Es kann noch schrecklich viel passieren
Von meiner Zeit will ich zu Ihnen sprechen, nicht von meinem Leben«, kündigte Thomas Mann an, als er im Mai 1950 ans Pult der Universität Chicago trat: Keinen autobiografischen Vortrag wollte er also halten, sondern über die winzige Strecke Menschheitsgeschichte nachdenken, in die ein einzelnes Schicksal fällt, »das Stundenglas, das mir gestellt war und von dessen in feinem Strom durch die Enge rinnenden Sand so wenig noch übrig ist«. Und der Fünfundsiebzigjährige zitierte Goethe, der sich im selben Alter des Vorteils gerühmt hatte, in eine Zeit voller epochaler Ereignisse hineingeboren worden zu sein, sodass er »vom Siebenjährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von England, ferner von der Französischen Revolution und endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen lebendiger Zeuge« gewesen sei. Das habe ihm, Goethe, »zu ganz anderen Resultaten und Einsichten« verholfen, als wenn er einer anderen, weniger stürmischen Zeit beigewohnt hätte. »Nun«, wandte Thomas Mann ein, »an dem Miterleben markanter Weltbegebenheiten und Weltveränderungen« habe es auch in jedem anderen Geschlechte nicht gefehlt: »Es kommt kein Jahrgang zu kurz.« Als Beispiel verwies er auf seine eigenen fünfundsiebzig Jahre, 1875 in Lübeck geboren, in denen er die bürgerliche, liberale Epoche noch bewusst miterlebt hatte, aber auch deren Auflösung in zwei Weltkriegen und die Schande Deutschlands vor aller Welt, nach 1945 den rasenden Wiederaufbau, die Neuordnung der Staaten in zwei ideologischen Blöcken. So wie Goethe in Weimar Napoleon persönlich begegnete, traf Thomas Mann in Washington mehrfach Franklin D. Roosevelt, der ihm weltgeschichtlich nicht weniger bedeutend erschien als Julius Caesar.
Wie ist es mit meiner Zeit, die 1967 in der westdeutschen Provinz begann? Neunzehn Jahre fehlen mir noch, um so weit wie Goethe und Thomas Mann zurückzublicken, neunzehn Jahre, in denen, wir spüren und fürchten es gerade alle, noch schrecklich viel passieren kann. Lege ich allerdings nur meine bisherige Lebenszeit zugrunde, würde ich wiederum Thomas Mann widersprechen und Goethe recht geben: Doch, manche Jahrgänge kommen, was das Miterleben historischer Umwälzungen betrifft, eindeutig zu kurz. Ist es nicht ein Glück? Wer nach dem Krieg im Westen Deutschlands aufwuchs, kennt nichts anderes als die immer gleiche staatliche Ordnung, einen stetigen Frieden, stabile soziale Verhältnisse, einen beispiellosen Wohlstand, umfassende Freiheitsrechte.
Sicher, in meiner Zeit ereignete sich ebenfalls eine, sogar eine deutsche Revolution, die mächtige Sowjetunion löste sich vor unseren Augen ebenso auf wie der Warschauer Pakt, und mit dem Fall der Mauer schien nicht nur Berlin, schien ganz Europa wiedervereint zu sein. Seither sind wir Zeuge einer neuen Epoche, in der die Vereinigten Staaten als einzig verbliebene Weltmacht von China herausgefordert werden, einem noch vor Kurzem völlig verarmten Riesenreich mit einem ganz anderen, autoritären Wertesystem. Weltpolitisch waren die Jahre nach 1967 an Umbrüchen sogar überreich, mit fürchterlichen Kriegen, blutigen Revolutionen, einem atomaren Wettrüsten und dem Ende des Kolonialismus. Und müsste man nicht auch den Beginn der ökologischen Frage als Zäsur begreifen, schließlich ist meine Generation die erste, die der Zerstörung des Planeten durch den Menschen entgegensieht?
