»Die Bombe könnte auch meine Mama anbringen«
DIE ZEIT: Herr Schlöffel, als Unbekannte im September in der Ostsee drei der vier Nord-Stream-Pipelines für Gas aus Russland sprengten, hieß es, eine solche Operation bekämen nur Militärs eines Staates hin. Es wurde debattiert über Spezial-U-Boote, Tiefsee-Roboter und Unterwasser-Drohnen. Jetzt spricht vieles dafür, dass es wohl nur eine Handvoll Leute waren, die sich eine Segeljacht gemietet hatten und dann einfach runtergetaucht sind. Wie kann das gehen?
Achim Schlöffel: Den Auftrag hätte ich sofort angenommen, weil ich mir gedacht hätte: nichts leichter als das.
ZEIT: Leicht? Die Pipelines liegen in rund 80 Metern Tiefe. Ist das nicht zu tief für normale Taucher?
Schlöffel: Jein. Die meisten Hobbytaucher bewegen sich mit klassischen Techniken in Tiefen von etwa 40 Metern. Sie verwenden Pressluft aus einer Flasche und atmen ins Wasser aus. Dann gibt es aber die sogenannten technischen Taucher. Die sind anders ausgerüstet und ausgebildet und gehen davon aus, dass ihnen der Weg zurück an die Wasseroberfläche auf irgendeine Art versperrt ist. Sei es durch eine Decke in einer Höhle oder einem Wrack. Oder, wie im Fall des Nord-Stream-Anschlags, aufgrund der Tiefe des Tauchgangs. Runterkommen ist nicht das Problem. Heil wieder hochkommen ist das Problem, wegen der enormen Druckunterschiede. Beim Auftauchen muss man sehr lange Pausen einlegen. Sonst kann das tödlich enden.
ZEIT: Wie lange braucht man, um aus 80 Metern wieder nach oben zu kommen?
Schlöffel: Rund 90 Minuten – wobei das davon abhängt, wie lange man in der jeweiligen Tiefe war. Das berechnen meist Computer. Die technischen Taucher können so tief gehen und so lange unter Wasser bleiben, weil sie keine Pressluft verwenden, sondern einen Mix aus Sauerstoff, Stickstoff und Helium. Damit muss man sich auskennen, weil das Atemgas sonst giftig werden kann. Oder sie benutzen Rebreather, das sind Geräte, die verbrauchte Atemluft wieder aufbereiten. Damit braucht man nur kleine Flaschen und hat keine Blasen im Wasser, wie sie durchs Ausatmen entstehen würden. Man ist also fast unsichtbar. Die meisten technischen Taucher nutzen solche Geräte.
ZEIT: Das klingt aber schon nach Profi-Arbeit.
Schlöffel: Nein, das müssen keineswegs Profis gewesen sein. Wer bei uns das technische Tauchen lernt, durchläuft drei Kurse, Level eins, zwei und drei. Schon wer das zweite Level abgeschlossen hat, könnte die Pipelines erreichen. In der Ostsee sind viele technische Taucher unterwegs, denn da liegen viele interessante Wracks, das berühmteste ist der Flugzeugträger Graf Zeppelin aus dem Zweiten Weltkrieg, auch in 80 Metern Tiefe. Der Tauchgang als solcher ist anspruchsvoller als das Anbringen von Sprengstoff an einer Pipeline.
ZEIT: Es heißt, für die Sprengungen seien vielleicht zwei Tonnen TNT-Äquivalent nötig gewesen. Wie sollen zwei Taucher zwei Tonnen des Sprengstoffs da runterbringen?
Schlöffel: Man darf nicht den Fehler machen, zwei Tonnen TNT-Äquivalent mit zwei Tonnen Sprengstoff gleichzusetzen. Mit zwei Tonnen Sprengstoff könnten Sie eine Stadt plattmachen. TNT-Äquivalent ist eine Maßeinheit für die bei einer Explosion frei werdende Energie. Falls die Saboteure Plastik-Sprengstoff verwendet haben sollten, der ist deutlich leichter als zwei Tonnen. Ich habe ja auch militärisches Personal ausgebildet und kenne mich damit ein bisschen aus.
ZEIT: Der Playboy hat mal eine Geschichte über Sie veröffentlicht, auf den Bildern sind Sie am Wasser zu sehen, mit allerhand martialisch wirkendem Schießgerät. Die Überschrift lautete: »Töten Sie mich – wenn Sie können«. Klingt nach James Bond.
Schlöffel: Nein, es ging um eine spezielle Art von Aufträgen. Wir wurden ja auch von Menschen engagiert, die gefährdet oder nur sehr reich sind. Wir sollten Anschläge simulieren, zum Beispiel auf Luxusjachten. So hat uns mal ein israelischer Industrieller geholt, nachdem er Drohungen erhalten hatte, seine Kinder würden entführt. Zu Hause fühlte er sich noch sicher. Aber sobald er in See stach, hatte er ein mulmiges Gefühl. Es war dann auch einfach, auf seine Jacht zu gelangen und unbemerkt in die Kabinen vorzudringen. Wir haben anschließend ein Sicherheitskonzept entwickelt. Und dann kamen mehr Anfragen.
