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Viele Politikjournalisten haben eine Meinung zum Klima, aber leider wenig Ahnung. Auch deshalb werden Debatten lautstark ausgetragen – während die Regierung von kritischen Nachfragen weitgehend verschont bleibt. Ein Gastbeitrag VON LUISA NEUBAUER

Es war unfassbar kalt in Berlin, als wir Mitte Dezember das erste Mal streikten. Wir konnten unsere Zehen nicht mehr spüren, die Musik war zu leise, das Mikro kaputt, es war großartig. Deutschlandweit waren an dem Tag 14 Klimastreiks angemeldet, der Hashtag #fridaysforfuture trendete zum ersten Mal auf Twitter. Auf dem Rückweg im Zug nach Göttingen rief mich die BBC an und bat um ein Interview. Das scheiterte natürlich am Telefonnetz, aber das war auch egal, die Resonanz in sämtlichen großen Zeitungen übertraf alles, was wir uns vorgestellt hatten. Wir wurden gehört.

Ich hätte damals nicht gedacht, dass wir heute immer noch streiken. Nicht dass ich an unserem Durchhaltevermögen gezweifelt hätte. Aber ich konnte mir schlicht nicht vorstellen, mit welcher Starrköpfigkeit die Regierung und Teile der Opposition sich fruchtbaren Debatten über Klimapolitik verschließen würden. Das war sicherlich naiv, gleichzeitig wäre es wohl zynisch gewesen, nicht zumindest ein bisschen auf das Verantwortungsbewusstsein der Politik zu vertrauen. Aber das ist nur ein Teil des Problems. Die politische Elite konnte es bisher auch deshalb vermeiden, inhaltlich klar Stellung zu beziehen, weil die Journalisten es zugelassen haben.

Denn viele Journalisten schrecken vor dem Thema Klimakrise geradezu zurück. Zu wenige legen ein klimatechnisches Selbstbewusstsein an den Tag, das es ihnen ermöglichte, die halb wahren Einordnungen der Politik zu erkennen. Das führt zu Vorfällen, bei denen man zugleich lachen und heulen möchte.

»Beim Klimaschutz sind wir uns einig, dass wir Ambition brauchen. Aber SPD und Grüne riskieren mit ihren überzogenen Forderungen Arbeitsplätze. Es kann nicht sein, dass unsere Autoindustrie verliert und Tesla gewinnt.« Wäre es nicht so tragisch, man wollte Manfred Weber dazu gratulieren, wie er die »Ja, aber«-Mentalität der Klimadebatte im Bayerischen Rundfunk so sportlich auf den Punkt bringt. Wo soll man beim Spitzenkandidaten der EVP und möglicherweise künftigem Kommissionspräsidenten, Vorsitzenden der größten Fraktion im EU-Parlament anfangen? Mit der Frage, was denn wohl beim Klimaschutz »überzogene« Forderungen seien – weil es dem Planeten und den zukünftigen Generationen vielleicht »zu« gut geht? Oder mit der fast schon ironischen Einordnung der SPD als ambitioniert im Klimaschutz? Oder soll man noch mal den Arbeitsplatz-Mythos aufdröseln? Die Zukunft der Automobilindustrie jenseits des Verbrennungsmotors beschreiben?

Kein Journalist jedenfalls hat Webers Aussagen zum Klimaschutz kritisch hinterfragt, niemand hat nachgehakt, und Weber sticht im Übrigen mit seinen Aussagen wenig aus der Kandidatenmenge heraus. Das Gesagte bleibt einfach so im Raum stehen. Auch im Jahr 2019 ist es möglich, dass ein Mensch sich für das höchste Amt der EU bewirbt, ohne große klimapolitische Expertise oder gar Einfallsreichtum zu besitzen.

Statt präziser Fragen Bewegung an der Oberfläche: Greta, Kinder, Lindners Profis

Um die richtigen Fragen zu stellen, müssten auch mehr Politikjournalisten selbst über eine gewisse Expertise verfügen. Das heißt nicht, dass sich jeder en detail mit multikausalen geophysikalischen Zyklen auseinandersetzen muss. Ein rudimentärer Überblick über planetare Leitplanken und den Status quo in Sachen Emissionen, Senken und Kipppunkten wäre schon ein Anfang. Doch während jeder Blattmacher eine dreifach differenzierte Meinung zum Nahost-Konflikt, zu Migration und den transatlantischen Beziehungen hat, kann anscheinend kaum jemand im deutschen Politikjournalismus zwischen Klima- und Umweltschutz unterscheiden.