All das ist richtig, und doch sind die Verhältnisse, die uns in Westdeutschland seit nunmehr fünfundsiebzig Jahren beschieden sind, verglichen mit fast allen anderen Zeiten, Weltgegenden und schon im Vergleich mit dem Osten Deutschlands, ausgesprochen kommod. Kein Krieg hat uns verängstigt wie Goethe die französische Besatzung, als marodierende Soldaten sein Haus in Weimar stürmten, kein Terrorregime hat uns zu Flucht und Exil gezwungen wie Thomas Mann. Auch der Klimawandel hat unser Leben – anders als das Leben in weiten Teilen Ostafrikas und Südasiens – noch längst nicht umgestürzt, manche finden die wärmeren Sommer sogar ganz nett. Selbst den Fall der Mauer haben wir nur von der Rückwand aus gesehen oder wie Hausbewohner, die vom Einsturz der gegenüberliegenden Fassade überrascht werden. Bis dahin hatten uns im Westen, seien wir ehrlich, die Bewohner im gegenüberliegenden Haus nicht sonderlich interessiert. Und nach 1989 blieb auf unserer Straßenseite alles mehr oder weniger, wie es war, der gleiche Staat, dieselbe Verfassung, bis vor Kurzem, über dreißig Jahre später, fast die gleiche Parteienlandschaft und abends um acht die Tagesschau. Es ist kein kleines Privileg auf Erden, eine bisher sechsundfünfzigjährige Lebenszeit in Sicherheit, in Freiheit, in Wohlstand verbracht zu haben. Folgt man Goethe, folgt man Thomas Mann, ist es allerdings für die Erkenntnis und damit für jede ernsthafte Autorenschaft durchaus ein Verlust, keine markante Weltbegebenheit oder Weltveränderung persönlich erlebt, persönlich durchlitten zu haben. Das würde bedeuten, dass die westdeutsche Gegenwartsliteratur im Vergleich etwa zu ihren östlichen Nachbarn und selbst zur ostdeutschen Literatur nicht dieselbe Dichte weltbedeutender Werke hervorbringt, hervorbringen kann. Ob der Befund stimmt, mag jeder für sich beurteilen. In meinem Fall stimmt zumindest die Herleitung nicht ganz, allerdings wurde mir das erst in den letzten Jahren bewusst. Je selbstverständlicher ich Deutscher wurde, desto mehr ging mir auf, wie tief mich meine iranische Herkunft prägt. Und auch, dass literarisch darin meine reichste Quelle liegt.
Kurz nach Weihnachten 1978, ich war soeben elf Jahre alt geworden, nahm uns mein Vater mit nach Neauphle-le-Château nahe Paris. Wenn ich mich richtig erinnere, wollten wir in den Skiurlaub fahren, aber mein Vater hatte sich in den Kopf gesetzt, Ajatollah Chomeini zu besuchen, der von seinem französischen Exil aus die Islamische Revolution anführte. Mein Vater, es fällt mir schwer, das auszusprechen, weil ich ihn natürlich liebe, mein Vater war seinerzeit ein überzeugter, heute würde ich sogar sagen: glühender Anhänger Chomeinis. Wir anderen hingegen waren nicht begeistert von dem langen Umweg über Paris, meine Mutter, meine zwei Brüder und das Nesthäkchen, das heute vor Ihnen steht. Der dritte, ebenfalls deutlich ältere Bruder war gar nicht erst mitgefahren, weil er eine neue Freundin hatte oder lieber Party feiern wollte, was wusste ich. Vor allem meiner Mutter, obwohl sie wie fast alle Iraner die Revolution unterstützte, war der Ajatollah von Anfang an suspekt. Das hatte, so vermute ich heute, auch mit ihrer Klassenzugehörigkeit zu tun, nicht so sehr mit der Religion. Ihr Vater war ein Großgrundgrundbesitzer, wenn auch während der Landreform von 1963 weitgehend enteignet und nicht mehr annähernd so vermögend wie mein Urgroßvater, dafür hochgebildet, mehrsprachig, Absolvent der Amerikanischen Schule in Teheran, im Berufsleben Bankdirektor in Isfahan. Meine Großmutter mütterlicherseits war sogar aus adeligem Geblüt, Enkelin des Prinzen Zell os-Soltan, der als Gouverneur Ende des 19. Jahrhunderts Isfahan tyrannisiert und nach der Krone in Teheran gegriffen hat.
