentimentgeladen andere, namentlich linksliberale und linke Ansichten, statt sich mit den Sachargumenten auseinanderzusetzen, und vergiften so den Diskurs. Zweitens diffamieren sie die Moral als solche. Zu Ende gedacht müsste also der Amoral das Wort geredet werden. Gerade von Konservativen ist das bigott; immerhin propagieren sie in Gender- und Abtreibungsfragen ja ihre ganz eigene Moral.

Beispiele finden sich ohne Ende. Wenn Jens Spahn (CDU) den »Moralismus« der Kirchen kritisiert oder der Kolumnist Jan Fleischhauer die Attitüde der Grünen, sich als »Krone der Schöpfung« zu betrachten. Wenn der FDP-Chef Christian Lindner davor warnt, wir seien auf bestem Weg, »Moralweltmeister beim Klimaschutz« zu werden, oder Wolfgang Schäuble (CDU) sagt: »In der moralischen Besserwisserei sind wir Weltspitze« und der eigentlich moderate Kolumnist Nikolaus Blome von einer »publizistischen Moralanzeige« spricht. Die Liste ließe sich fortsetzen, das Problem ist: Wenn »Moral« zum unklar definierten Kampfbegriff wird, dann wird es kompliziert. Statt Linksliberalen, gewiss nicht immer zu Unrecht, übermäßige »Wokeness« und »Cancel Culture« vorzuhalten, sollten Konservative, die das krawallkonservative Bashing mitmachen, sich selbstkritisch fragen, welchen Anteil sie daran haben, dass der Diskurs in Deutschland immer feindseliger wird.

Das Moralbashing ist inzwischen sogar Thema für Forschungsarbeiten. So gibt es am »Forschungsinstitut gesellschaftlicher Zusammenhalt« der Frankfurter Goethe-Uni ein Projekt mit dem Titel »Desintegration durch Moral? Moralisches Argumentieren und der Vorwurf des Moralismus in öffentlichen Debatten«. Die Projektbeschreibung lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: »In vielen politischen Debatten der Gegenwart ist der Vorwurf des Moralismus zentral. (…) Überall dort, wo grundsätzliche Fragen des Selbstverständnisses, der Mitgliedschafts- und der Verteilungsregeln moderner Gesellschaften verhandelt werden, werden moralische Argumente mit dem Hinweis, sie seien fehl am Platz und wirkten desintegrativ, als ›moralistisch‹ zurückgewiesen. Was genau die Kritiker*innen unter Moralismus verstehen, welche Bedingungen moralisches Sprechen erfüllen muss, um als moralistisch zu gelten, und welche negativen Folgen Moralismus mit sich bringe, wird dabei in der Regel nur angedeutet.«

Damit sprechen die Forscher einen zentralen Punkt an. Denn gerade das Vage ist es, von dem Kampfbegriffe leben. Statt etwa zu erklären, warum aus konservativer Sicht die Abschaltung der Atomkraftwerke ein Fehler sei, Habecks Heizungswende aktionistisch oder warum man das Gendern aus Liebe zur Sprache nicht mitmachen möchte, ist es viel bequemer, »Milieuspießer!« zu rufen. Ein Begriff, den auch Blome verwendet.

Zugleich tut man selbst ganz avantgardistisch. Spießer sind nicht länger die Konservativen, sondern die Linksliberalen! Dabei besteht gerade dann, wenn das Moralische zum eigentlich Spießigen erklärt werden soll, eine besondere Gefahr – die Amoral zu propagieren, was auch in der Frankfurter Projektskizze beim Namen genannt wird: »Moralismus als politischer Kampfbegriff, der ausgehend von einem amoralischen Politikverständnis jegliche Form moralischen Argumentierens in politischen Fragen ablehnt«. So weit denken die Moralbasher in ihrer Freude am Krawall vermutlich nicht, aber so ernst ist es.

Aber was heißt denn eigentlich Moral? Aus Sicht des Rechtsphilosophen Norbert Hoerster ist eine »Moralnorm« eine Norm, »hinter der eine bestimmte Einstellung oder Haltung steht«, die Geltungsanspruch erhebt, sei es für bestimmte Kreise, sei es über diese hinaus, sei es universal (Verwerflichkeit von Mord, Raub, Diebstahl). Irrelevant für die Eigenschaft als Moralnorm ist laut Hoerster, ob sie herrschend ist oder nur von einem Teil der Gesellschaft befürwortet wird.Hoerster nennt als Beispiel das Befürworten (Mehrheitsmeinung) oder die Ablehnung des Fleischverzehrs (Minderheitsmeinung). Keine guten Nachrichten für konservative Moralverächter, die sich – mit legitimen Argumenten – für den Fleischkonsum aussprechen und damit eine eigene Moralnorm propagieren. Und schon gar nicht gut für all die Konservativen, die tagein, tagaus ihre eigenen Moralvorstellungen – etwa, wie erwähnt, zur Abtreibung – propagieren.

Tatsächlich zeigen Wahlen und Stimmungsbilder in Deutschland, aber auch in den europäischen Nachbarländern und in den USA, dass sich offenbar ein nicht zu unterschätzender Teil der Bevölkerung von Forderungen einer apodiktischen Woke-, Identitäts- und Klimabewegung überfordert fühlt. Eine kluge bürgerliche Politik wäre es, diese Sorgen zwar aufzunehmen, allerdings nicht, indem man die Polemik der rechten Populisten nachäfft, sondern Brücken baut.

Der deutsche Konservatismus hat sich stattdessen in eine destruktive Negativspirale begeben. Er schimpft am liebsten nur noch herum, offenbar aus Frust über den eigenen Relevanzverlust. Relevant aber wird man gewiss nicht, wenn man ausgerechnet als Konservativer Linksliberale der »Moral« bezichtigt. Sondern nur unglaubwürdig.

Konservative sollten stattdessen ihre eigene Moral propagieren und kohärente Politikkonzepte entwickeln. Auch wenn sie damit in der Minderheit bleiben. Ansonsten wird der Konservative zur Karikatur eines Diskursteilnehmers, zu einer Art zeterndem Waschweib am Fenster, das mit erhobenem Zeigefinger Jüngere anschreit, nur weil diese andere Ideale pflegen.

Wir Nicht-Linken müssen erkennen, dass die konservative Strömung selbst innerhalb der Unionsparteien nur eine von drei Wurzeln neben der liberalen und sozialen Tradition verkörpert. Ja, es ist bitter, zu realisieren, dass man mit einem strengen Konservatismus einer Minderheit angehört. Andererseits haben moderate Konservative mit der Union jahrzehntelang Regierungen gestellt. Was also soll das Zetern? Das Credo, progressiven Übereifer abzumildern und den Fortschritt für alle verträglich zu gestalten, indem man Prozesse (wie etwa die Heizungswende) verlangsamt, können Konservative problemlos aufrechterhalten. So könnten sie eine relevante und mahnende Stimme im politischen Diskurs bleiben. Wenn er indes nur mit schrillen Begriffen schießt, wird der Konservatismus untergehen.

Liane Bednarz, 49, Juristin und Publizistin, ist Mitglied der CDU und des PEN-Clubs Berlin

Foto: privat Illustration: Karsten Petrat für DIE ZEIT