Mann, Frau, völlig egal

Das generische Maskulinum wird immer seltener benutzt und verstanden, bald wird es ganz verschwunden sein. Das ist schade, denn es erlaubt sehr viel sprachliche Differenzierung. Seine Abschaffung wird die Gleichberechtigung keinen Schritt voranbringen  VON NAVID KERMANI

Am Anfang von Sure 33:35 steht eine lange Aufzählung:

Siehe, die ergebenen Männer und ergebenen Frauen,

Die gläubigen Männer und gläubigen Frauen,

Die gottesfürchtigen Männer und gottesfürchtigen Frauen,

Die wahrhaftigen Männer und wahrhaftigen Frauen,

Die geduldigen Männer und geduldigen Frauen,

Die demütigen Männer und demütigen Frauen,

Die wohltätigen Männer und wohltätigen Frauen,

Die fastenden Männer und fastenden Frauen,

Die Männer und Frauen, die ihre Scham bewahren,

Die Männer und Frauen, die Gottes oft gedenken –

Gott bereitet ihnen Vergebung und großen Lohn.

Die durchgehende Nennung beider Geschlechter liest oder spricht sich seltsam, und zwar nicht nur im Deutschen, sondern erst recht für eine arabische Hörerschaft des 7. Jahrhunderts. Denn grammatikalisch bräuchten die Frauen auch im Arabischen nicht eigens aufgeführt zu werden, um dennoch genannt zu sein. Aber warum wiederholt der Koran dann ein ums andere Mal die männliche und weibliche Form, wenn der gleiche Sinngehalt doch knapper auszudrücken wäre? Folgt man der Überlieferung, so hatte sich eine Gruppe von Musliminnen beim Propheten darüber beschwert, dass sich der Koran vor allem an Männer wende. Mohammed hätte den Frauen mit Verweis auf die arabische Grammatik erklären können, dass sie genauso angesprochen sind, wenn im Koran von Gläubigen oder Gottesfürchtigen die Rede ist. Stattdessen offenbarte Gott ihm ebenjenen Vers, der ostentativ beide Geschlechter anführt.

Auch in unserer öffentlichen Sprache, etwa in den Nachrichten, im Bundestag oder in behördlichen Verlautbarungen, werden für gemischte Personengruppen, sofern nicht ohnehin gegendert wird, seit einiger Zeit fast durchgängig beide Geschlechter genannt. Dabei ist der Grund der gleiche wie im 7. Jahrhundert auf der Arabischen Halbinsel: Wo nur die maskuline Form verwendet wird, fühlen sich weibliche Hörer nicht oder nicht ausreichend gemeint. Soweit ich es überblicke, ist das Deutsche allerdings die einzige Sprache, aus der die geschlechtsneutrale Verwendung maskuliner Substantive und Pronomen ganz verschwinden könnte.

Seinen Regelcharakter hat das generische Maskulinum bereits jetzt eingebüßt, wie sich bei der Lektüre älterer Bücher leicht ersehen lässt. Noch in den Siebzigerjahren sprachen deutsche Autorinnen von sich selbst gewöhnlich als Autoren, wo sie nicht ihr Geschlecht herausstellen wollten. Heute würde man selbst dort, wo man in Aufzählungen nicht jedes Mal die weibliche Form hinzufügt, eine einzelne Frau »Autorin« nennen, obwohl das Wort »Autor« keinen Hinweis auf das biologische Geschlecht enthält und somit Frauen wie Männer gleichermaßen umfasst. Das ist sicherlich ein Erfolg der feministischen Linguistik, die den Begriff des generischen Maskulinums in den Achtzigerjahren als Lehnwort aus dem Englischen überhaupt erst im Deutschen etabliert hat. Das heißt, bei dem Ausdruck handelte es sich von Anfang an um einen umstrittenen, man könnte auch sagen: einen Kampfbegriff, der auf die sprachliche Diskriminierung von Frauen hinweisen sollte.