Welcher Welt meine Mutter angehörte, mag man daraus ersehen, dass ihre jüngere, äußerst schöne Schwester dem Schah vorgestellt werden sollte nach der Scheidung von Soraya. Zur Überraschung der königlichen Emissäre und womöglich auch zur Enttäuschung meiner Tante, die achtzehn, neunzehn Jahre alt gewesen sein wird, wies mein Großvater das Ansinnen empört zurück. Ungewöhnlich für einen Großgrundbesitzer, war er überzeugter Republikaner, Parteigänger des gestürzten Ministerpräsidenten Mohammed Mossadegh: In meiner Familie, rief er, heiratet man keinen Schah! Meinen Vater hingegen, obwohl er aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammte, Sohn eines niederen Beamten, akzeptierte er als Bräutigam. Warum? Mein Vater war ebenfalls Anhänger Mossadeghs, aber vor allem war er strebsam und sehr ehrgeizig, noch Medizinstudent, aber schon ein Aufschneider vor dem Herrn, der sich für das erste Rendezvous ein amerikanisches Cabriolet auslieh, das er als sein eigenes ausgab. Vor allem aber galt die Familie meines Vaters, und das war meinem Großvater wichtiger als die Klassenzugehörigkeit, als sehr fromm; mein Urgroßvater war der oberste Geistliche Isfahans und Gegenspieler ebenjenes Prinzen Zell os-Soltan, der wiederum mein Ururgroßvater war. So haben Sie schon das Personal eines Nationaldramas beisammen. Allerdings war das alles noch vor meiner Zeit. In meiner Zeit saß ich mit elf Jahren auf der Rückbank des Mercedes-Benz, den mein Vater Richtung Paris fuhr, links und rechts meine älteren Brüder, die alles im Kopf hatten, nur keine Revolution.
Ich sagte, die Vorbehalte meiner Mutter gegen Chomeini hatten mit ihrer Klassenzugehörigkeit zu tun. Umgekehrt gilt das für meinen Vater erst recht: Er, der Aufsteiger, der Emporkömmling, der in eine großbürgerliche Familie eingeheiratet und es als Arzt in Europa zu Geld und Ansehen gebracht hatte, jedoch immer das Ressentiment der Vornehmeren spürte oder sich vielleicht auch nur einbildete – es war seine Revolution, der Aufstand des einfachen Volks gegen ebenjene Eliten, die ihn trotz seines Erfolgs kleinhielten. Niemand in Deutschland und nicht einmal mehr die Jüngeren im Iran machen sich einen Begriff von den Klassenschranken, die noch während meiner Kindheit dort herrschten. Ich muss zurückgehen zu den Romanen, die vor der Revolution in Russland geschrieben worden sind, und das ist in Europa mehr als hundert Jahre her, um die Gesellschaft meiner Sommerferien im Iran wiederzufinden. Etwa war es völlig klar, dass meine Großeltern Bedienstete hatten, die bei ihnen aufwuchsen, die mit ihnen lebten, die praktisch Leibeigene waren, auch wenn sie, soweit ich es wahrnahm und später hörte, von meinen Großeltern stets gut behandelt und beim Erbe mehr als angemessen bedacht worden sind. Und die barfüßigen Kinder im letzten verbliebenen Dorf meines Großvaters nahe Isfahan – es wäre undenkbar gewesen, dass wir Enkel des Großgrundbesitzers anders als gönnerhaft mit ihnen gesprochen oder gar mit ihnen gespielt hätten. Es sind diese Kinder im Dorf meines Großvaters, besser gesagt: Menschen, die vor der Revolution in den denkbar einfachsten, ärmlichsten Verhältnissen lebten, die heute in den Behörden, Ministerien, Staatskonzernen und Botschaften des Iran fast überall das Sagen haben. Das Du, mit dem sie selbst ältere Bürger bis heute häufig ansprechen, ist das Du auf den Dörfern oder in den Slums, die sich nach der misslungenen Landreform des Schahs an den Rändern der Großstädte gebildet hatten.