ZEIT: Wie genau könnten die Saboteure den Anschlag auf die Pipelines denn ausgeführt haben?
Schlöffel: Ich hätte es ähnlich gemacht wie die ja offenbar: also ein ziviles Boot gemietet, dazu eine Handvoll guter Freunde geholt und eine Seekarte. Auf der sind Pipelines eingezeichnet, damit nicht Boote dort aus Versehen ankern oder Fischer ihre Netze auswerfen. Wichtig ist ein vernünftiges Echolot für die exakte Ortung. Dann würde ich über der Pipeline ein Bleigewicht nehmen, eine Leine und oben dran eine kleine Boje festmachen. Das Ganze würde ich dann abwerfen. In der Zeit könnten sich die Taucher fertig machen, das dauert rund zwanzig Minuten. Die würden dann der Leine in die Tiefe folgen. Unten angelangt könnten sie die Sprengladungen an der Pipeline platzieren. Wenn sie fertig sind, lassen sie eine Boje mit Leine hochsteigen, fast jeder Taucher kann das. Dann gehen sie sachte hoch, treiben bei ihren Dekompressionspausen tief unten im Wasser in der Strömung. Das Boot folgt in der Zeit oben der Boje. Wenn die Taucher schließlich die Oberfläche erreichen, gehen sie wieder aufs Boot und verschwinden damit.
ZEIT: Wie lange muss man für einen 80 Meter tiefen Tauchgang in der Ostsee trainieren?
Schlöffel: Ein routinierter Urlaubstaucher bräuchte vielleicht ein Jahr für die Kurse. Wer nichts anderes zu tun hat, schafft es auch in drei Monaten.
ZEIT: Das Wasser der Ostsee ist ja eher trübe. Sieht man in der Tiefe überhaupt irgendetwas?
Schlöffel: Unterhalb von fünf Metern sehen Sie klarer. Die Lichtverhältnisse da unten sind schon gut zum Arbeiten, außerdem haben Taucher Lampen dabei. Das Schwierigste ist es, die Pipeline zu finden. Und das geht sowieso nicht ohne die Leine, weil die Strömung einen sonst versetzen würde.
ZEIT: Sind spezielle Gase oder diese Rebreather eher exotisches Equipment? Fallen Leute auf, die so etwas kaufen oder das Gerät auf ein Boot schleppen?
Schlöffel: Es gibt inzwischen recht viele technische Taucher in Deutschland, wahrscheinlich Hunderte, mit den Sachen fällt man also eher nicht auf.
ZEIT: Was schätzen Sie, wie lange könnten die Saboteure gebraucht haben – also wie lange müsste das Boot in der Nähe geblieben sein?
Schlöffel: Ich bin vor Kurzem zu einem Wrack vor der italienischen Insel Elba getaucht und habe dort Aufnahmen gemacht, das lässt sich von Aufwand und Tiefe her vergleichen. Die ganze Aktion hat ungefähr drei Stunden gedauert.
ZEIT: Aber die Nord-Stream-Taucher mussten ja nicht nur runter zur Pipeline und wieder hoch. Sie mussten auch Bomben platzieren. Wem trauen Sie solche Fähigkeiten zu – dann eben doch Marinetauchern eines Staates?
Schlöffel: Die Bombe könnte auch meine 80-jährige Mama anbringen, wenn sie mal vor Ort wäre. Man muss halt darauf achten, dass die Sprengwirkung in eine Richtung geht.
ZEIT: Die größte Herausforderung liegt wahrscheinlich darin, den Sprengstoff zu besorgen.
Schlöffel: Das müssen ja nicht zwingend diejenigen gemacht haben, die den Auftrag ausgeführt haben. Und es ist ja nicht so, dass hinter jedem Anschlag eine Regierung oder sonstige Militärs stecken. Weder beim Oktoberfestattentat in den Achtzigerjahren war das so noch bei all den Attentaten im Nahen Osten. Es gibt heute genug Möglichkeiten, eine Bombe zu bauen. Vielleicht gehören zu eventuellen Hintermännern auch solche, die Zugang zu Sprengstoffen haben.
ZEIT: Es gibt die Vermutung, dass eine Ärztin mit an Bord der Saboteure gewesen sein könnte. Was für einen Sinn könnte das haben?
Schlöffel: So gut wie gar keinen. Eine Dekompressionskammer an Bord würde Sinn machen, aber die passt nicht auf eine solche Jacht. Und zum Verabreichen von reinem Sauerstoff an Bord brauche ich keine Ärztin. Wenn etwas so richtig schiefgegangen ist, dann braucht man einen Hubschrauber, damit man schnell ins nächste Krankenhaus geflogen werden kann. Da hilft eine Ärztin auch nicht. Mich wundert ohnehin, dass man bislang so gut wie nichts über die Saboteure weiß, wohl aber den angeblichen Beruf dieser Frau. Das ist doch merkwürdig.