Nun waren in jüngster Zeit immer wieder einmal Verzweiflungsrufe deutscher Sprachwissenschaftler zu vernehmen, dass die grammatischen Genera nicht mit dem biologischen Geschlecht zu verwechseln sind, wie sich an vielen Wörtern zeigen lässt; die Waise kann ein Junge und der Liebling eine Frau sein, das Idol ist keine Sache, und das weibliche Personalpronomen »sie« schließt im Plural beide Geschlechter ein; es handelt sich hierbei um ein generisches Femininum, ohne dass es irgendwem auffiele oder gar ungerecht erschiene. Mit dem Geschlecht haben die grammatischen Genera so wenig zu tun wie der Akkusativ mit der Anklage, nach der er benannt ist (lateinisch accusare, anklagen).

Ebenso bekannt dürften inzwischen die Gegenargumente sein, die genauso wenig von der Hand zu weisen sind. Denn ja: Sprache ist niemals neutral, in ihr bilden sich immer auch gesellschaftliche und politische Verhältnisse ab. So ist die Vorstellung eines göttlichen Wesens, die in den Anfängen der Religionsgeschichte häufig noch weiblich konnotiert war, seit Jahrtausenden mit männlichen Pronomina und Attributen belegt, und das ist natürlich keine himmlische Fügung, sondern Ausdruck einer patriarchal verfassten Ordnung, wie sie sich überall in der Welt herausgebildet hat. Vor allem aber ist Sprache kein statisches, von ihren Sprechern unabhängiges System. Sie ist nicht nur Sprechen, sie ist auch Hören, und wenn heute anders gehört wird, mit besonderer Sensibilität für geschlechtliche Ungleichheit etwa, verändert sich auch die Sprache. Aus dem Koran erfahren wir, dass arabische Hörerinnen das generische Maskulinum bereits im 7. Jahrhundert als ausgrenzend wahrnahmen; da nimmt es nicht wunder, wenn neuere Untersuchungen erst recht belegen, dass Frauen sich nicht in der gleichen Weise angesprochen fühlen wie Männer, wo etwa in einer Stellenausschreibung Substantive lediglich im Maskulinum verwendet werden.

Ein Sprachwissenschaftler kann noch so häufig darauf verweisen, dass etwa ein Wort wie »Leser« ein Gattungsbegriff ist und man genau genommen von männlichen Lesern sprechen müsste, wenn ausschließlich Männer gemeint sind – sobald niemand mehr im Wort »Leser« die Leserinnen mithört, hat der Wissenschaftler allenfalls sprachgeschichtlich recht. Die Redaktion des Dudens hat der Entwicklung, die sich abzeichnet, bereits vorgegriffen und das generische Maskulinum offiziell gestrichen: Ein Mieter ist demnach ausschließlich eine »männliche Person, die etwas gemietet hat«. Und dennoch gebrauche ich selbst Wörter wie Leser und Hörer weiterhin geschlechtsneutral, füge also anders als ein heutiger Nachrichtensprecher nicht jedes Mal auch die weibliche Form hinzu. Warum?

Ich komme noch einmal zurück zum Wort Gott: Sosehr sie verdrängt wurde und wird, hat sich die Weiblichkeit Gottes in den Religionen auf die eine oder andere Weise bewahrt, in der Mystik, in der Volksfrömmigkeit und erst recht in der Kunst. Das gilt sogar für den Monotheismus, der nicht zugleich männliche und weibliche Gottheiten zulässt und auch keine göttlichen Zwitterwesen wie im Hinduismus. In der Bibel wird die Weisheit, die Sophia, als eine von Gott abstammende, aber doch unabhängige und eben weibliche Person verehrt, als seine Braut, und im rabbinischen Judentum und in der Kabbala trägt Gott selbst in Gestalt der Schechina, seiner »Einwohnung« auf Erden, weibliche Züge. Selbst das orthodoxe und das katholische Christentum, die Gott in einem Mann inkarniert sehen, heiligen zugleich die Gottesmutter: Schon C. G. Jung hat in der Marienverehrung ein Mittel erkannt, das männlich verfasste Gottesbild der Kirche auszugleichen. Im Islam nun ist das wichtigste und häufigste Attribut Gottes, die rahma oder Barmherzigkeit, eindeutig weiblich konnotiert, schon weil es sich von rahim ableitet, Gebärmutter. Die islamische Mystik, die sich nicht zuletzt in der Begegnung mit den asiatischen Religionen entwickelt hat, schreibt Gott denn auch gleichermaßen männliche und weibliche Eigenschaften zu. Wenn aber Gott Mann und Frau ist, dann ist es auch der Mensch, und zwar jeder Mensch. Denn in jedem Menschen bildet sich die göttliche Wirklichkeit ab.