Mit dem Wissen von heute ist es leicht, meinen Vater zu verurteilen, der Ende 1978 zu Ajatollah Chomeini pilgerte. Wir alle waren doch für die Revolution, bekräftigte meine Mutter, als ich sie vor ein paar Tagen auf die Reise nach Neauphle-le-Château ansprach, wir alle sind später nach Bonn gefahren in die Botschaft und haben für die Islamische Republik gestimmt. Das heißt, Sie waren gar nicht gegen den Besuch bei Chomeini?, fragte ich, weil ich es anders in Erinnerung hatte. Ja, Sie, so wie alle Iraner meines Stands und meiner Generation sieze ich meine Eltern und grundsätzlich jeden, der älter ist als ich, deshalb empfinde ich die Ungehörigkeit des revolutionären Behörden-Dus so stark. Wir ahnten doch nicht, was für eine Scheiße dabei rauskommt, antwortete meine Mutter mit Worten, die ihrem Stand ebenfalls nicht entsprachen. Genau genommen sagte sie nicht Scheiße, sie sagte zahr-e mâr, Schlangengift, was auf Persisch ein schlimmeres Schimpfwort ist. Von Gift sprach auch Ajatollah Chomeini, als er 1988 in den Friedensschluss mit dem Irak einwilligte, genau gesagt, von einem Becher Gift, den er getrunken habe. Acht Jahre zuvor hatte der Irak angegriffen, gerade mal ein Jahr nach dem Sieg der Revolution. Weil die iranische Armee nach den Säuberungen am Boden lag, rechnete Saddam Hussein mit einem raschen Durchmarsch, Frühstück Sonntag in Teheran. Doch 1980, da wehrte sich im Iran noch das ganze revolutionär gestimmte Volk, Kinder inklusive, die auf Minenfelder geschickt wurden mit einem Blechschlüssel am Hals für die Pforte zum Paradies. Nach zwei Jahren war die irakische Armee ins eigene Land zurückgedrängt.
Chomeini hätte den Krieg im Triumph beenden können, zumal er den Verteidigungsfall genutzt hatte, um nach dem Militär gründlich auch die Politik zu säubern; dem liberalen Staatspräsidenten Bani Sadr, der von fünfundsiebzig Prozent der Iraner gewählt worden war, gelang als Frau verkleidet gerade noch die Flucht. Doch nun war er es, Chomeini, der vom Durchmarsch träumte, erst Bagdad, dann Jerusalem. Um einen iranischen Sieg zu verhindern, rüstete der Westen den Irak auf, das Giftgas, von wegen nie wieder, deutsches Fabrikat. Sechs weitere, sechs überflüssige Jahre dauerte der Krieg an. Als Chomeini endlich einsah, dass sein erschöpftes, von der Revolution desillusioniertes Land vor einer Niederlage stand, waren eine Million Iraner gestorben für nichts. Das Gift, das er mit dem Friedensschluss zu trinken behauptete, das hatte er in Wahrheit dem Volk eingeflößt. Um sich wieder Respekt zu verschaffen, ordnete er ein Massaker in den Gefängnissen an, stellte seinen designierten Nachfolger Ajatollah Montaseri unter Hausarrest, der gegen die Tausenden und Abertausenden Hinrichtungen protestiert hatte, und erließ die Fatwa gegen Salman Rushdie, durch die er seinen Kulturkampf in den Westen trug. Der Kulturkampf, er dauert bis zum heutigen Tag an, siehe die immer neuen Diskussionen über den Islam.
