DAS ALPEN-PORTRÄT

Er hat’s erfunden

In der Schweiz verherrlichte Iwan Iljin Russland, die Kirche und den Faschismus. Heute inspiriert er das Denken und Handeln Wladimir Putins. Von Sascha Buchbinder

Die Schweiz: saubere Luft, Bergkräuter und von Berglern erfundene, gesunde Bonbons. Niemals könnte in den reinen Alpen Böses ersonnen werden. Von wegen. Es ist das Jahr 1938, als ein russischer Philosoph während eines Urlaubs ein Aufenthaltsgesuch für die Schweiz stellt, sich in Zollikon bei Zürich niederlässt und dort fortan seine kruden Theorien zu Papier bringt. Heute gilt Iwan Iljin als einer der wichtigsten Vordenker für den russischen Präsidenten Wladimir Putin.

Iljin kommt 1883 in einer adligen russischen Familie zur Welt und wächst in Moskau auf. Er studiert Rechtswissenschaften und Philosophie und begeistert sich als Student zunächst für den Anarchismus. Iljin bewundert Hegel: 1918 erscheint seine Dissertation Die Philosophie Hegels als kontemplative Gotteslehre. Sein Denken erscheint darin als ein wilder Mix religiöser Überzeugungen plus Kant, Hegel, Husserl und Freud. Seine Zeit und die russische Gesellschaft erscheinen ihm furchtbar pervers.

Noch in Russland liest Iwan Iljin die Texte des 13 Jahre älteren Wladimir Iljitsch, der als Lenin in die Weltgeschichte eingehen wird. Begegnet sind sich die beiden nie, aber Iljin rezensiert Lenins Texte wohlwollend. Auch dieser entwickelte seine politischen Theorien im Schweizer Exil in Zürich, bevor er 1917, als die Februarrevolution ausbrach, nach Russland zurückkehrte.

Beide berufen sich auf Hegel. 1918 sind sie sich einig: Die Mittelklasse muss zerstört werden, weil ihr Bedürfnis nach persönlichem Wohlstand und persönlicher Freiheit der klassenlosen Gesellschaft im Weg stehe. Als Marxist sieht Lenin die Konflikte zwischen den Klassen als den Motor der Geschichte. Die Bolschewiki sollten als revolutionäre Avantgarde das Proletariat im Kampf gegen die Bourgeoisie anführen und befreien.

Iwan Iljin, inzwischen Rechtsprofessor an der Moskauer Universität, glaubt nie an das Gute im Menschen. Der Individualismus ist für ihn satanisch. Russlands Aufgabe sieht er in einer göttlichen Totalität, sein historischer Auftrag wäre es demnach, die verpfuschte Schöpfungsgeschichte zu retten.

Das klingt wirr. Und das ist auch der Tscheka, der Geheimpolizei der Bolschewiken, in den 1920er-Jahren suspekt. Iljin wird mehrfach verhaftet, zuletzt sogar zum Tode verurteilt. Der Historiker Timothy Snyder zeichnet in seinem Aufsatz God is a Russian nach, wie Lenin zugunsten seines Rezensenten bei der Tscheka interveniert. Mit Erfolg. Iljin wird nicht hingerichtet, aber er muss ins Exil. Zusammen mit 160 anderen Intellektuellen wird er 1922 auf dem »Philosophenschiff« nach Deutschland abgeschoben.

In Berlin findet er eine Stelle am Russischen Wissenschaftlichen Institut und gibt eine Migrantenzeitschrift heraus. Als Adliger integriert er sich schnell im Milieu der Exilanten und verfasst fleißig antibolschewistische Texte. Von den Kommunisten beinahe hingerichtet, badet Iljin fortan im Hass gegen die Roten.

Sein Denken fußt auf dem Versuch, Hegel mit den Prinzipien der orthodoxen Kirche zu lesen. Zu dieser Zeit ist das politisch noch keinem Lager zuzuordnen.