Natürlich ist damit keine biologische Wirklichkeit gemeint, obwohl es bekanntermaßen Kinder gibt, deren Geschlecht nicht eindeutig zu identifizieren ist. Wohl alle Kulturen haben ein Verständnis dafür entwickelt, dass sich die menschliche Psyche aus unterschiedlichen und eben auch widersprüchlichen Elementen zusammensetzt, die eher dem Männlichen oder dem Weiblichen zugeordnet werden. Als Ideal gilt seit je, beide Wirkkräfte in ein Gleichgewicht zu bringen und sich produktiv ergänzen zu lassen, etwa das Yin und Yang in der chinesischen Philosophie oder Animus und Anima in Jungs analytischer Psychologie. In der widersprüchlichen Erfahrung des Göttlichen als furchteinflößend und anziehend zugleich spiegelt sich diese Dualität der Seele: mysterium tremendum und mysterium fascinosum bei Rudolf Otto, die Erhabenheit und Schönheit Gottes im Islam, die Kontraktion und Expansion der Mystik, das Einatmen und Ausatmen bei Goethe.

Deshalb erlebe ich die Öffnung und Erweiterung sexueller Bestimmungen, die der Feminismus begonnen hat und die heute die Queer-Bewegung überall in der westlichen Welt propagiert, nicht nur als eine soziale Befreiung. Auch wenn es nicht allen Akteuren bewusst ist oder gar dringlich erscheint, liegt in den vielfältigen Übergängen, Überschneidungen und Ambivalenzen eine grundlegende religionspsychologische und anthropologische Wahrheit. Im Übrigen kann ich mir bei aller zugegebenen Voreingenommenheit nicht vorstellen, dass irgendwer auf der Welt mehr von der Frauenbewegung profitiert hat als ich selbst. Denn nur eine Generation früher geboren, wäre ich um die größte Bereicherung meines Lebens gebracht worden, nämlich meine beiden Kinder als gleichberechtigter Vater erziehen zu dürfen, mit all den Zärtlichkeiten und Verpflichtungen, Sorgen und Glücksmomenten einer Mütterlichkeit, die jeder Mensch in sich trägt, Mann oder Frau. Unsere Väter haben ungleich weniger Zeit mit ihren Kindern verbracht, und jedenfalls mein Vater hat mich zwar anfangs belächelt, wenn ich mit dem Baby vorm Bauch in die Tür trat oder er mich beim Wickeln antraf; aber gegen Ende seines Lebens bedauerte er zutiefst, dass eine solche Innigkeit für einen Mann seiner Generation noch undenkbar gewesen war, im Iran genauso wie in Deutschland.

Wir sind nicht eindeutig, niemand von uns, weder ethnisch noch kulturell, weder psychologisch noch geschlechtlich, und eine konsequente, ausschließliche Männlichkeit hat sich in der Weltgeschichte ebenso wie in der Geschichte der Religionen ein ums andere Mal als toxisch erwiesen. Bezeichnenderweise hat Theodor W. Adorno nicht etwa Identität zum utopischen Motiv erhoben, also das Einssein eines Wesens mit seinen äußeren Zuschreibungen, sondern das Nicht-Identische – wo also etwas oder jemand nicht aufgeht in den Begriffen, die von ihm gemacht werden. Identitätspolitik, die Menschen auf bestimmte geschlechtliche oder ethnische Merkmale festlegt und sie einer vermeintlich homogenen Gruppe zuordnet, war immer schon Terror und ist es auch in ihren heutigen Ausformungen geblieben, ob links oder rechts, ob religiös oder nationalistisch, ob rückwärtsgewandt oder emanzipatorisch gemeint, und häufig genug mündet sie in physische Gewalt.