Nicht wenige Historiker sagen, das Schlüsseljahr, in dem sich unsere heutige Epoche formiert habe, sei nicht 1989 gewesen, sondern 1979, der Papstbesuch in Polen, Chinas Öffnung unter Deng Xiaoping, der Unfall im Atomkraftwerk Harrisburg und die Gründung der Grünen, die Wahl Margaret Thatchers und die Entfesselung der Märkte, der man den irreführenden Begriff Neoliberalismus gegeben hat, aber zuerst und vor allem die Islamische Revolution im Iran, die noch im selben Jahr den Einmarsch der Roten Armee in Afghanistan zur Folge hatte und ein Jahr später den Triumph Ronald Reagans über Jimmy Carter dank der Botschaftsbesetzung in Teheran und der gescheiterten Geiselbefreiung. Reagan wiederum setzte nicht nur Thatchers Wirtschaftspolitik im globalen Stil durch, sondern schuf das Bündnis der westlichen Führungsmacht mit dem streng wahhabitischen Herrscherhaus in Saudi-Arabien, um weiterhin billiges Erdöl zu beziehen, die Revolution im Iran einzudämmen und in Afghanistan die Mudschahedin aufzurüsten. Deren Sieg über die Rote Armee leitete bekanntlich das Ende der Sowjetunion ein. Mit der Revolution von 1979 trat also nicht nur der Islam auf die Bühne der Weltpolitik und verbündete sich Amerika ausgerechnet mit dem Wahhabismus, dessen Ideologie dem Dschihadismus zugrundeliegt, von 9/11 über den »Islamischen Staat« bis Solingen. Die Islamische Revolution führte im Westen auch mittelbar zum Sieg des Neoliberalismus, der heute den Reichtum in den Händen einiger weniger Menschen konzentriert, und trug im Osten zum Scheitern des Kommunismus bei. Gemessen an der Wirkung steht Ajatollah Chomeini in der Geschichte des 20. Jahrhunderts in einer Reihe mit Lenin, Hitler und Mao. Und in gewisser Weise ist der Islamismus nach dem Kommunismus und dem Faschismus das dritte Projekt der Moderne, den Himmel auf Erden zu errichten – und auch der dritte Versuch hat stattdessen in die Hölle geführt.
In Péter Nádas’ großem Memorial Aufleuchtende Details steht ein Satz, der unscheinbar anmutet und mir dennoch immer nachgegangen ist: »Bei den Verhaftungswellen, so auch bei der stark unter der Zensur stehenden Übertragung des großen Schauprozesses, gab es keinen Aspekt, der meine Familie nicht persönlich berührt hätte.« In meinem Roman Das Alphabet bis S habe ich den Satz zitiert und angemerkt, es sei für Westeuropäer kaum glaublich, wie tief das Zeitgeschehen in die Lebensläufe und noch in die intimsten, also auch kindlichen oder sexuellen Erfahrungen vieler osteuropäischer Autoren eingewoben ist. Heute erkenne ich deutlicher, dass ich, wiewohl in Siegen geboren, nicht nur Westeuropäer bin. Unser Leben beginnt nicht mit der Geburt und endet nicht mit dem Tod. Und wenn ich auf das Land meiner Eltern und Großeltern blicke, das Land meiner Cousins und Cousinen, die in Isfahan oder Teheran aufwuchsen, dann könnte ich Nádas’ Satz sogar noch erweitern: Bei den Verhaftungswellen, den Schauprozessen, dem achtjährigen Krieg, den Foltergefängnissen, den Fluchterfahrungen von Millionen Iranern, den Massenhinrichtungen, gab es keinen Aspekt, der meine Familie nicht persönlich berührt hätte. Der Schwager meiner Tante wurde unmittelbar nach der Revolution hingerichtet, meine Cousins saßen als Oppositionelle über Jahre im Gefängnis, kämpften an der Front oder flohen als Jugendliche auf gefährlichen Fußmärschen aus dem Land. All die selbstbewussten Frauen in meiner Verwandtschaft, meine Tanten, meine Cousinen, auch meine Großmutter, die für die Freiheit auf die Straße gegangen waren und sich unterm Kopftuch wiederfanden, ihrer grundlegenden Rechte beraubt. Die Angehörigen der religiösen Minderheit der Bahais, in meinem Fall Cousinen und Cousins zweiten Grades, die bis heute im Iran auf schlimmste Weise verfolgt werden. Mein Großvater, mein tiefreligiöser Großvater, der wegen Chomeini so lautstark mit Gott haderte, dass meine Großmutter fürchtete, die Spitzel in der Nachbarschaft könnten es durch die verschlossenen Fenster hindurch hören. Und mein eigener Vater verteidigte weit und breit als Einziger in der Familie noch über Jahre die Revolution, erbitterte Streitereien bei den abendlichen Geselligkeiten inklusive.