1925 veröffentlicht er das Traktat Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse. Darin ruft er dazu auf, den Gegner »zu verhaften, zu verurteilen und zu erschießen«. Als Kronzeugen müssen der Erzengel Gabriel und der Drachentöter Georg herhalten. Iljin proklamiert den Kampf gegen die Bolschewiken: »Wir werden dann siegen, wenn unser Schwert wie Liebe und Gebet sein wird, unser Gebet und unsere Liebe aber das Schwert!« Die Gewaltträume tragen Iljin den Übernamen »Gottes Tschekist« ein.

Ab den 1930er-Jahren begeistert er sich für Mussolini und Hitler. Die Machtergreifung bezeichnet er als »einen Akt der Erlösung«. Im Faschismus erkennt er »ein rettendes Übermaß an patriotischer Willkür«. Er sieht eine große Nähe des Faschismus zu den Zielen der Dissidenten. Der Totalitarismus und die Kirchenfeindlichkeit der Nazis in Deutschland aber führen dazu, dass er Hitler kritisiert und seine Hoffnungen ganz auf Mussolini und Salazar setzt.

1937 entziehen die Nazis dem irrlichternden Nationalisten seine Beamtenstelle in Berlin. Ein Jahr später wandert er gemeinsam mit seiner Frau in die Schweiz aus, wo er freundlich aufgenommen wird. Der Komponist Sergej Rachmaninow, ebenfalls im Exil, setzt sich für ihn ein. Aber auch Schweizer Nazi-Sympathisanten wie der Pfarrer Rudolf Grob. Dieser schreibt für Iwan Iljin ein warmes Empfehlungsschreiben an die Schweizer Behörden. Nachzulesen ist dies im Bundesarchiv, wo der Schweizer Historiker Jürg Schoch 2014 auf die Akte von Iwan Iljin stieß, die die Bundesanwaltschaft über ihn geführt hat.

Während des Krieges sind die Migranten in der Schweiz eigentlich einer strikten Zensur unterworfen. Dank seiner Schweizer Fürsprecher kann Iljin mit behördlicher Erlaubnis Vorträge und Vorlesungen halten. Dass seine Arbeit als unproblematisch angesehen wird, liegt daran, dass Iljin nicht ein einzelnes Land, sondern die ganze westliche Welt als verkommen und sündhaft kritisierte. Neutralitätspolitisch erschienen den Schweizern die Thesen des Russen unbedenklich.

Man lässt den Dissidenten gewähren. In Locarno Monti gründet er die Geheimgesellschaft »Weißer Kongress«, in der er eine neue Verfassung eines russischen Imperiums skizziert, das den Kommunismus ablösen soll. Die Rede ist von einem antidemokratischen Staat, einer »erzieherischen und wiedergebärenden Diktatur«. Allein: Die Faschisten verlieren den Krieg, ein Ende des Bolschewismus rückte in weite Ferne.

Mit der sich abzeichnenden Niederlage der Faschisten kühlt sich auch die Bewunderung Iljins für die Achsenmächte ab. Sein glühender Hass auf die Kommunisten aber bleibt und sichert dem heimatlosen Russen auch im Kalten Krieg warme Fürsprecher in der Berner Verwaltung. Als Iljin 1945 eine Redaktionsstelle bei der Zeitschrift Der Ausgleich angeboten wird, braucht er die Einwilligung der Behörden. Die Bundesanwaltschaft stellt fest, dass man Migranten grundsätzlich keine solchen Bewilligungen gebe. Doch was Iljin angehe: Der sei ein Wissenschaftler »von Format« und einer »der bedeutendsten Sozialethiker der Gegenwart«. Er kann die Stelle antreten.