Sprache jedoch kategorisiert, das ist ihre Natur als Zeichensystem; das heißt, sie ordnet die vielfältige, ambivalente, in ihrer Komplexität letztlich unendliche Erfahrungswelt einer notwendig begrenzten Anzahl von Begriffen zu. Sie sagt »Liebe«, obwohl jeder weiß, dass mit dem Wort allein noch gar nichts gesagt ist, weil das Gemeinte so unterschiedlich und sogar vollends gegensätzlich sein kann. Sie sagt »Wurzel« und fasst damit nicht nur eine kaum zu übersehende biologische Vielfalt unter einen Begriff, sondern in der Übertragung zusätzlich alle möglichen weiteren Bedeutungsgehalte. Sprache trennt das eine vom anderen, den Stuhl vom Tisch, den Verstand vom Gefühl, die Trauer vom Glück, obwohl wir aus der Physik, aus der Psychologie und erst recht aus der Mystik wissen, dass alles mit allem durch ein endloses Beziehungsgeflecht verbunden ist. Sprache ist, nein, sie muss pragmatisch sein, sonst wären keine Verabredungen möglich, keine gesellschaftliche Ordnung, weder Theorien noch Skatabende. Sprache sagt Mann und Frau, obwohl alle Weisheitslehren auf die eine oder andere Weise die Einsicht bereithalten, dass keine menschliche Natur und schon gar nicht unsere Sexualität in eine starre geschlechtliche Dichotomie passt. Damit läuft Sprache stets Gefahr, in ihrer notwendigen Vereinfachung Komplexität zu reduzieren, Zustände zu zementieren oder mit biologischen Wirklichkeiten verwechselt zu werden. Sie birgt die Gefahr, dass diejenigen, die unter einer bestimmten Zuschreibung zusammengefasst werden, sagen wir: Juden, Deutsche, Schwarze, Asiaten, Schwule, Orientalen, Männer, Frauen, Transsexuelle, in eine einzelne Identität gezwungen werden.

Keine Sprache der Welt nennt jedes Mal alle Geschlechter, wenn von einer gemischten Personengruppe die Rede ist, das wäre für die Alltagssprache zu umständlich und für die Poesie zu sperrig. Das brauchen die Sprachen auch nicht, weil sie das Gesagte und das Gemeinte nicht eins zu eins codieren. Sie sind, so formuliert es der Sprachwissenschaftler Olav Hackstein, »tendenziell ökonomische Kommunikationssysteme«, die durch Implizitheit gekennzeichnet sind: Jeder Hörer versteht, was gemeint ist, obwohl es so eindeutig keineswegs gesagt ist. Sprache funktioniert also auch und gerade durch das, was nicht gesagt, aber von den Hörern mitgedacht wird. Um Eindeutigkeit herzustellen, ist ihr Zweck zu pragmatisch und sind ihre Mittel allzu begrenzt.