Ich liebte meinen Vater, wie gesagt, aber ich verstand nicht, wie er so blind sein konnte für das, was alle anderen sahen. Nicht dass er die Repressionen verteidigte, die Hinrichtungen, die Verhaftungen, die Entrechtung der Bahais. Er selbst hatte den abgesetzten Präsidenten Bani Sadr gewählt und war mit Mehdi Bazargan befreundet, dem ersten Ministerpräsidenten der Islamischen Republik, der aus Protest gegen die Botschaftsbesetzung zurückgetreten war und bis zu seinem Tod 1995 so mutig wie kein anderer Oppositioneller innerhalb des Iran die politischen Zustände und auch Chomeini persönlich kritisierte. Aber mein Vater hielt an der Hoffnung fest, dass sich noch alles zum Guten wenden würde, auch die Französische Revolution sei nicht im ersten Jahrzehnt geglückt. Nach und nach wurde mein Vater schweigsamer auf den Geselligkeiten, und wohl spätestens mit den Massenhinrichtungen 1988, also noch während des ersten Jahrzehnts, begann er seinen Irrtum einzusehen. Es ist keine Frage, dass er, wenn er noch lebte, heute für Frau, Leben, Freiheit eintreten würde, zan, zendegi, azadi. Die Bedeutung dieser Bewegung liegt ja gerade darin, dass sie nicht auf das ohnehin säkulare Bürgertum beschränkt ist, sondern sich aus allen Klassen und Ethnien zusammensetzt. Auch die Kinder, mit denen wir einst im Dorf meines Großvaters nicht spielten, und wenn nicht sie, dann deren Kinder, dürften den Glauben an eine religiöse Herrschaft längst verloren haben, und die jungen Menschen, die während der Proteste hingerichtet wurden, stammten alle aus ebenjenen sozialen Schichten, die Chomeini an die Macht getragen haben. Anders als Deutschland wird sich der Iran aus eigener Kraft von der Diktatur befreien.