Statt präziser Fragen Bewegung an der Oberfläche und kleinliche Abhandlungen – zu Greta, zu den Kindern, zu Profis und Nichtprofis. Die Süddeutsche Zeitung etwa veröffentlichte vier Tage nach Webers Interview-Aussage einen Artikel zu den Reaktionen der Parteien auf »Fridays for Future«. Doch statt dies zum Anlass zu nehmen, die klimapolitischen Parteipositionen oder deren Entwicklungen infolge der Streiks auszuwerten, wird der Frage nachgegangen, welche Partei nun die Bewegung »umarmt« oder eher »ablehnt«. Meinungen statt Fakten. Es ist fast, als sollte der eigentliche Grund, warum wir streiken, zum Verschwinden gebracht werden. Wir gehen seit vier Monaten auf die Straße, über die Streiks selbst wurde praktisch in jeder Schattierung ausführlich berichtet – das Klima selbst und seine Zerstörung sind dagegen kaum ein Thema.

Wann schafft der politische Journalismus den Absprung in die Realität? Zu einer emanzipierten Auseinandersetzung mit der Materie? Der Exportweltmeister Deutschland kommt jeden Tag ein Stück weiter von dem Weg ab, der zur Einhaltung des von der Regierung unterzeichneten Pariser Abkommens führen würde. Zur Erinnerung: Dieses Abkommen kann in Gänze nur funktionieren, wenn die industriellen Spitzenreiter ihren technologischen Vorsprung nutzen, global Verantwortung übernehmen und bei der Emissionsreduktion das Tempo radikal anziehen. Was gerade in der deutschen Klimapolitik los ist, wird eines Tages als größtes Politikversagen nach dem Zweiten Weltkrieg bewertet werden. Und gemessen an der Größe der Vorgänge, schreiben recht wenige darüber.

Es müsste in diesen Zeiten eine Selbstverständlichkeit sein, dass Journalisten aller Ressorts über die Klimakrise Bescheid wissen. Dafür reicht es, oh surprise, aber nicht, am ersten Hitzetag des Jahres bei Hans-Joachim Schellnhuber vom Potsdam-Institut anzurufen, um dann im Artikel im vorletzten Absatz einen zaghaften Verweis auf den Klimawandel einzubauen. Die Aufklärung über den Zustand des Planeten gehört zum Job. Ja, die Keeling-Kurve oder die Tendenzen der Ozeanversauerung sind nicht per se aufrüttelnd oder inspirierend. Damit reißt man aus dem Stand keine Quoten. Deswegen braucht es die Geschichten, die das Abstrakte begreifbar machen. Auch außerhalb des Wissens-Ressorts. Kontinuierlich, sachlich und unabhängig von den Außentemperaturen.

Ein überforderter öffentlicher Diskurs, der sich an Autos und Flugzeuge klammert

Stück für Stück kommt gerade die Perversion der Debatte an die Oberfläche. Wir setzen uns wissentlich, erst langsam, später ruckartig, den größten Katastrophen des Planeten aus und sorgen durch Nicht-Handeln dafür, dass die Disruptionen des ökologischen Kollapses unser Leben weit mehr einschränken werden, als das jegliche Umweltauflage vermag. Und nebenbei tragen wir andernorts zur Zerstörung existierender Lebenswelten beispiellosen Ausmaßes bei. Doch was bleibt medial davon übrig? Ein überforderter öffentlicher Diskurs, der sich an das Einzige klammert, was im weitesten Sinne klimapolitisch bedeutsam und irgendwo begreifbar ist: Autos und Flugzeuge.

Dabei sind die großen Fragen noch ganz andere: Woher kommt diese Selbstverständlichkeit, dass es okay sei, dem Planeten und der Umwelt wissentlich so massiv zu schaden? Mit welchem Recht dürfen Naturkatastrophen wie die Überschwemmungen in Mosambik provoziert werden? Wieso dürfen Politiker und Industrien die Freiheiten der heutigen und vor allem der zukünftigen Generationen derart bedrohen?

In der Welt wird dagegen die Frage gestellt, ob denn diese ganz Aufregung nun notwendig sei. Die Autoren Matthias Horx und Daniel Dettling berichten unter der Überschrift »Wir schaffen das, Greta«, dass der »notwendige Wandel« längst im Gange sei – man möge doch bitte nicht in kollektive »Angst- und Katastrophenstarre« verfallen. Es ist eine Augenwischerei, zu behaupten, es finde doch schon eine Entwicklung in die richtige Richtung statt. Der Prozess ist schlicht zu langsam, gemessen an dem, was passieren müsste. Aber der Welt-Leser kann erst mal aufatmen.