Neben allen sprachlichen und ästhetischen Gründen ist das auch der Grund, warum ich das Gendern nicht etwa als emanzipatorisch wahrnehme, sondern als eine geistige wie politische Regression. Geschlechtszuschreibungen gehen nicht in zwei, sie gehen aber auch nicht in 27 Kategorien auf. Zu meinen, man könne mittels der Sprache jederzeit jedem Angesprochenen gerecht werden, verkennt nicht nur ihr Wesen; es legt die Angesprochenen überhaupt erst fest auf eine Identität. Die Vielfalt, die Ambivalenz, die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur und ihrer Wahrnehmung auszudrücken ist nicht Aufgabe unserer Alltagssprache, und schon gar nicht ist es die Aufgabe irgendeiner behördlichen oder akademischen Instanz – das ist Aufgabe und sogar Daseinszweck der Literatur, der Musik, der Kunst: eine Unmöglichkeit, die auf erstaunlichste Weise dennoch immer wieder gelingt. Ein Schriftsteller wie Proust vermag alle Schattierungen und Paradoxien menschlichen Begehrens auf einer einzigen Seite zu fassen. Kleist setzt Liebe und Hass in eins, Beckett findet für das Verstummen Worte, Simone Weil denkt bei Gott zugleich an das Nichts. Literatur breitet nicht lang und breit aus, was in der Alltagssprache bündig formuliert werden könnte. Im Gegenteil, sie schafft bewusst Lücken, durch die die Einbildungskraft des Lesers ins Werk gezogen wird.

Nun spreche ich mit dem Persischen und dem Englischen zwei Sprachen, die bei Substantiven ohne grammatisches Geschlecht auskommen. Schreibt es sich in ihnen besser? Zwar ist es ein Trugschluss, dass sich aus der sprachlichen Gleichheit der Geschlechter reale soziale Gleichheit ergibt, sonst müsste es in der Türkei oder im Iran anders zugehen. Sprache ist ein Ausdruck von Wirklichkeit, auch von sozialer Wirklichkeit und gegebenenfalls Ungleichheit, aber sie ist kein Instrument, um die Wirklichkeit zu verändern. Außer in totalitären Systemen verändert sich die Sprache von selbst mit der Wirklichkeit mit.

Für die Literatur liegt in der Uneindeutigkeit von Geschlechterzuschreibungen allerdings ein enormer Vorteil. Die homoerotische Dichtung Persiens etwa lebt eben davon, dass sie offenlassen kann, ob es sich im Einzelfall um den oder die Geliebte handelt. Aus der biografischen Literatur wissen wir zwar, dass sich die großen Liebesgedichte Rumis an einen Mann richteten, gleichwohl konnten die Leser und politischen Autoritäten über Jahrhunderte hinweg und noch im heutigen Iran so tun, als wäre eine Frau angesprochen. Und gewiss hat Rumi seine Gedichte in ebendiesem allgemeingültigen Sinne gemeint, dass die Liebe nicht auf eine bestimmte geschlechtliche Konstellation gemünzt war, zumal er mit der irdischen Liebe zugleich auch die Liebe zwischen Gott und Mensch besang, zwischen Schöpfer und Geschöpf.

Etwas Vergleichbares habe ich erlebt, als ich 15- oder 16-jährig die Platten von Rio Reiser hörte. Ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass Rio Reiser schwul war und seine Verse, seine Sehnsucht, sein Begehren sich auf einen Mann bezogen. Im Siegerland der frühen Achtzigerjahre gab es keine Schwulen, keine Lesben – Homosexualität war für Jugendliche wie mich nicht etwa verpönt, sie war einfach nicht existent. Erst im Rückblick kann ich vermuten, wer von meinen Mitschülern eine andere sexuelle Neigung hatte als die anderen, und ich kann mir ausmalen, wie sehr sie unter der Tabuisierung gelitten haben müssen. Als ich in der Oberstufe erfuhr, dass ausgerechnet mein liebster deutscher Rocksänger einen Mann liebte, hat es – das weiß ich noch genau – klick gemacht in meinem Kopf: Mann, Frau, völlig egal, dachte ich – solche Liebe kann nicht falsch sein, die Rio Reiser besingt. Möge er in Frieden ruhen.

Nun kennt das Du, mit dem Rio Reiser sich an seine Liebe wandte, kein Geschlecht. Wenn ich hingegen in einem Roman über die Liebe schreibe, verfluche ich die deutsche Grammatik gelegentlich. Denn sie zwingt mich, das Geschlecht des oder der Geliebten offenzulegen. Für die Einbildungskraft des Lesers bliebe ungleich mehr Raum, wenn er nicht wüsste, wohin im Einzelfall die Liebe der Ich-Erzählerin ausschlägt. Dass heute der bloße Umstand anstößig geworden ist, sich als Mann in eine Frau hineinzuversetzen, sollte dabei erst recht motivieren, auf dem Nicht-Identischen zu beharren, das jedem künstlerischen Akt inhärent ist.