Es wäre leicht, meinen Vater zu verurteilen. Aber mit ihm haben sich viele kluge Geister getäuscht, auch im Westen, wo die Revolution in linken und liberalen Kreisen auf viel Sympathie stieß, beileibe nicht nur bei dem heute dafür so oft gescholtenen Michel Foucault. Was westliche Denker an der Erhebung faszinierte, war nicht nur der Widerstand gegen die koloniale Ausbeutung und den amerikanischen Imperialismus. Es war auch »das Ziel einer politischen Spiritualität«, wie es Foucault formulierte, nachdem er 1978 aus dem Retreat in einem japanischen Zen-Kloster direkt in das revolutionäre Teheran geflogen war. Für die Praxis allerdings, so der Philosoph beinah enttäuscht, buchstabierten die Revolutionäre nichts anderes als »die Grundformeln der bürgerlichen oder revolutionären Demokratie«. Auch der Chomeini, den wir Ende 1978 in Neauphle-le-Château besuchten, sprach von Demokratie, von Menschenrechten, von Gleichberechtigung. Er sprach davon, dass er sich nach dem Erfolg der Revolution natürlich nach Ghom zurückziehen werde, damit gewählte Politiker das Land regieren. Seine Schriften, in denen er die Theokratie genau konzipiert hatte, hatte kaum jemand gelesen, und wenn, nahm man sie nicht ernst. Alle linken und liberalen Gruppierungen innerhalb der revolutionären Bewegung waren überzeugt, nach dem Sturz des Schahs mit Chomeini fertigzuwerden, der für die Mobilisierung der Massen gebraucht wurde. Stattdessen schaltete Chomeini, der über eine enorme Intelligenz und Skrupellosigkeit verfügte, nach seiner triumphalen Rückkehr eine politische Gruppe nach der anderen aus, bis seine Herrschaft des Rechtsgelehrten unangefochten war. Sein Auftreten, seine Rhetorik mögen altertümlich anmuten, tatsächlich jedoch ist seine Ideologie eine weitere, die vorläufig letzte Gegenaufklärung, wie sie sich in der Moderne ein ums andere Mal formiert hat. »Wahr ist, was dem Menschen frommt«, der Satz des kommunistischen Jesuiten Leo Naphta aus dem Zauberberg, könnte ein Zitat von Ajatollah Chomeini sein, dessen Pein- und Blutjustiz ebenfalls dem Glauben an eine höhere, jedes Opfer rechtfertigende Wahrheit entsprang. Chomeinis Definition des maslahat, wonach der Islamische Staat jedwede Norm und selbst das Gesetz des Korans aufheben dürfe, wenn es das übergeordnete Interesse erforderte, entspricht bis in einzelne Formulierungen der Doktrin des Ausnahmezustandes von Carl Schmitt. Als der Großajatollah Mehdi Hairi Jasdi, der älter war und theologisch sogar höher stand, in den Achtzigerjahren Chomeini ansprach, ja anflehte, den Krieg endlich zu beenden, in dem sich sinnlos jeden Tag Muslime gegenseitig töteten, entgegnete Chomeini lapidar: »Kritisieren Sie auch Gott dafür, wenn er ein Erdbeben hinabsendet?« Nach ihm hat kein politischer Führer mehr solche Massenaufläufe und Massenhysterien hervorgebracht, wie sie nicht zufällig im aufgeklärten 20. Jahrhundert aufgekommen sind, im Faschismus und Nationalsozialismus, im Stalinismus und Maoismus. »Alle wahrhaft erziehenden Verbände haben von jeher gewußt, um was es sich in Wahrheit bei aller Pädagogik nur handeln kann«, fährt Naphta fort: »nämlich um den absoluten Befehl, die eiserne Bindung, um Disziplin, Opfer, Verleugnung des Ich, Vergewaltigung der Persönlichkeit. Zuletzt bedeutet es ein liebloses Mißverstehen der Jugend, zu glauben, sie finde ihre Lust in der Freiheit. Ihre tiefste Lust ist der Gehorsam.«
Dass die Aufklärung Gegenkräfte freisetzt, wusste kaum jemand besser als Thomas Mann. »Beinah vom Augenblick ihrer Geburt an war die Freiheit ihrer selbst müde und spähte aus nach neuer Bindung, neuer Einschränkung, nach etwas absolut Ehrfurcht Gebietendem, einem zentripetalen Ideen- und Moralsystem«, sagte er als Fünfundsiebzigjähriger in Chicago. Er selbst war in jüngeren Jahren Teil dieser Gedankenströmung, als er den Ersten Weltkrieg bejubelte und in den Betrachtungen eines Unpolitischen die deutsche Tradition der Romantik und Innerlichkeit gegen den seelenlosen Rationalismus des Westens wendete. Paradigmatisch finden wir die Dichotomie von Selbstentfaltung und Unterwerfung bereits in Goethes Faust, den Thomas Mann im Doktor Faustus mit der Versuchung des Faschismus in einen Zusammenhang gebracht hat. Die Gegenposition, die am Primat der Vernunft festhält, vertritt im Zauberberg der Italiener Lodovico Settembrini und Thomas Mann sein ganzes weiteres Leben lang. Aber wie gut er, Mann, das Unbehagen an der Freiheit nachvollziehen konnte, bewies er in den Monologen Naphtas, der die bürgerlichen Ideale als Teufelsknechtschaft des Individuums verwirft. Die Jugendlichen, die auf die Minenfelder der irakischen Armee rannten, trugen am Hals den Schlüssel zum Paradies.