In den folgenden Jahren schreibt er Texte, die in der UdSSR kaum Beachtung finden und nur von einem kleinen Kreis treuer Parteikader studiert werden dürfen. Dies ändert sich nach dem Ende des Kalten Krieges: Die Vorstellung, dass ein Rechtsstaat nicht zu Russland passe, fasziniert die kleptokratische Elite, die nun an die Macht kommt. Ihr gefallen Texte wie der Essay Was der Welt die Zerstückelung Russlands verspricht. Darin behauptet Iljin, der imperialistische Westen werde das falsche Versprechen von Freiheit nutzen, um Russland Länder wegzunehmen: das Baltikum, den Kaukasus, Zentralasien und vor allem »die ›Ukraine‹«. Ein Land, das Iljin nur in Anführungszeichen nennt. Der Westen wolle eine Balkanisierung Russlands, um das Reich zu zerstören.

Von diesem Text ist auch Wladimir Putin fasziniert. Er ist zwar kein Schüler Iljins, aber er bedient sich systematisch bei dem faschistischen Dissidenten. Seit 2005 taucht Iljin wiederholt in wichtigen Reden auf. Für Putin ist der Untergang der UdSSR eine Katastrophe. Der Rückgriff auf Iljin erlaubt es ihm, eine Weltordnung zu zeichnen, die eine russische Wiederauferstehung verspricht: anknüpfend am Zarenreich, mit der Kirche als Partner. 2012 folgte Putin in einer Rede den Gedanken Iljins und kündigte an: »Eurasien« werde die Europäische Union »überwinden« und deren Mitglieder in ein größeres Gebilde integrieren, das »von Lissabon bis Wladiwostok« reiche.

2014, zur Vorbereitung der Annexion der Krim, ließ Putin allen höheren Beamten und Regionalgouverneuren ein Exemplar von Unsere Aufgaben zukommen, dem zentralen Sammelband mit Iljins Aufsätzen. Putin riet seinen Kadern, sie sollten Lenin weglegen und ab jetzt Iljin studieren. Inzwischen gehört Iljin zum Kanon für das russische Abitur.

Was Putin an Iljin fasziniert: ein Weltbild, das ein »freies Russland« propagiert. Allerdings meint Freiheit keine individuelle Freiheiten, sondern die des Landes unter einem starken Führer. Demokratische Wahlen, so glaubte Iljin, institutionalisierten das Übel der Individualität. Folglich »müssen wir den blinden Glauben an die Zahl von Wählerstimmen und ihre politische Bedeutung ablehnen«. Wahlen sollten ein Ritual der Unterwerfung der Russen unter ihren Führer sein. Weil die legitime, wirkliche Macht, so die Überzeugung von Iljin, »von ganz allein zum starken Mann« komme.

Iljin träumte von einem faschistischen Putsch in Russland. »Es wird die historische Stunde kommen, da (das russische Volk) aus einem scheinbaren Sarg auferstehen und seine Rechte zurückfordern wird«, schrieb er 1950 in der Schweiz.

1954 starb Iwan Iljin in Zollikon. 2005 wurde sein Sarg exhumiert. Finanziert vom Oligarchen Viktor Wekselberg wurden seine sterblichen Überreste nach Moskau gebracht und im Beisein von Wladimir Putin feierlich beigesetzt. Putin war damals ein junger Präsident Russlands. Seither hat er dafür gesorgt, dass die faschistischen Gespenster, die Iljin vor 70 Jahren im Schweizer Exil entworfen hat, wieder umgehen in Europa.

Foto: Interfoto

2005 wurden die sterblichen Überreste von Iwan Iljin von der Schweiz nach Moskau überführt. Dort erwies ihm Wladimir Putin die letzte Ehre

Iwan Iljin

Der russische Philosoph

Iwan Iljin (1883–1954) wuchs in Moskau auf. Ab 1922 lebte er im Exil, zuerst in Berlin, dann in Zollikon bei Zürich.

Nach dem Ende des

Kalten Krieges findet sein faschistisches Gedankengut neuen Zuspruch. Der russische Präsident Wladimir Putin bezieht sich seit 2005 in Reden auf ihn. Vor der Annexion der Krim stattete er seine Beamten mit Iljins Aufsatzband »Unsere Aufgaben« aus.

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