Andererseits lässt die deutsche Sprache Nuancierungen zu, die im Englischen und Persischen nicht möglich wären. Ich kann geschlechtliche Bestimmungen kenntlich machen, aber dank des generischen Maskulinums auch dort verschwinden lassen, wo sie ohne Bedeutung sind. Wenn ich etwa eine Mail an meine Freunde verschicke, um sie zu meinem Geburtstag einzuladen, dann rede ich sie bewusst nicht als Freundinnen und Freunde an. Das Wort »Freundin« hätte, von einem Mann geschrieben, eine ungewünschte, am Ende sogar erotische Konnotation, die mir im Zusammenhang einer Geburtstagseinladung unpassend erschiene. Wenn ich hingegen als Dozent eine Mail schreibe, rede ich meine Studenten durchgehend als »liebe Studenten und Studentinnen« an – obwohl die Studentinnen nicht in ihrer Eigenschaft als Frauen an meinem Seminar teilnehmen. Niemand würde aus meiner Anrede schließen, dass mich ihr Geschlecht besonders interessiert, eher ist es umgekehrt: Heutige Studentinnen könnten es als Affront oder Zurückweisung verstehen, wenn ich auf dem generischen Maskulinum beharrte. Da ich mich nicht dazu entschließen kann, das üblich gewordene, semantisch jedoch falsche und dazu unschöne Partizip »Studierende« zu verwenden, ist es also notwendig, beide Geschlechter zu nennen. Eigens die Studentinnen anzusprechen, obwohl sie sprachlich als Studenten mitgemeint sind, ist für mich ein Akt ebenso selbstverständlicher wie auch schöner, das Leben bereichernder Höflichkeit.

Sprache, Kultur, Zivilisation, sie bestehen nicht nur aus Notwendigkeiten. Sie bestehen auch aus dem, was der Regel nach überflüssig wäre. Dichtung zumal konstituiert sich auch aus Regelbrüchen. Die deutsche Sprache und wahrscheinlich alle Sprachen, die ein grammatisches Geschlecht kennen, erlauben Betonungen, Halbtöne und vielerlei Abweichungen von der grammatischen Norm, ohne die ich mir mein literarisches Schreiben gar nicht mehr vorstellen kann. Die Möglichkeit, ein Substantiv zu verweiblichen, aber es je nach Kontext auch nicht verweiblichen zu müssen, erweitert zudem die melodische und rhythmische Variabilität, sie ermöglicht Parallelismen dort, wo der Hauptstamm mehrerer Wörter unterschiedlich ist.

Aber die weibliche Endung – egal, wie ich ihre Anwendung variiere – ist nicht nur ein literarischer Wertstoff. Sie ist auch ein semantischer Gewinn. Bleiben wir bei der Alltagssprache: Ich kann von einer Kollegin als bedeutendstem Autor der deutschen Gegenwartsliteratur sprechen. Ich kann sie aber auch als die bedeutendste Autorin der deutschen Gegenwartsliteratur bezeichnen. Beides ist möglich, aber der Sinn ist jeweils ein anderer. Das generische Maskulinum erlaubt es, sich knapper und dabei doch präziser auszudrücken; ohne es müsste ich im Superlativ von der Kollegin als der bedeutendsten aller Autoren und Autorinnen der deutschen Gegenwartsliteratur sprechen. Sprache aber, die Sprache unserer täglichen Kommunikation, ist pragmatisch, und so neigen Sprachentwicklungen in der Regel zur Vereinfachung. Deshalb glaube ich auch nicht, dass sich das Gendern in der mündlichen Sprache durchsetzen wird. Nicht nur fehlt die Akzeptanz außerhalb eines begrenzten, entgegen seiner Selbstwahrnehmung außerordentlich homogenen Milieus; das Gendern ist schlicht zu umständlich, kompliziert und unmelodisch, um sich im Alltag durchzusetzen, geschweige denn in der literarischen Sprache. Allenfalls wird sich das Sternchen im Verwaltungsdeutsch und der Glottisschlag als Distinktionsmerkmal der höher gebildeten, sozial bessergestellten Schichten behaupten.