Es kann noch schrecklich viel passieren. Wir spüren es und fürchten es wohl gerade alle, die äußeren Bedrohungen ebenso wie die inneren Versuchungen, denen unsere heutigen westlichen Gesellschaften ausgesetzt sind. Wenn Sie nur den Diskurs über Asyl und Migration nehmen, so hat sich die vorherrschende Grundstimmung innerhalb weniger Jahre in ihr Gegenteil verkehrt. Oder die mögliche Wiederwahl Donald Trumps als Führer der westlichen Welt, die Triumphe nationalistischer oder sogar völkischer Parteien überall in Europa. Es wäre zu einfach, die Ursache nur bei den anderen, den politischen Gegnern zu sehen. »Nichts ist naiver, als die Freiheit fröhlich moralisierend gegen den Despotismus auszuspielen, denn sie ist ein beängstigendes Problem«, warnte Thomas Mann 1950 in Chicago – »beängstigend in dem Maße, daß es sich fragt, ob der Mensch um seiner seelischen und metaphysischen Geborgenheit willen nicht lieber den Schrecken will als die Freiheit.«
Und wie war er, Ajatollah Chomeini? Ich erinnere mich an den Gegensatz zwischen der Vornehmheit der Wohngegend mit ihren alten Villen und der extremen, ja ausgestellten Bescheidenheit der Räume, in denen der Ajatollah untergebracht war. Es gab in dem Haus nichts, nicht einmal Möbel, nur einen schlichten Teppich, auf dem er saß und, so hatte es den Anschein, vermutlich auch schlief. Er schaute mich freundlich an, den elfjährigen Jungen im Parka, und begrüßte mich so leise, dass ich mich zu ihm hinunterbeugen musste, um ihn zu verstehen. Hätte ich gedurft, so hätte ich danach vermutlich ebenfalls für die Islamische Republik gestimmt. Bald darauf hatte niemand im Iran eine Stimme mehr.
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Navid Kermani: In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika; C. H. Beck, München 2024; 272 S., 26,– €, als E-Book 19,99 €
Navid Kermani
Der Autor
Der Schriftsteller Navid Kermani wurde 1967 geboren und lebt in Köln. Soeben ist sein Buch »In die andere Richtung jetzt. Eine Reise durch Ostafrika« erschienen, das auf seinen Reportagen für die ZEIT beruht. Seine Lesereise führt ihn unter anderem nach Frankfurt, München, Wien, Hamburg und Stuttgart
Der Preis
Die hier abgedruckte Dankrede zur Verleihung des Thomas-Mann-Preises hielt Kermani kürzlich in Lübeck. Der Preis wird von der Hansestadt Lübeck und der Bayerischen Akademie der Schönen Künste vergeben
Die Begegnung
Ajatollah Chomeini war der politische und religiöse Führer der Islamischen Revolution und blieb danach bis zu seinem Tod 1989 iranisches Staatsoberhaupt. Mit der Revolution stürzte er aus dem Exil in Paris heraus die Regierung von Reza Pahlevi, dem damaligen Schah des Iran