ZEIT: Auf dem Grund der Meere liegen ja nicht nur Wracks, sondern auch Teile wichtiger Infrastruktur, ohne die Industrieländer wie Deutschland schwerlich lange auskommen können: Pipelines, Stromkabel, Internet-Leitungen, Hunderte oder gar Tausende Kilometer lang. Sind die überhaupt zu schützen?
Schlöffel: Mit Sicherheit werden sie auf irgendeine Art und Weise überwacht. Wie genau, das weiß ich nicht. Aber wir haben ja nun gesehen, dass der Schutz im Fall Nord Stream nicht gut genug war. Wie will man eine so lange Leitung auch wirkungsvoll schützen? Vor allem, weil die Position ja in den Seekarten eingezeichnet ist. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Auf der einen Seite müssen die Pipelines gekennzeichnet sein, um sie zu schützen, andererseits macht man es so Angreifern leicht. Bei Transatlantikkabeln etwa helfen wahrscheinlich die enormen Tiefen, da bräuchte man dann schon spezielle U-Boote oder dergleichen für einen Anschlag. Aber ich denke, dass es in flachen Gewässern wie der Ostsee keinen auch nur annähernd perfekten Schutz geben kann.
ZEIT: Die Enthüllungen von New York Times und ZEIT zum Nord-Stream-Attentat beleuchten eine Welt, von der die meisten Menschen wenig wissen. Sie haben schon viele Leute ausgebildet, die dort hinwollten. Was sind die zivilen technischen Taucher für Leute? Sind das alles Männer mit einem Faible für Technik?
Schlöffel: Es ist ein von Männern dominierter Sport, richtig, auch eine Plattform für Selbstdarsteller. Natürlich sind immer wieder Menschen dabei, die sich etwa für Geschichte interessieren und beispielsweise historische Wracks erkunden wollen. Gerade erst habe ich zwei Polen ausgebildet. Solche Leute stellen oft irgendwann fest, dass die interessanten Sachen tiefer liegen, als sie mit normaler Ausrüstung tauchen können. Aber vor allem gibt es viele Leute, die sich über diesen Sport identifizieren. Vielleicht auch solche, die im Alltag keine großen Erfolgserlebnisse haben und sich diese dann über den Sport holen.
ZEIT: Was fasziniert Sie am Tauchen?
Schlöffel: Natürlich ist es auch die Unterwasserwelt, die Ruhe, die Leichtigkeit, dieses absolute Gefühl von Freiheit, im dreidimensionalen Raum zu schweben. Auch das Abenteuer, das Unbekannte zu erforschen oder in eine Höhle einzutauchen, in der vorher noch keiner war, spielt eine Rolle. Ein amerikanischer Höhlenforscher meinte, das Tauchen sei die Raumfahrt des kleinen Mannes. Das trifft es eigentlich ganz gut.
ZEIT: Sie haben erzählt, dass Sie mit 17 Jahren die Schule verlassen hätten, weil Sie nur noch tauchen wollten. Wie kann man so etwas in dem Alter wissen?
Schlöffel: Oh, das fing schon viel früher an. Im Alter von sieben Jahren war ich mit meinen Eltern im Urlaub in Griechenland und wurde beim Schwimmen von einem Boot überfahren. Gott sei Dank ist nicht viel passiert. Der Bootsfahrer war bei der griechischen Marine, ehemaliger Taucher, ihm war der Unfall super-unangenehm. Er wollte das wiedergutmachen. Als ich sah, dass er Tauchflaschen auf seinem Boot hatte, fragte ich ihn, ob er mir das Tauchen beibringen könne. Ich war damals ja schon im Schwimmverein. Er hat mir dann tatsächlich Unterricht gegeben. Zwei Wochen lang, jeden Tag. Es war toll.
ZEIT: Sie haben ein Buch geschrieben, es heißt Der Tod taucht mit. Und Sie haben als erster – und bislang wahrscheinlich einziger Mensch – den Ärmelkanal durchtaucht. Welche Rolle spielt die Angst bei Ihren Tauchgängen?
Schlöffel: Mich wundert eigentlich, wie wenig passiert. Das liegt vor allem daran, dass die Technik heutzutage so ausgefeilt ist. Es gibt keine schlechte Ausrüstung mehr. Das war in den Fünfziger-, Sechzigerjahren noch anders. Die Unfälle, die heute passieren, werden dadurch verursacht, dass sich die Leute nicht an die Regeln halten. Das endet im technischen Tauchen leider oft tödlich. Deshalb ist Angst eigentlich gut. Angst diszipliniert. Wir sind da unten in einer anderen Welt, wir müssen uns an ihre Gesetze halten. Nur Panik, die sollte man unbedingt kontrollieren können.
Die Fragen stellte Cathrin Gilbert