Was aber wahrscheinlich aus der deutschen Sprache verschwinden wird, ist das generische Maskulinum. Wie gesagt, Sprache ist nicht Motor, aber doch Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungen, und sprachliche Gleichheit zwischen den Geschlechtern scheint ein weithin empfundenes Anliegen zu sein. Als Schriftsteller kann ich den Verlust bedauern, ich kann darauf hinweisen, dass gerade der Verzicht auf eine geschlechtsneutrale Verwendung von Wörtern die Sexualisierung der Sprache befördert, ich kann mich gegen das Verschwinden des generischen Maskulinums stemmen; aber zugleich möchte ich natürlich vermeiden, dass meine Sprache als unhöflich empfunden oder gar mit einer konservativen gesellschaftspolitischen Botschaft verbunden wird, die althergebrachte Geschlechterrollen affirmiert. Wenn Sprache nicht nur Sprechen, sondern auch Hören ist, kann ich nicht ignorieren, dass insbesondere jüngere Hörer oder eben Hörerinnen das generische Maskulinum nicht mehr kennen, weil es ihnen der Deutschunterricht nicht vermittelt. Also bleibt mir nur zu hoffen, dass die geschlechtsneutrale Verwendung männlicher Substantive und Pronomen wenigstens in meiner Lebenszeit noch nicht als Provokation missverstanden und also ins Gegenteil verkehrt wird. Wenn eine männliche grammatische Form die geschlechtliche Identität gerade nicht mehr überginge, sondern im Gegenteil überbetonte, wäre das generische Maskulinum endgültig tot.

Aber verwirft nicht bereits der Koran das generische Maskulinum? Nein, er ignoriert es in einem spezifischen Kontext zu einem bestimmten Zweck, in diesem und vielen anderen Versen, die von der feministischen Exegese deshalb zu Recht hervorgehoben werden. Soweit bekannt, ist der Koran der erste arabische Text überhaupt, der Frauen direkt anspricht, und die Überlieferung berichtet von männlichen Hörern, die deswegen überaus irritiert waren. In der Regel jedoch, also dort, wo das Geschlecht der Hörer nicht eigens herausgestellt werden soll, belässt es der Koran bei der männlichen Form. Anders gesagt: Wie in jeder Dichtung setzt der Bruch der Regel die Regel voraus.

In seinen Mekkanischen Offenbarungen zählt der große Mystiker Muhyiddin Ibn Arabi die spirituellen Eigenschaften des »Vollkommenen Menschen« auf, des insân kâmil. In Anlehnung an die eingangs zitierte Sure 33:35 fügt er nach jeder einzelnen Eigenschaft den gleichlautenden Zusatz mina r-ridschâl wa-n-nisâ hinzu: »unter den Männern und unter den Frauen«. Sprachlich wäre das nicht notwendig: Das Wort »Mensch«, insân, wiewohl männlich, umfasst im Arabischen wie im Deutschen beide Geschlechter. Gleichwohl ist es schön und damals wie heute auch gesellschaftlich notwendig, dass Ibn Arabi die Formel hinzufügte. Erst in einer gleichberechtigten Gesellschaft müsste man vom generischen Maskulinum nicht mehr abweichen. Umgekehrt bringt sein Verschwinden die Gleichberechtigung keinen Schritt voran.

***

Navid Kermani

Der Schriftsteller und ZEIT-Autor lebt in Köln. 2015 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Am 24. Januar erscheint bei Hanser sein Buch »Jeder soll von dort, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott«.

Illustration: Cristina Daura für DIE ZEIT Foto: Stefan Boness/Ipon/Süddeutsche Zeitung Photo