Als Greta und ich im März das erwähnte Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung besuchten, erklärten die Wissenschaftler die Lage so: Durch die Ansammlung unserer Emissionen in den letzten 140 Jahren ist die Menschheit zu einer geologischen Kraft geworden. Wir erschaffen Wüsten, wir verändern die Art und Weise, wie die Ozeane und Luftmassen zirkulieren, wir zerschlagen Gletscher und terrorisieren die Ökosysteme, von denen wir selbst abhängen. Noch vor fünf Jahren hatten die Experten mit ihren stahlverpackten Supercomputern sich nicht vorstellen können, wie beschädigt der Planet im Jahr 2019 schon sein würde. Die Wissenschaftler hatten sich zwei Stunden Zeit für uns genommen, wir bekamen detaillierte Erklärungen zur aktuellsten Forschung, selbst Greta war gesprächig.

Ich fand es beinahe unerträglich, genau dort, wo klimawissenschaftliche Fakten gesammelt werden, zu hören, dass alles, alles, was man sich vorstellen kann an Klimachaos und Zerstörung, mit großer Wahrscheinlichkeit weit übertroffen werden wird. Und dass die Möglichkeit, dem noch zu entkommen, jeden Tag in etwas weitere Ferne rückt.

Regierung und Opposition, Journalismus und Öffentlichkeit steht es noch bevor, sich mit dieser doch sehr unbequemen Sache mit dem Klima in aller Aufrichtigkeit zu befassen. Der seriöse Journalismus muss die Grundlagen dafür schaffen. Ultimativ geht es dabei um maximalen Einfallsreichtum in der Klimapolitik, von allen Seiten, in allen Facetten und Nuancen. Was wir brauchen, ist eine informierte und aufgeklärte Öffentlichkeit, eine kritische Berichterstattung, weit geöffnete diskursive Arenen. Nur so können wir uns von den Lagerkämpfen verabschieden, nur so ist das krisenrealistische race to the top der klimapolitischen Kreativität möglich, das wir dringend brauchen. Und eines Tages, wenn Klimapolitik zur Gesellschaftspolitik wird, wenn wir uns nicht nur in der Theorie die Frage stellen, wie denn eine ökologische, lebenswerte Zukunft aussehen könnte, sondern auch in der Praxis ehrliche Antworten finden, dann, wer weiß, kommt es vielleicht zu einer klimakulturpolitischen Revolution.

Mittlerweile kommt die Frühlingssonne raus, wenn wir freitags vormittags den Berliner Invalidenpark füllen. Links das Verkehrsministerium, rechts das Wirtschaftsministerium, dazwischen spielt die Musik. Die Bands, die vierfach verstärkt über den Park dröhnen, singen von Katastrophen und Krisen und von den neuen Welten, die aus dem Chaos erwachsen. Die Menge jubelt dann. Wir hüpfen nicht mehr gegen Kohle, wir toben. In diesen Stunden wird Twitter überflutet von Posts von Menschen, die sich auf der ganzen Welt genau wie wir und trotzdem ganz anders der gleichen großen Herausforderung stellen. Verlässlich meldet sich dann die dpa und fragt nach Zahlen – die werden mittlerweile von der Streikzahlen AG bereitgestellt. Immer öfter treten jetzt Menschen auf die Bühne, deren Reden anfangen mit: »Das ist eigentlich gar nicht so mein Thema, aber ...« und »Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch mal hier stehe ...«

An diesen Tagen schlendern wir nach dem Streik rüber ins Naturkundemuseum, das seit Wochen jeden Freitag zu Diskussionsrunden mit der Wissenschaft einlädt. Und wenn dann die Sonne strahlt und aus dem Umweltministerium ein Hauch von Gegenwehr gegenüber einem verwässerten Klimaschutzgesetz zu spüren ist, wenn die Musik friedlich verhallt, dann scheint das alles irgendwie machbar. Wir haben, in aller Bescheidenheit, mit unseren Streiks zumindest ein Stück weit vorgelegt. Macht aus dieser Vorlage etwas. Jetzt ist die Zeit dafür.

Foto: Carsten Koall/dpa

Die Autorin ist Mitglied bei den Grünen und Aktivistin bei der Bewegung »Fridays for Future«, die seit gut fünf Monaten für eine konsequente Klimapolitik demonstriert